Die „Stellen Sie sich mal vor….“und „Wie würden Sie entscheiden?“-Fragen sind die tückischsten, weil sie einen in hypothetische Situationen zwingen, in denen man entweder am Ende als hartherziger Prinzipienreiter dasteht oder alle ethischen Grundsätze über Bord geworfen hat – wo sich im wirklichen Leben Seitenpfade finden, man fehlende Stringenz entschuldigen kann oder auch die Kraft zur Behauptung des Prinzips findet, ist in der Theorie alles viel zu klar. Das Jurastudium hat deswegen, aber das nur am Rande, wenig mit dem Arbeiten und Handeln eines Anwalts zu tun (Richter, denke ich, haben es da leichter Gradlinigkeit zu bewahren). Die Debatte über „Rettungsgeschwisterkinder“, wie gerade eines in Frankreich geboren wurde, ist eine dieser kritischen Angelegenheiten. In der heutigen (10.2.2011) Print-Ausgabe der FAZ habe ich aus Anlaß der gegenwärtig in Frankreich debattierten Geburt eines solchen, nach HLA-Typisierung ausgewählten Embryos, der älteren Geschwisterkindern Knochenmark spenden soll, diese Konstellation kommentiert.
Von den Anwendungsformen der PID, die ich in Deutschland am liebsten verboten wissen wollte, scheint mir das eine der problematischsten Formen zu sein, aber keineswegs die am vehementesten abzulehnende. Problematisch erscheint sie mir, weil die Familie hier insgesamt in gefährliche Konfliktlagen geraten kann – wie das bei Lebendspenden überhaupt der Fall ist. Schon wenn und solange alles gut läuft entsteht hier ein Gefühl zur Dankbarkeit bzw. zu einer aufopfernden Handlung verpflichtet zu sein, entwickelt sich ein Gefälle zwischen Gebendem und Nehmendem, stellen sich schwer auflösbare Stimmungsgemengelagen ein, die die sozialen Beziehungen innerhalb der Familie stören können. Aber, der Einwand liegt nahe, der Tod oder das vehemente Leiden eines Geschwisterkindes beeinflusst die sozialen Verhältnisse in der Familie mindestens genauso stark -wenn auch in anderer Ausprägung. Und die fürsorgliche Verhinderung einer Aufopferung muss kein weniger ausgeprägter Eingriff in die Autonomie des Einzelnen sein, als der soziale Druck, der zu einer aufopfernden Handlung zwingt. Das Dilemma, das soziale, das ethische, das menschliche ist generell kaum aufzulösen und in den Einzelfällen um die es dann jeweils geht, wird die Entscheidung nicht auf Basis der zu verwendenden Technologie getroffen werden.
Interessant wäre es zu erfahren, wie sich die Lebensgeschichten von Kindern entwickelt haben, für deren Geburt die erfolgreiche HLA-Typisierung, die sie als potenzielle Knochenmarkspender für Geschwisterkinder ausgewiesen hat, zumindest eine wichtige Bedingung war. 250 solcher Kinder soll es weltweit geben. Die Geschichte einer dieser Rettungen ist mittlerweile auch in Buchform erschienen: „The Match: Savior Siblings and One Family’s Battle to Heal Their Daughter.“ Aufmachung und Präsentation des Werkes deuten aber auf eine Perspektivverengung hin: Im Mittelpunkt der Geschichte steht die zu heilende (und wohl erfolgreiche behandelte) Tochter, nicht die zumindest auch vorgenommene Instrumentalisierung des später gezeugten Sohnes.
Für die bioethische Debatte ist das Thema „Rettungsgeschwisterkinder“ aber meines Erachtens weniger eines, das die Verwerflichkeit der PID unterstreicht, als eines, das die Frage fremdnütziger Eingriffe in den Blickpunkt rückt (und damit auch die nach fremdnütziger Forschung berührt). Einen sehr anregenden Aufsatz zum Thema hat der mittlerweile auf eine Professur nach Regensburg berufene Andreas Schmidt-Recla verfasst. Eine der strategisch interessanten Fragen wird dabei sein,wie stark der Begriff des Fremdnützigen in Zukunft abgestuft werden wird. In der Diskussion um fremdnützige Forschung an Demenzkranken beispielsweise versuchen Forscher immer wieder den Begriff des Gruppennutzens zu etablieren: Echte Fremdnützigkeit soll nicht zugelassen werden, wenn der Eingriff aber der Gruppe der Kranken nutzt, soll sich das anders darstellen. Aber wie werden die Gruppen definiert: Ich bin ein heterosexueller, weißer, teilalleinerziehender Mittelstandsvater mit x Erkrankungen. Für wessen Gruppennutzen soll ich später mal,wenn ich nicht mehr selbst einwilligen kann, was erdulden müssen? (Ich kann Gruppen nicht leiden!). In der Debatte um Organspender spielt die Familie eine wichtige Rolle und der Begriff der Familiennützigkeit. Wie weit reicht das in Zeiten der Patchworkdfamilien? Sind Geschwister auch Halbgeschwister? Und Stiefgeschwister (das mag in etlichen Fällen keinen Sinn machen, vielleicht in manchen aber doch)? Und wenn hier die sozialen Beziehungen eine zentrale Rolle spielen -warum sollen nicht auch andere, atypische Beziehungen ins Feld geführt werden können? Wo es doch nur um geringe Risiken und großen (potenziellen) Nutzen geht?
Meine Arbeitshypothese ist, dass fremdnützige Eingriffe bei Menschen, die nicht einwilligen können unzulässig bleiben sollten und zum Beispiel § 8a TPG eine insofern verfehlte Regelung ist. Eventuell bietet aber die Idee des Wohls des Kindes hier tatsächlich Ausweichmöglichkeiten. Die pure Behauptung, dass es einen Familiennutzen gäbe kann dafür nicht verfangen. Solidaritätspflichten in der Familie wären gesetzlich zu fassen und die Vorstellung, dass hier – Unterhaltspflichten ergänzend – auch Spenderpflichten festgeschrieben werden würden, erscheint absurd. Aber dann können auch die Eltern nicht einfach so handeln, als gebe es für ein später geborenes Kind solche Pflichten…
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