Biopolitik

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Dieses Blog ist geschlossen. Es ist als Archiv über die biopolitische Debatte 2008 bis 2012 hier weiter einzusehen. Aktuelle Entwicklungen zum Thema

Mehr Rechte und weniger Skalpell für Intersexuelle

| 4 Lesermeinungen

Das deutsche Personenstandsrecht ist übrigens auch kein Ponyhof und ignoriert deswegen, aber nicht nur deswegen die biologische Vielfalt, die auch die...

Das deutsche Personenstandsrecht ist übrigens auch kein Ponyhof und ignoriert deswegen, aber nicht nur deswegen die biologische Vielfalt, die auch die Menschheit prägt: Dass es, wie das Recht nahelegt, nur Menschen zweierlei Geschlechts gibt, nämlich Männer und Frauen, überzeugt immer weniger Menschen. Das freut die, die es besonders gut wissen, Menschen, die sich oft als intersexuell bezeichnen, weil sie entweder mehr oder andere Geschlechtsmerkmale aufweisen oder weil bei ihnen verschiedene Geschlechtsbestimmungen (psychologisches, chromosomales, biologisches, soziales, hormonales…) auseinanderfallen.

 

Jetzt haben die Grünen, die eben nicht nur gegen die Nutzung von Atomkraft sind, einen Antrag im Bundestag eingebracht, der schon an sich erfreulich ist, weil es bei diesem Thema schon etwas bringt, wenn immer wieder darauf beharrt und daran erinnert wird, dass Männer und Frauen keine abschließenden und endgültigen Erscheinungen sind. Vielleicht führt er ja aber auch noch weiter (auch wenn man sich das angesichts der Mühen, die deutsche Parlamentarier mit Normabweichungen haben, nicht unbedingt annimmt). Andererseits sind die Forderungen der Grünen offensichtlich vernünftig und an den gängigen Menschenrechten orientiert, wie sie sich beispielsweise in der CEDAW-Konvention gegen die Benachteiligung der Frauen niederschlagen. Die Grünen verlangen unter anderem: 

  • „die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz so zu ändern, dass ein Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde auch der Existenz von intersexuellen Menschen Rechnung tragen kann;
  • einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach die gesetzlichen Grundlagen für offizielle statistische Erhebung so geändert werden, dass bei der Angabe „Geschlecht“ nicht nur zwei Antworten möglich sind;
  • sicherzustellen, dass das prophylaktische Entfernen und Verändern von Genitalorganen auch bei intersexuellen Kindern unterbleiben soll;
  • gemeinsam mit den Ländern ein unabhängiges Beratungs- und Betreuungsangebot für betroffene Kinder, deren Eltern, betroffene Heranwachsende und Erwachsene, zu schaffen und dabei die Beratungs- und Selbsthilfeeinrichtungen der Betroffenenverbände einzubeziehen“
  • bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass die Fristen für die Aufbewahrung der Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf 30 Jahre ab Volljährigkeit verlängert werden.

Die letztgenannte Forderung weist auf gravierendes Dilemma hin, dem intersexuelle Menschen ausgesetzt sind: Erst seit wenigen Jahren wird über das Thema Intersexualität halbwegs offen diskutiert. Zu Zeiten der geschlechtszuweisenden  chirurgischen Eingriffe, denen viele Intersexuelle zum Opfer gefallen sind, war das Thema so tabuisiert, dass keine nennenswerte Aufklärung über die Eingriffe stattfand. Heute aber, da die Betroffenen versuchen, herauszufinden, was mit ihnen gemacht worden ist, und da sie darauf zielen, sich dagegen zu wehren, lassen sich nur noch in seltenen Fällen die Behandlungsakten auftreiben. Stereotyp weisen die Kliniken darauf hin, dass sie nicht verpflichtet wären, die Akten so lange aufzubewahren – und verhindern damit auch, dass die Betroffenen noch wirkungsvoll Schadensersatzsansprüche geltend machen können.

Die Grünen stehen mit ihrem parlamentarischen Engagement nicht alleine da. In der Vergangenheit hatten auch Abgeordnete der PDS (bzw. der Linken) mit dem Thema befasst und einige Fraktionen auf Länderebene.

Gegenwärtig arbeitet auch der Deutsche Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung an einer Stellungnahme zur Situation der intersexuellen Menschen in Deutschland. Eine erste – im Internet gut dokumentierte – Veranstaltung hatte es im Sommer 2010 gegeben. (Sie trug den aus meiner Sicht nicht ganz glücklichen Titel „Intersexualität – Leben zwischen den Geschlechtern“, als handele es sich bei Intersexualität nicht auch um Varianten von Geschlecht, sondern um eine Art Zwischenform zwischen den anerkannten Geschlechtern und nicht um etwas Eigenständiges.). Gegenwärtig läuft eine schriftliche Expertenbefragung, die Fragen zu geschlechtszuweisenden chirurgischen Eingriffen stellt und zum Personenstandsrecht, aber auch zu Fragen des Personenstandsrechts und, ganz wichtig und von den Grünen leider nicht aufgegriffen, zur Entschädigung von intersexuellen Menschen, die geschlechtszuweisende Eingriffe aufgrund gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen erdulden mussten und die heute zum Groß-Teil erheblich darunter leiden.

Anfang Juni 2011 soll dann eine Anhörung stattfinden, die dann durch eine – mitten in die Sommerpause platzierte – moderierte Diskussion zwischen Experten und Betroffenen münden soll. Ich bin gespannt, ob die erhebliche Zunahme an Aufmerksamkeit auch zu positiven Veränderungen führen wird.

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4 Lesermeinungen

  1. Lutz Barth sagt:

    Wie nicht anders zu erwarten,...
    Wie nicht anders zu erwarten, wird mit diesem Blog-Beitrag v. O. Tolmein ein weiteres brisantes „Ethik-Thema“ aufgegriffen, bei dem wir wohl alle gespannt sein dürfen, ob „die erhebliche Zunahme an Aufmerksamkeit auch zu positiven Veränderungen führen wird“, steht doch letztlich zu befürchten an, dass auch dieser Diskurs klerikalisiert wird.
    Wie viel „Eva“ steckt in „Adam“ und umgekehrt und welche Folgen sind hieraus insbesondere für die „Gender-Normen“ aus der Perfektive des Christentums zu ziehen, dass nach wie vor die „Wertordnung“ unseres Grundgesetzes inspiriert hat. Es bedarf wohl keiner großen Phantasie, dass auch mit Blick auf die „Intersexualität“ ein Glaubenskampf mit unverminderter Härte entfacht wird und zwar auch dort, wo sich die Oberethiker gerne versammeln: in Ethikräten, so also auch im Deutschen Ethikrat und zwar jenseits von der Naturwissenschaft.
    Deutsche Bischofe, sich zuweilen als „Hardliner“ in den vermeintlichen bioethischen Hochdiskursen präsentierend, werden bemüht sein, ihren Beitrag zum „Dualismus“ zu leisten und so aus moraltheologischer Perspektive den Grundstein dafür in Erinnerung rufen wird, dass der Schöpfer „Mann“ und „Frau“ nach seinem Ebenbilde schuf und jedem dieser Menschen seine „Aufgabe“ hat zuteil werden lassen. So wenig wie das „Leben“ als ein unverdientes Geschenk zurückgewiesen werden darf, wird sicherlich mit Vehemenz dafür gestritten, dass das Individuum sich seiner von dem Schöpfer geschaffenen „Geschlechtlichkeit“ zu fügen hat und ein damit empfundenes Leid persönlich zu tragen hat.
    Was aber, verehrter Herr Tolmein, sind die von Ihnen erhofften „positiven Veränderungen“? Die Einführung eines „dritten Geschlechts“? Die Änderung des Personenstandsrechts? Ein Gesetz, in denen im Zweifel Entschädigungen vorgesehen werden?
    Das Thema ist so neu nicht und es steht letztlich zu befürchten an, dass es mal wieder notwendig erscheint, eine ethische Debatte als „Referenzthema“ zu lokalisieren, nach dem es in anderen bioethischen Diskursen derzeit nicht so richtig voranschreitet und die Debatten hierüber eher ermüdend wirken müssen, werden doch letztlich nur „Botschaften“ verkündet, aus denen keinerlei „Lehren“ gezogen werden. Mit anderen Worten gefragt: Kann es überhaupt zu positiven Veränderungen kommen, wenn wir uns nicht dazu durchringen, uns endlich darauf zu besinnen, dass wir in einem säkularen Verfassungsstaat leben und dies auch entsprechend von den politisch Verantwortlichen verinnerlicht wird, die allzu gerne in den bioethischen Hochdiskursen das berühmte „C“ in ihrem Parteinamen betonen?
    Wie wird die Ärzteschaft reagieren, die sich besonders empfänglich und „aufgeschlossen“ für ethische und moralische Zentralbotschaften zeigt? Sind künftig „Ärzte nicht nur nicht Mechaniker des Todes“, sondern auch nicht solche der Geschlechterzuweisung?

  2. Ergänzend sei berichtet, dass...
    Ergänzend sei berichtet, dass eine Befragung der Menschen, die es in erster Linie angeht und die sich zu Experten in eigener Sache machen mussten, damit sie überleben können, den intersexuellen Menschen selbst, durch den Deutschen Ethitrat durchgeführt wird. Eine weitere Anhörung ist noch vor der Sommerpause geplant.
    Die Bundesrepublik hat zwei Jahre nach der Aufforderung des UN-Ausschußes CEDAW noch immer nicht Ihre Verweigerungshaltung gegenüber den intersexuellen Menschen aufgegeben. Das zuständige Ministerium für Soziales, Familie,Senioren, Frauen und Jugend, allen voran die Ministerin Schröder, verhandeln darüber, ob sie zuständig sind. Um so erfreulicher ist die Tatsache, dass trotz dieser Haltung von Seiten der Menschenrechtsverfechter in diesem Staat die Gruppe der intersexuellen Menschen immer mehr Bestättigung erfährt in der Rechtsauffassung, dass intersexualisierte Menschen, die ja in erster Linie einmal Menschen mit einem Geschlecht sind(nämlich ihrem eigenen) und somit in den vollen Genuss der Menschenrechte kommen müssen und jede Kastration, jede Genitalverstümmelung ein Unrecht darstellt, wenn keine informierte freie Einwilligung als intersexuelle erkannten menschen selbst vorliegt. Am 2. Mai 2011 wird der UN- Ausschuß die NGO´s zu den wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechten und der Nichterfüllung des ratifizierten Staatenabkommens anhören. Der Verein Intersexuelle Menschen e.V. und die angeschlossene Selbsthilfe wird u.A. die Nichterfüllung des Rechtes auf Gesundheit und des Rechtes an der Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt für intersexuelle menschen geltend machen. Denn ein Aspekt wird gerne ausgeklammert: als Versuchskaninchen für medizinische Experimente, die allen anderen dienen, jedoch den intersexuellen Menschen selbst nicht, als Kunde , den man ungeniert drittklassig bedient und erstklassig finanziell ausnimmt( Beratungen, Medikamente, Untersuchungen, soziale Beratung), ist ein Zwitter immer gerne genommen.
    Der Antrag der Grünen beinhaltet keine Unmöglichkeiten und ist sicher nichts, was eine große Gruppe der Parlamentarier nicht mit tragen kann. Den eines ist sicher : Das Thema Intersexuelle Menschen ist ein gesamtgesellschaftlich relevantes Thema. Intersexuelle Menschen werden als Mensch in die Gesellschaft hinein geboren. Dort ist ihr Platz, nicht im Tabu.

  3. Ich erlaube mir eine Prognose...
    Ich erlaube mir eine Prognose zum Ausgang, auch wenn ich Wetten meistens verliere.
    Hier ist die Geburtsurkunde von Barack Obama: https://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-67331.html Sie wurde freigegeben wegen Anzweiflung der Staatsbürgerschaft. Ich finde sie interessant, sie ist viel detaillierter als die deutsche mit Rechtsstand aus 1937.
    Ich könnte mir gut vorstellen, dass im Zuge einer PStG-Novellierung und im Zuge der Globalisierung auch mehr Daten abgefragt werden.
    Ausserdem finde ich den Beruf des Vaters wichtig. Ich würde heute nicht hartzen, hätte man ihm damals das Sorgerecht überlassen.
    Umso katastrophaler sind Berichte wie die derzeit häufigen, die der Kategorie Vater keine wesentliche Bedeutung beimessen und ansonsten das Weibchenschema protegiert wird. Im Grunde sind diese Diskussionen informativ dümmer als eine Geburtsurkunde.
    Abschliessend möchte ich bemerken, dass das BMZ drei Millionen Euro zur Förderung von Menschenrechten u.a. von LGBTI freigegeben hat: https://www.bengo.de/28852.html Hier werden Region und Geschlecht in einem Dokument genannt.
    Die erste Intersexuelle, die ich kannte sprach Sanskrit.

  4. Der neue Pass ist halbherzig....
    Der neue Pass ist halbherzig. Genauso kleinbürgerlich wie der alte. Nach wie vor müssen sich die Inhaber entscheiden, wie sie ihre Sexualität definieren wollen. Und sich im Extremfall jedes Jahr fragen, ob sie ihren Pass ändern wollen. Wenn die Menschen ihre Neigung zu Fremdbestimmung aufegeben und trotzdem noch Pässe dulden, dann bestimmt keine mehr mit Angaben über eine Geschlechtszugehörigkeit.

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