In den 1980er Jahren gab es in Deutschland intensive und erbitterte Debatten über Triage, die Sichtung und Bewertung von Verletzten in Katastrophenfällen. Wer soll zuerst behandelt werden: die höchst bedürftigen Schwerverletzten oder die aussichtsreicher bzw. mit geringerem Ressourcen-Aufwand zu behandelnden leichter Verletzten oder die Patienten, die gut behandelbare mittelschwere Verletzungen aufweisen? Das fatale Zusammenwirken von Erdbeben, Tsunami und Atomreaktorunfall in Japan wirft die Frage auf, was aus diesen damals öffentlich so lautstark diskutierten Plänen und Konzepten der Katastrophenmediziner eigentlich geworden ist. Dass es so still um die einst so kontrovers debattierten Fragen geworden ist, ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Tatsächlich hat sich Triage als Konzept der Katastrophenmedizin abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit anscheinen etabliert. Die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin beispielsweise lädt für den 16. April 2011 nach Geretsried zum 10. Triage-Kurs. In der Einladung zu dem 9 stündigen Workshop heißt es:
„Einen Massenanfall von Verletzten /Erkrankten zu bewältigen, stellt für den in unserem Gesundheitssystem individualmedizinisch Ausgebildeten keine Selbstverständlichkeit dar, sondern den Ausnahmefall, mit dem er während seiner Ausbildung und auch seinem späteren beruflichen Weg kaum oder gar nicht in Berührung gekommen ist. Ein wesentlicher Bestandteil der Bewältigung eines Massenanfalles ist die Sichtung/Triage, bei der die Behandlungsdringlichkeit der Patienten festgelegt wird.“
Auch in der allgemeinen deutschen Notfallmedizin haben sich Triage-Systeme, in denen die Abweichung von individualmedizinischen Konzepten gängig ist, offenbar durchgesetzt, wie auch ein Übersichtsartikel aus dem Deutschen Ärzteblatt zeigt, allerdings spricht man – um die Assoziation zu den militärmedizinischen Systemen zu vermeiden – im deutschen medizinischen Sprachraum mittlerweile lieber von “Ersteinschätzung“, die auch mit dem Ziel vorgenommen wird, die instabilen Patienten zuverlässig zu identifizieren, die dann zuerst einer Behandlung zugeführt werden sollen. Die Identifikationsmethoden werden zunehmend ausgefeilter, es werden mittlerweile Algorithmen eingesetzt, Ärzte setzen sich mit Über- und Untertriage auseinander, es gibt 3 und 5stufige Konzepte:
„Material und Methoden
Einsatzkräfte des Rettungsdienstes führten am Unfallort prospektiv bei unfallverletzten Patienten eine Sortierung entsprechend mSTaRT (“modified simple triage and rapid treatment”) durch, in die Kategorien Rot, Gelb oder Grün (lebensbedrohlich, schwer oder leicht verletzt). Nach Aufnahme in die Notfallaufnahme bzw. in den Schockraum erfolgte eine Einteilung in Rot (kritisch verletzt), Gelb (stationär zu behandeln) und Grün (ambulant behandelbar). Als Hauptendpunkt wurden die Übereinstimmung der präklinischen und klinischen Kategorisierungen sowie die Rate an Über- bzw. Untertriage ausgewertet.
Die Ergebnisse der Pilotstudie zeigen, dass bei Anwendung des mSTaRT-Algorithmus nur mit einer geringen Übertriage zu rechnen ist. Lebensbedrohlich bzw. kritisch verletzte Patienten werden gegenüber nichtkritisch verletzten Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit als Rot kategorisiert. Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma können durch den Algorithmus jedoch nicht eindeutig erfasst werden und müssen deshalb zur Vermeidung einer Untertriage weiteren Nachsichtungen zugeführt werden.“
Auffallend ist allerdings, dass trotz der zunehmend differenzierten Methoden und der auch recht etablierten Standards, die ethischen Dilemmata kaum erörtert und allenfalls am Rande erwähnt werden, wie auf der Homepage des „Projekts E-Triage“ der Ludwigs Maximilians Universität München:
„Oberstes Ziel ist es, möglichst viele Verletzte, möglichst schnell und möglichst gut zu versorgen und die knappen Mittel (personelle und materielle Ressourcen) entsprechend aufzuteilen. Das damit verbundene zeitweilige Aufgeben der Individualmedizin und die Einteilung in Behandlungsprioritäten oder auch Sichtungskategorien ist eine ethisch schwierige Aufgabe und Herausforderung.“
Da sind us-amerikanische Veröffentlichungen durchaus offener, weil sie unterscheiden zwischen Szenarios, in denen die medizinischen Ressourcen grundsätzlich ausreichen und Szenarios in denen eine Patientenselektion erforderlich ist, weil die Ressourcen zu knapp sind:
„What happens when physicians and patients are placed in situations more like the second triage scenario is far less frequently encountered and much more ethically challenging. In this second type of situation, patients with the greatest chance of survival with the least expenditure of time, equipment, supplies, and personnel are treated first.6 This situation occurs when the numbers of patients and the severity of their injuries quickly overwhelm routine medical assets. It is especially prevalent when resources are limited by being in a theater of war, and thus it may be more familiar to military physicians than their civilian counterparts.“
Die Situation in Japan in denTagen nach dem Erdbeben dürfte dem zweiten Szenario zumindest nahegekommen sein.
Hm, naja, die Situation in...
Hm, naja, die Situation in Tokyo Umgegend ist nochmal etwas anders als im erwähnten Kriegstriagefall. Bei der Kriegstriage haben es die Ärzte idR mit Verletzungen und Krankheiten zu tun, die sie kennen, und sie haben gewisse Kenntnisse und Materialien, um bestimmte Arten von Verletzungen und Krankheiten zu heilen. Über die Strahlung weiß man weitaus weniger als über viele Krankheiten (denen man auch erst im Laufe der Zeit auf die Schliche gekommen ist) – die Russen wahrscheinlich noch am meisten, aber die haben dieses Wissen wohl wenig gesammelt – und über Hilfsmittel dagegen auch nicht. Dazu ist es noch zu neu. Das andere ist die große Anzahl der potentiell Betroffenen bzw. die Trägheit gegen Veränderung – es dürfte wohl schwer möglich sein, aus Vorsichtsgründen alle Unter-30-Jährigen aus Tokyo zu evakuieren, weil die dort arbeiten müssen bzw. leben. Wiewohl das wünschenswert wäre. Wer kann, setzt sich wahrscheinlich schweigend ab, aber ganze Firmen umzusiedeln in den Süden dauert. Ich hoffe auf eine gewisse Solidarität der unterschiedlichen Generationen, daß die Älteren die Jüngeren in Schutz nehmen, indem sie sie aus Tokyo rausschicken…
Mein Schwiegersohn (beim DRK)...
Mein Schwiegersohn (beim DRK) rät mir in solch einer Situation als Opfer das natürlichste Vorgehen – möglichst laut und lange schreien!
@Walter: das ist aber blanker...
@Walter: das ist aber blanker Unfug, wenn viele verletzt oder in Gefahr sind, wenn also die ganze Masse sowieso leidend ist. Dann geht Hilfe nicht mehr nach Instinkt, sondern nach Rationalität, und derlei Extrawünsche werden dann u.U. als derart störend empfunden, daß man sie dauerhaft abstellt – qua sofortigem Exitus, nicht Hilfe. Weil die viel zu wenigen Helfer weniger helfen können, wenn sie nach dem lautesten Geschrei gehen (also nach Instinkt), und mehr, wenn sie nach Rationalität gehen.
Was geschieht bei dem...
Was geschieht bei dem potentiellen Einsatzleitungsmanagement mittels Klassifizierung etc. durch e-Triage, wenn durch einen ohne weiteres vorstellbaren, elektrisch wirksamen Impuls alle verfügbaren Laptops, Rechneranlagen zur optimalen Koordinierung aller verfügbaren Ressourcen ausfallen?
Unsere zunehmend immer hochkomplexer werdende Abhängigkeit von der Informationstechnologie läßt solche Fragen unwillkürlich stellen.
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colorcraze@: An Ihren Appell zur reinen Rationalität die dann zum Einsatz kommt kann man unter solchen Bedingungen nur schwerlich hoffen. Eher ist eine wirksame Verbindung von Rationalität zusammen mit Instinkt die optimale Entscheidungshilfe.
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Mich persönlich bewegt seit Tagen die Frage wie wir bei einem ähnlichen, jedoch unter veränderten Bedingungen, stattfindenden Ereignis wie in Japan umgehen würden. Sind wir als Privatpersonen wie auch die öffentlichen Einrichtungen auf das, kaum Denkbare, wirklich materiell wie auch geistig-moralisch eingerichtet und gerüstet? In der Tat, es tauchen auch Fragen zu ethischen Problemen auf, aber eher solche, die sich nicht auf das ob und wie bezüglich des Abschaltens oder sogar Weiterbetreibens von potentiell gefährlichen Aggregaten beziehen.
@Plindos: "sind wir ......
@Plindos: „sind wir … materiell wie auch geistig-moralisch eingerichtet und gerüstet?“ – Nein, sind wir eben nicht, und immer weniger. Weil sich mit solchen Fragen kaum wer auseinandersetzt und wenn dann immer der Schleichweg mit dem Heftpflaster und dem Gesundbeten favorisiert wird, wo eigentlich Operation nötig täte. – Das mit den Laptops usw. ist ein Problem, weil in Katastrophengebieten üblicherweise eben – haha – kein Strom und keine Nachrichtenkanäle da sind. Das erste ist meist, Kommunikationsinfrastruktur aufzubauen. Hab ich jedenfalls so beim Elbehochwasser mitgekriegt. Und zudem: ohne Mampf kein Kampf, also Unterkunft und Essen muß für die Helfer auch da sein.
@Plindos...
@Plindos (Rationalität/Instinkt): naja, das war nur ganz grob umrissen, um darzustellen, daß es in solchen Fällen eben unsinnig ist, nach individuellen Kriterien zu entscheiden. Wenn mans richtig macht, gehts vor allem nach Wert – für das Weiterleben der Gemeinschaft.
Wenn Atomkraft versagt...
Wenn Atomkraft versagt (Fukushima war ja nur ein kleiner „Rohrkrepierer“!), dann hilft keinerlei Triage oder sonst etwas.
Ein Atomkraftwerk der Groesse EINES Blocks in Biblis beherbergt das Aequivalent von ca. 4.000 Hiroshima-Bomben radioaktiver Stoffe. Da die Radioaktivitaet bodennah austritt und nicht erst in die Stratosphaere verfrachtet wird und von dort ganz langsam abregnet (Fall-Out) wie bei Kernwaffen, nachdem der groessere Teil der Radioaktivitaet bereits abgeklungen ist, entspricht das dem Zehntausendfachen oder mehr an Radioaktivitaet einer Hiroshima-Bombe!!! Dass es noch nicht so schlimm kam, gibt uns letztmals Zeit, umzudenken.
Ich habe mal versucht, das gesamte Ausmass der Japan-Atomkatastrophe, Risiken und Gefahren der Atomkraft und was sie fuer Europa bedeuten hier uebersichtlich zusammenzufassen:
https://www.dasgelbeforum.de.org/forum_entry.php?id=208864
Dort auch Hinweise zum Umgang mit radioaktiv verseuchtem Wasser.
@CrisisMaven: Atomkraft...
@CrisisMaven: Atomkraft versagt nicht, sondern radioaktive Stoffe strahlen. Je mehr verteilt, auf desto größerer Fläche. Also sollte man sie eingesperrt auf einem Haufen halten. That’s all. Um die Sicherheit der deutschen Meiler mache ich mir wenig Sorgen, weitaus mehr über die vielen kleinen medizinischen Strahlenquellen, die den Alltag „beleuchten“, und wo und wie man das Glump am besten und ungefährlichsten endlagert. Die Japaner nehmen ihren zweiten Versuchskaninchen-Status in puncto Atomkatastrophe jedenfalls bemerkenswert stoisch hin.
colorcraze@: Do not be worry....
colorcraze@: Do not be worry. Chips are not radiation hardenend.
@plindos: I do worry. Ich bin...
@plindos: I do worry. Ich bin 50, nicht 70, und ich bin Tante.