Biopolitik

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Dieses Blog ist geschlossen. Es ist als Archiv über die biopolitische Debatte 2008 bis 2012 hier weiter einzusehen. Aktuelle Entwicklungen zum Thema

Pflegereport konfrontiert Ökonomie mit Menschenwürde

| 3 Lesermeinungen

„Jeder dritte Deutsche wird dement" , „Demenz wird neue Volkskrankheit", „jeden zweiten Deutschen wird es treffen" - die Reaktionen auf den...

„Jeder dritte Deutsche wird dement“ , „Demenz wird neue Volkskrankheit“, „jeden zweiten Deutschen wird es treffen“ – die Reaktionen auf den aktuellen „Pflegereport 2010″, den die Barmer GEK am 30. November vorgestellt hat, sind alarmistisch, wie es zu erwarten war. Pflege ist ein Thema, bei dem schnell der Notstand ausgerufen wird – danach muss man nicht mehr so genau hinsehen, grässlich ist es ja eh. Den Anschluss liefert dann die Debatte über Patientenverfügungen und Sterbehilfe.

Der Pflegereport 2010, den eine Gruppe des Zentrums für  Sozialpolitik der Universität Bremen erarbeitet hat, konzentriert sich speziell auf denZusammenhang von Pflege und Demenz (der Report 2009 befasste sich mit der Frage unterschiedlicher regionaler Versorgungsqualität). Der Fokus ist dabei nicht untypisch: die Pflegeforscher konzentrieren sich auf statistische Daten wie Entwicklung der Zahl von Menschen mit Demenz, Vergleichen zwischen den Kosten der medizischen Versorgung von Menschen mit und ohne Demenz, Erfassung der längeren Pflegezeiten für Menschen mit Demenz. Qualitative Erhebungen oder eine Auseinandersetzung mit neuen Versorgungsansätzen für die Pflege von Menschen mit Demenzen werden dagegen weitgehend ausgeblendet. Die Schlußfolgerungen im „Perspektiventeil“ klingen dementsprechend sozialtechnokratisch bedenklich:

 „Im späten Stadium hingegen werden als Therapieziele auch die Pflegeerleichterung und die Reduktion der Angehörigenbelastung formuliert. Wie groß die Belastungenfür Pflegebedürftige und für Pflegende im Einzelnen sind, wie viel Lebensqualität einerseits gewonnen und andererseits verloren wird, welche Helfer oder welche Therapieformen dem Einzelnen und der Gemeinschaft am meisten Nutzen oder am wenigsten Leid bereiten, ist schwerlich in Zahlen zu fassen. Es wird dennoch deutlich, dass der Wunsch nach Lebensqualität, nach Versorgung, nach menschenwürdigem Leben in Konflikt steht mit der Leistungsfähigkeit der einzelnen Menschen und der Gesellschaft. Wenn Menschenwürde mit Ökonomie konfrontiert wird, dann ist dies ein Grundstein für heftige Debatten, in denen der zu findende Kompromiss nicht leicht zu finden ist und ständig aufs Neue hinterfragt werden muss. Der Pflegereport kann mit seinen Ergebnissen nicht entscheiden, was richtig oder falsch ist; er kann nur Grunddaten liefern, auf Basis derer dann die Debatten stattfinden können.“

So richtig es ist,dass Pflege in der Gesellschaft stärker thematisiert werden muss, wie es auch der Pflegereport einfordert, ist doch auch die Perspektive dieser Diskussionen wichtig. Der Blickwinkel den der „Pflegereport 2010″ eröffnet ist viel zu klein und falsch ausgemessen. Pflege ist nicht in erster Linie eine Kostenfrage, sondern eine Frage der Vorstellungen und Ansprüche: Wie wollen wir leben, wenn wir mal eine Demenz haben? Dann erst schließt sich sinnvollerweise die Frage an: Wie soll das bezahlt werden? Oder auch: Was ist es uns wert?

Eugen Brysch von der Patientenschutzorganisationen Deutsche Hospizstiftung hat hübsch formuliert: „Wie `Stuttgart 21´ brauchen wir auch eine Demonstration `Pflege 21´“. Ob die Pflege eine Durchgangsstrecke werden soll bzw.ob sie heute als Kopfbahnhof verstanden werden muss,bleibe hier einmal ausgeblendet. Aber der Streit um die Vorstellung, wie unser Leben organisiert sein soll, wie sehr wir uns auf technokratische Planungen am grünen Tisch einlassen und mit wieviel  Vehemenz und Phantasie auch dem scheinbar Unabänderlichen entgegengetreten wird, sind Bindeglieder von „Stuttgart 21″ und einem zukünftigen Projekt „Pflege 21″. Die Polizeieinsätzen könnte man sich allerdings gerne sparen….

 

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3 Lesermeinungen

  1. Einige Leser kennen vielleicht...
    Einige Leser kennen vielleicht Bert Brechts Drama „Der gute Mensch von Sezuan“. Sein Thema ist Persönlichkeitsspaltung. Die Hauptfigur Shen Te ist, wie man heute sagen würde, ein Gutmensch. Sie glaubt fest, dass alle Menschen von Natur aus gut sind und nur durch die Umstände egoistisch und böse werden. Den Armen erweist sie alle gewünschten Wohltaten, sie kann einfach nicht Nein sagen und gefährdet damit ihren Tabakladen und ihr kleines Vermögen, so dass es bald nichts mehr zu verteilen gibt. Um das zu verhindern, verwandelt sie sich in ihren bösen Vetter Shui Ta, der die Armen unfreundlich des Ladens verweist. Es ist ja auch schöner, zu den Guten zu gehören. Unsere Politiker wollen fast alle Shen Te sein und nur Wohltaten verteilen, deshalb haben sie es zu unserer katastrophalen Staatsverschuldung kommen lassen. Schröder hat mit der Agenda 2010 den Schui Ta gemacht und verlor Wählergunst und Macht. Und, Herr Tolmein, Sie sind auch so gerne die Shen Te, nicht wahr? Als Anwalt der Verfolgten vor Gericht und als Fürsprecher der Hilflosen hier in diesem Blog. Anwalt der Schwachen – von der Rolle habe ich als romantischer Jüngling auch geträumt und finde mich, inzwischen ein alter Sack, in Ihrem Blog als Schui Ta wieder. Shen Te fordert: „Pflege ist nicht in erster Linie eine Kostenfrage, sondern eine Frage der Vorstellungen und Ansprüche: Wie wollen wir leben, wenn wir mal eine Demenz haben?“
    Realistischer aber klingt mir der folgende Satz: „Dann erst schließt sich sinnvollerweise die Frage an: Wie soll das bezahlt werden? Oder auch: Was ist es uns wert?“
    Darf ich aus diesem Satz schließen, dass man mit Ihnen auch über Kompromisse reden kann? Aus Kompromissen besteht nun einmal das Leben von uns Menschen.

  2. Lutz Barth sagt:

    Das Thema ist in der Tat...
    Das Thema ist in der Tat differenziert zu betrachten und mit Verlaub, ein Generationenkampf i.S. eines Verteilungskampfes ökonomischer Ressourcen erscheint mir dabei nicht ausgeschlossen zu sein, wobei der demografische Wandel schließlich auch seinen Reiz hat. Eine immer älter werdende Generation wird politisch engagieren müssen und da diese ein erhebliches Wählerpotential stellen werden, wird die Politik resp. die „Volksparteien“ sicherlich auch Zugeständnisse machen müssen, wollen sie nicht in die Bedeutungslosigkeit abdriften.
    Ob allerdings die Dementen künftig eine entscheidende Rolle spielen, steht doch in Anbetracht der fluktuierenden Verlaufssymptomatik der dementiellen Erkrankungsprozesse zumindest kritisch zu hinterfragen an. Derzeit entspricht es dem Mainstream, an das zivilgesellschaftliche Engagement zu appellieren; es wird an das moralische Gewissen einer reichen Industrienation erinnert, ohne allerdings dabei hinreichend zu berücksichtigen, dass im Zweifel für den Fall einer schweren Demenzerkrankung der Erkrankte schlicht seinen Kindern nicht mehr zur Last fallen will. Ein Motiv, dass sich u.a. auch in entsprechenden Patientenverfügungen niederschlägt und da dies von den „Engel der Alten“ schon befürchtet wird, wird der gesunde Mensch für den Fall einer späteren Demenzerkrankung zeitnah pathologisiert: Im Zweifel leidet er nach Eröffnung der Diagnose Demenz zunächst einmal an einer Depression, die es ihm ggf. verunmöglicht, eine Patientenverfügung „klaren und unverbrüchlichen Willens“ abzusetzen. Überhaupt ist das Leben mit Demenz lebenswert und da gilt es zuvörderst, die Lebensqualität auch nur für den temporären Augenblick höchster Emotionalität zu erhalten und letztlich auch zu steigern. Keine Frage: Dies ist prinzipiell wünschenswert und in der Tat wäre der Staat gehalten, hierfür die finanziellen Rahmenbedingungen entsprechend auszugestalten, auch wenn insoweit die „Beitragszahler“ immer geringer werden. Ein „Verteilungskampf“ scheint da unausweichlich und so gesehen macht es dann wirklich wieder Sinn, uns Gesunden stets vor Augen zu halten, dass das Leben mit Demenz auch sinnstiftend und lehrreich sein kann, denn wir stellen dann in der Folge eine gesellschaftliche Größe dar, die nicht zu übergehen ist. Wir alle haben gute Chancen, dement zu werden und da hilft es kaum weiter, wenn Oberethiker in unserem Lande ethische und moralische Ratschläge erteilen, wonach wir ja schließlich nicht wissen können, wie wir uns im Falle einer Demenzerkrankung „entscheiden“ werden – egal, über welches Thema und in welche Richtung.

  3. besucher sagt:

    Zum Thema "Wieviel ist uns die...
    Zum Thema „Wieviel ist uns die Pflege wert?“:
    „Pflege – so wertbeständig wie Gold“
    „Anders als andere Branchen scheint die Pflege wertbeständig zu sein – ähnlich wie Gold.“ Mit dieser Einschätzung formulierte Dr. Hermann Kues, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesseniorenministerium, eine Kernbotschaft der heute in Berlin eröffneten Bundesmitgliederversammlung und Fachtagung des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste e. V. (bpa). (…)“Das Marktvolumen der Pflege wird auf derzeit rund 29 Milliarden Euro geschätzt.“ Die Prognose des IW: Diese Zahl wird sich bis zum Jahr 2050 mehr als verdreifachen.
    https://www.kma-online.de/nachrichten/pflege/id__17548___view.html

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