Biopolitik

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AOK: Für künstliche Ernährung lieber Goethe als Geld?

| 2 Lesermeinungen

  Nach den Patientenverfügungen, für die es im Internet dutzende Ankreuzbögen mit nöchst begrenztem Gebrauchswert gibt, kommen nun die...

 

Nach den Patientenverfügungen, für die es im Internet dutzende Ankreuzbögen mit nöchst begrenztem Gebrauchswert gibt, kommen nun die Online-Handlungsanleitungen. Die Krankenkasse AOK hat eine Broschüre ins Internet gestellt, die den wenig hübschen Titel „PEG-Entscheidungshilfe“ trägt – diejenigen, für die das schmale Online-Printwerk gedacht ist, werden sich unter dem Titel kaum etwas vorstellen können. Sollten Sie das Dokument aber dennoch irgendwie gegoogelt haben, erweist es sich als Quell von Sinnsprüchen, die mit idyllisierenden Farbfotos ein freundliches Bild oft verzweifelter Zustände und Fragen zeichnen: „Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen ist ein Lächeln“ (chinesisch), „Es gibt kaum ein beglückenderes Gefühl, als zu spüren, dass man für andere Menschen etwas sein kann.“ (evangelisch), Man weiß nie, was daraus wird, wenn die Dinge verändert werden. Aber weiß man denn, was daraus wird, wenn sie nicht verändert werden?“ (literarisch), „Das Essen soll zuerst das Auge erfreuen und dann den Magen“ (klassisch)…  Das ist, so wenig wie der fachliche Text der Broschüre, falsch, dennoch bleibt ein schales Gefühl: Was (und wem) kann diese von Krankenkassen, Pflegewissenschaftlern und ungenannten „weiteren Experten“ entwickelte Broschüre nützen, die sich an die „Angehörigen“ wendet?

 „Sie erfahren in dieser Broschüre, was unter einer künstlichen Ernährung zu verstehen ist, welche Gründe es gibt, dass eine Ernährungssonde im Einzelfall notwendig sein kann, und welche dagegen sprechen. Die wichtigsten in dieser Broschüre verwendeten Fachbegriffe können Sie im Glossar nachschlagen.“

Unbehaglich ist die Diskrepanz zwischen den bewußt einfach in Ratgebermanier formulierten Informationen und der tödlichen Konsequenz, die die Entscheidung der „lieben Angehörigen“ haben kann – eine Dimension, die in dem nüchtern konzipierten Text kaum aufscheint, der auch für ein Szenario für den schlimmsten Fall eine schlichte Dienstleistungs-Lösung bereit hält

 „In besonders schwierigen Entscheidungssituationen hat es sich bewährt, eine Ethikberatung in Anspruch zu nehmen.“

Und wenn die Inanspruchnahme der Ethikberatung nicht weiter hilft, hält, wie die AOK informiert, der moderne Staat eine weitere Service-Agentur bereit:

 „Bei Uneinigkeit zwischen verschiedenen beteiligten Personen, die nicht durch wiederholte Gespräche geklärt werden kann, kann das Betreuungsgericht eingeschaltet werden.“

Niklas Luhmanns grundlegendes Werk über juristische Wege der Entscheidungsfindung „Legitimation durch Verfahren“ wird gemeinhin als Studie über die Bedeutung anerkannter und allgemein akzeptierter Verfahrensweisen für soziale Konstruktionen wie den Rechtsfrieden gelesen. Die weniger erfreuliche Seite wird in diesem Zusammenhang deutlich: Erscheint das Verfahren vernünftig und legitim, gerät leicht aus dem Blick und erscheint auch unerheblich was denn sein Gegenstand ist.

Hier soll keine Lanze gegen die Notwendigkeit der Einwilligung in medizinische Behandlungen –auch lebenserhaltende – gebrochen werden und auch gegen die AOK-Borschüre zur künstlichen Ernähjrung wende ich nicht ein, dass sie sachlich falsch informierte. Sie informiert eher falsch sachlich und nimmt so den Entscheidungen, die zweifelsohne getroffen werden müssen, ihre über die technokratischen Entscheidungserfordernis hinausreichende Dimension.

Besonders deutlich wird das an dem Fragebogen, der als „Ihr persönlicher Arbeitsbogen“ bezeichnet, „systematisch durch die wichtigen Fragen und Themen leitet“ und der so diffuse und wertabhängige Konzepte wie das der „Lebensqualität“ verwendet, als ginge es dabei um PS-Angaben für das Auto:

Wie wird die Ernährungssonde die Lebensqualität (LQ) beeinflussen?

Wie war die LQ in den vergangenen drei Monaten? gut ? angemessen ? schlecht ? weiß nicht?

Wird die Sonde die LQ akzeptabel verbessern?  wahrscheinlich ja ? wahrscheinlich nein ? weiß nicht?

Wird die Sonde eine geringe LQ verlängern?  wahrscheinlich ja ? wahrscheinlich nein ? weiß nicht?

Der AOK hätte es überdies gut angestanden, in der Broschüre, die im Ergebnis wohl Entscheidungen gegen die PEG-Sonde erleichtern wird, den Interessenkonflikt, in dem sie sich als Kostenträgerin der Sondenernährung mit der Veröffentlichung dieses Textes befindet, wenigstens einmal anzusprechen. Auch die gesundheitspolitisch höchst brisante Auseinandersetzung um die Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses zur künstlichen Ernährung wird nicht einmal angesprochen. Dabei stellt sich durchaus die Frage, wieso es eigentlich Aufgabe der Krankenkasse sein soll, hier detaillierte medizinische und betreuungsrechtliche Informationen zu einer Maßnahme zu geben, über die in erster Line Betreuer und Ärzte zu entscheiden haben. Das Argument, dass in diesem Verhältnis der Informationsfluss nicht ausreichend sei, legitimiert diese Informations-Intervention sicherlich nicht, sondern dürfte allenfalls  motivieren, für eine Verbesserung der Beratung und Information durch den (Kassen-)Arzt zu werben. Gewalten- und Aufgabenteilung sind durchaus auch im Bereich der GKV von Wert.

PS.: Wenn schon Internetratgeber, dann lieber eine Seite wie diese zu Nahrungsverweigerung, die weniger professionell und aufgeräumt daher kommt, als die Download-Broschüre der AOK, die den Problemen und dem Thema damit aber ungleich besser gerecht wird (und die auch erheblich informativer ist).

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2 Lesermeinungen

  1. K. Mayer sagt:

    Lieber Herr Tolmein,
    kürzlich...

    Lieber Herr Tolmein,
    kürzlich bin ich mehr oder weniger zufällig über genau diesen Ratgeber gestolpert und dachte anfänglich: „Klingt interessant und hilfreich.“ In der Tat erscheint nach Lesen Ihres Beitrages einiges im anderen Licht, wie ich es so vorher nicht gesehen habe. Vielen Dank dafür! Leider werden wohl die meisten LeserInnen der Broschüre das vermutlich nicht so hinterfragen…

  2. Sehr geehrter Herr...
    Sehr geehrter Herr Tolmein,
    Ihr Unbehagen, dass ein Kostenträger sich mit einer Entscheidungshilfe zur bzw. gegen eine PEG-Anlage aufwartet, kann ich angesichts der Entwicklungen in unserem Gesundheitswesen gut nachvollziehen. Dennoch möchte ich Ihnen bei Ihrer Generalkritik entschieden widersprechen.
    Die Tatsache, dass die Verweigerung von künstlicher Ernährung stets das Gefühl, wir würden jemanden verhungern und verdursten lassen, erzeugt, verlangt umso mehr nach einem Vorgehen bei diesen Entscheidungen, dass sich der Problematik systematisch, unaufgeregt nähert. In vielen Fällen führt eine PEG-Anlage und Sondenernährung nicht zur erhofften Wirkung und kann stattdessen zu schweren Belastungen der Patienten führen. Hier gilt es den erreichbaren Nutzen, die befürchteten Schäden für den Betroffenen und dessen Selbstbestimmungsrecht zu beachten und abzuwägen.
    Dazu ist die Entscheidungshilfe der AOK sicher ein hilfreiches Instrument, welches das gemeinsame Nachdenken und ins Gespräch kommen nicht ersetzen sondern unterstützen soll. An der Entwicklung dieses Hilfsmittels war übrigens auch Herr Kolb beteiligt, dessen Internetseite sie gelobt haben, einem Lob dem ich mich gerne anschließe und ein ehemaliger Kollege, den ich sehr schätze.
    Zuletzt möchte ich aus meiner langjährigen Erfahrung als Intensivpflegekraft und Mitglied des Ethikberatungskreises der 4. Medizin und des Ethikforums am Klinikum Nürnberg gegen Ihre doch recht lapidare Abwertung des Instruments der Ethikberatung wenden. Diese deckt sich in keiner Weise mit unseren Erfahrungen mit über 250 Ethikfallberatungen, die unser Ethikkreis seit 1997 in Nürnberg durchgeführt hat.
    Mit freundlichen Grüßen
    Christof Oswald
    Diplompflegewirt(FH)
    Klinikum Nürnberg

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