Ich habe den mittlerweile Verstorbenen, nennen wir ihn hier Herrn P., nie kennengelernt. Ich kenne nur einzelne Blätter seiner Krankengeschichte, wenige ärztliche Atteste und die in dürren Worten formulierten Schreiben seiner Krankenkasse. Herr P. heißt es in den Feststellungen der verschiedenen ihn behandelnden Ärzte immer wieder, befinde sich in einer schwierigen (Ärzte schreiben nicht: verzweifelten) Lage: Durch einen Hirninfarkt schwer geschädigt, von erhebelichen epileptischen Anfällen gequält und gleichzeitig im Endstadium einer Krebserkrankung, wegen der er ein Tracheostoma benötigte, einen Luftröhrenschnitt, der schwer zu versorgen sei, falle es schwer ihn pflegerisch zu managen. Die Angehörigen des schwerstkranken Mannes, dem die Ärzte nur noch wenige Wochen zu Leben geben, sind von der 24 Stunden Versorgung, die er benötigt überfordert. Der Pflegedienst, der ihn zeitweise ambulant betreut, bekommt das Zusammenspiel von Krebserkrankung mit schwer zu versorgenden Wunden und Folgen des Hirninfarkts nicht in den Griff; das Krankenhaus sieht sich als nicht mehr zuständig und will ins stationäre Hospiz entlassen – aber da ist die Krankenkasse vor. Der von ihr routinemäßig befragte MDK hat festgestellt: Kein Hospizpflegebedarf, Herr P., so die Erkenntnis der Sozialmediziner, könne genauso gut im Pflegeheim versorgt werden.
Das ist angesichts des Zustandes und der Komplexität der medizinischen Lage von Herrn P.schon an sich eine erstaunliche Feststellung, die hinsichtlich der offenbar zugrundliegenden Vorstellungen von den Versorgungsmöglichkeit im Pflegeheim bemerkenswert optimistisch genannt werden muss. Für eine Juristen, der sich mit Krankenversicherungsrecht auskennt, ist die Aussage der Krankenkasse zusätzlich bemerkenswert, weil sie in keinerlei näherer Verbindung zu den Tatbestandsmerkmalen des Paragraphen 39a SGB V steht, der den Anspruch von Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse auf Versorgung im stationären Hospiz regelt. Oftmals kann man Gesetzen vorwerfen, sie wären schlechterdings nicht zu verstehen und auch Paragraph 39a SGB V hat seine düsteren, dringend auslegungsbedürftigen Formulierungen. Aber wer ins stationäre Hospiz darf, ist klar und unmißverständlich geregelt:
„Versicherte, die keiner Krankenhausbehandlung bedürfen, haben (…) Anspruch auf einen Zuschuß zu stationärer Versorgung in Hospizen, in denen palliativ-medizinische Behandlung erbracht wird, wenn eine ambulante Versorgung im Haushalt oder der Familie des Versicherten nicht erbracht werden kann.“
Wer nicht im Krankenhaus behandelt werdenmuss und wer nicht zu Hause versorgt werden kann, darf ins Hospiz. Von Pflegeheimen steht in der Vorschrift kein Wort. Mit gutem Grund: Es macht keinen Sinn, Menschen, die nur noch wenige Tage oder Wochen zu leben haben, an eine stationäre Pflegeeinrichtung zu verweisen, die einen ganz anderen Bedarf decken soll.
Das teilt der gesetzliche Betreuer des Herrn P. der Krankenkasse mit – ohne Wirkung. Der Streit läuft, während es Herrn P. immer schlechter geht. Kurz entschlossen wird der Patient ins stationäre Hospiz verlegt. Die Kasse weigert sich weiterhin, die Kosten der Versorgung im gesetzlich geregelten Umfang zu bezahlen. Herr P. kann das Geld nicht vorstrecken. Die Angehörigen können es auch nicht. Der gesetzliche Betreuer zieht vor Gericht und bekommt dort im Eilverfahren Recht. Die Entscheidungs des Sozialgerichts ist klar und deutlich: Sie verweist auf den Wortlaut des Paragraphen 39a SGB V, sie setzt das in Bezug zur schweren Erkrankung des Herrn P., stellt fest, dass dieser nicht zu Hause versorgt werden kann und nicht im Krankenhaus versorgt werden muss. Das Gericht attestiert de r Krankenkasse, die immer wieder darauf verweist, dass Herr P. auch im Pflegeheim versorgt werden könnte, einen Rechtsirrtum.Darauf komme es nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht an.
Nach dem verlorenen Prozess ist die Kasse nicht einsichtig, sondern geht in die Beschwerde zum Landessozialgericht. Das könnte man überraschend nennen: Wer Gesetz und Entscheidung des Sozialgerichts kennt, fragt sich, wo hier Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung bestehen sollen. Mann kann es auch dreist nennen: Die Kasse sagt sich offenbar, dass sie mit diesem Schritt kein Risiko eingeht. Schlimmstenfalls unterliegt sie erneut. Das Gerichtsverfahren kostet sie wenig. Bestenfalls geschieht irgendetwas anderes. Und so kommt es: Der gesetzliche Betreuer verliert die Nerven und lässt Herrn P. ins Pflegeheim verlegen. Alles, mag er sich gedacht haben, nur nicht in den letzten Lebenstagen des Betreuten ein erzwungener Umzug ins Pflegeheim, dann lieber jetzt, wo noch gewisse Eingewöhnungsmöglichkeiten bestehen. Herr P. kann sich gegen diese Wehrlosigkeit des Betreuers nicht wehren. Er wird verlegt. Im Heim, wo er nicht so individuell und qualifiziert, aber kostengünstiger versorgt werden kann, wie im stationären Hospiz, stirbt er nach knapp acht Wochen.
Die Geschichte von Herrn P. ist eine der Geschichten, die zeigt, wie schwach die Position der Betroffenen ist, wenn sie gezwungen werden, die Rechte, die ihnen das Gesetz gibt, durchzusetzen – weil für sie Verfahren schwieriger zu führen sind, weil sie schlechtere Nerven und mehr zu verlieren haben, als ihre Gegenseite. Es ist eine der Geschichten, nach denen man sich wünscht, dass Verantwortliche benannt und wegen offensichtlicher Fehlentscheidungen zur Verantwortung gezogen werden können, beispielsweise durch Strafzahlungen an ein stationäres Hospiz. Damit nicht nur die Patienten in so einem Fall ein Risiko eingehen müssen, sondern auch die, die ihnen Rechte vorenthalten.
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