Biopolitik

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Kein Understatement: Britische Justiz erörtert neuen Fall von Suizid-Planung

| 4 Lesermeinungen

Da gerade in bioethischen Fragen über Gerichtsverfahren zunehmend Impulse für die gesellschaftliche  Entwicklung gesetzt werden sollen, ist der passende...

Da gerade in bioethischen Fragen über Gerichtsverfahren zunehmend Impulse für die gesellschaftliche  Entwicklung gesetzt werden sollen, ist der passende Fall zur richtigen Zeit für politische Lobbygruppen von entscheidender Bedeutung. In Sachen assistierter Suizid, der in England gesetzlich verboten ist, könnte  das Schicksal von einem Patienten, der sich „Martin“  nennt eine rechtliche Wende einleiten.

Der Patient „Martin“ ist Mitte Vierzig. Bis vor kurzem war er ein dynamischer, sportbegeisterter Mann, der nach der Arbeit viel Zeit mit Freunden und Familie im Pub verbrachte. Dann erlitt er vor drei Jahren  einen schweren Schlaganfall. Martin konnte zwar gerettet werden, aber er hat jetzt einen extrem hohen Hilfebedarf. Mittlerweile benötigt er eine  24-Stunden-Assistenz. Er ist nicht in der Lage sich zu bewegen. Lediglich knappe Bewegungen mit dem Kopf sind ihm möglich. Er kommuniziert, indem er mit den Augen Buchstaben auf einem Display anschaut, der Computer registriert, welche es sind und wandelt das in gesprochene Sprache um.

Martin, der Suizidabsichten geäußert hat, gehört, anders als andere Patienten, die ihren Fall in den letzten Jahren in Großbritannien vor Gericht gebracht haben ,zu der extrem kleinen Gruppe von Menschen, die  wohl tatsächlich nicht aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe selbst aus dem Leben scheiden können. Allenfalls wäre vorstellbar, dass er sich weigert Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen – die behandelnden Ärzte befürchten aber, ihn gewähren zu lassen könnte als Beihilfe zum Suizid gewertet werden. Das ist allerdings eine selbst angesichts der englischen Rechtslage schwer nachvollziehbare Sorge, denn die Alternative zum Gewährenlassen und Begleiten des selbstgewählten Sterbens wäre die Behandlung gegen den Willen des Patienten, da auch nach englischem Recht die Versorgung eines Patienten mit Flüssigkeit und Nahrung durch Sonden eine medizinische Behandlung darstellt. Zwangsbehandlung ist aber in solchen Fällen keine  realistische Option.

In anderen Punkten allerdings wirft der neue Suizid-Fall Fragen auf. Dafür ist vor allem ursächlich, dass Martins Frau sich an dessen Suizid  nicht beteiligen möchte, so dass die Vorbereitungen Aufgabe seiner Pflegekräfte oder des medizinischen Personals wären. Da rechtlich gesehen als „Beihilfe“ jede Handlung bewertet werden kann, die zum Erfolg (hier dem erfolgten Suizid) irgendwie beiträgt, ist hier ein weites Feld möglicher Strafbarkeit eröffnet, was für Martins Anwälte aus einer in bioethischen Auseinandersetzungen erfahrenen Kanzlei ihrerseits reichlich Betätigungsmöglichkeiten eröffnet.

Insbesondere müssen Ärzte und Pflegekräfte nach Auffassung von Martins Anwälten sicher sein können, dass sie keine Verfolgung fürchten müssen, wenn sie  ihren Patienten mit Informationen darüber versorgen, wie der Sterbeprozess verlaufen würde, wenn er – um Suizid zu begehen – aufhören würde zu essen und zu trinken und welche palliative Versorgung ihm dabei das Sterben erleichtern könnte. Die Pflegekräfte und Ärzte sollen nach Ansicht der Anwälte von Martin auch geschützt sein, wenn sie vorbereitende Recherchen für einen Suizid über die Sterbehilfeorganisation Dignitas ausführen und wenn sie Dignitas mit Informationen über ihren Patienten versorgen. Auch die Recherche, welche professionellen Pflegedienste bereit und in der Lage wären, Martin gegebenenfalls in die Schweiz zu begleiten, damit er dort Suizid begehen kann, soll straffrei bleiben., Noch konkreter wird es nach Vorstellung der Anwälte, wenn es um die konrete Vorbereitung des Suizids geht und beispielsweise der psychische Gesundheitszustand von Martin untersucht werden muss: den Pflegekräften und behandelnden Ärzten soll es obliegen, hier ausreichend qualifizierte Psychiater auszusuchen und gegebenenfalls mit Informationen über ihren Patienten zu versorgen. Um das zu erreichen haben die Anwälte bei einem lokalen Gericht einen Feststellungsantrag eingereicht: Es soll festgestellt werden, dass diese Handlungen nicht strafbar sind. Grundsätzlich sind Gerichte nicht bereit solche Feststellungen über die Strafbarkeit zukünftiger Handlungen zu treffen. Anders als in vorherigen Verfahren geht es hier aber nicht um nicht konkret absehbare Handlungen in einer nicht näher zu beschreibenden Zukunft, sondern um konkret bevorstehende und erforderliche Handlungen, die nur deswegen nicht sofort vollzogen werden, weil die Gefahr besteht, strafrechtlich verfolgt zu werden – so jedenfalls argumentieren die Anwälte.

Da es mittlerweile eine Verwaltungsvorschrift gibt (englische Originalquelle hier), die beschreibt bei Vorliegen welcher Bedingungen die Generalstaatsanwaltschaft bei assistiertem Suizid Anklage erhebt und bei Vorliegen welcher Umstände nicht, diese den gegenwärtigen Fall aber nicht trifft, gibt es gute Gründe hier Rechtssicherheit zu verlangen.

Parallel zu diesen strafrechtlichen Vorarbeiten hat sich Martins Kanzlei auch an die Aufsichtsbehörden für Ärzte – den General Medical Council – und für Rechtsanwälte – die Solicitors Regulation Authority – gewandt, um zu klären, ob irgendwelche der beschriebenen Aktivitäten unabhängig von ihrer strafrechtlichen Bewertung berufsrechtliche Konsequenzen nach sich zögen.

Die „Interims Policy“ der Generalstaatsanwaltschaft über die Anklage von assistiertem Suizid vor zwei Jahren , am 23. September 2009, veröffentlich worden ist; der Zeitpunkt für die neue Kampagne zur Abschaffung dieses Delikts ist daher gezielt gewählt. Da es seit Veröffentlichung der „Interims Policy“ auch keine neuen Anklagen gegeben hat, stellt sich auch die Frage, warum an einem Straftatbestand festgehalten werden soll, der ohnedies wirkungslos erscheint. Betrachtet man allerdings, wie vergleichsweise radikal in Groß-Britannien in anderen bioethischen Fragen jede begrenzende Regulierung aufgegeben worden ist, dann ist zu befürchten, dass die Abschaffung der Strafbarkeit des assistierten Suizids Weiterungen nach sich ziehen würde.

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4 Lesermeinungen

  1. Lutz Barth sagt:

    Nun - in England mag dieser...
    Nun – in England mag dieser „Fall“ erneut zu lebhaften Diskussionen führen, wenngleich doch hierzulande die Strafbarkeit der Suizidbeihilfe eher als unproblematisch einzustufen ist, sehen wir mal von dem Versuch der BÄK ab, generell die ärztliche Suizidassistenz im Berufsrecht ggf. auch berufsrechtlich sanktionieren zu wollen. Ob das Verbot der Suizidassistenz in Gestalt eines ethischen Zwangsdiktats hält, ist derzeit noch eine offene Frage und hierüber werden dann in der Folge sicherlich die Gerichte zu befinden haben und zwar jenseits eines ethischen Neopaternalismus. Immerhin hat hierzulande der neue Präsident der BÄK signalisiert, dass er ein Urteil eines staatlichen Gerichts akzeptieren wird und von daher erscheint es nur zwangsläufig, wenn (freilich nach einer noch ausstehenden Umsetzung im ärztlichen Landesberufsrecht) das berufsrechtliche Verbot einer konkreten Rechtsprüfung unterzogen wird.
    Dies hat mit „Lobbyismus“ wenig bis rein gar nichts gemein, geht es doch darum, dass die BÄK im 21. Jahrhundert einer „Dogmatisierung des Arztethos“ das Wort redet und meint, ihre Ärztekolleginnen und Kollegen mit einem ethischen Diktat das Recht zur freien Gewissenentscheidung beschneiden zu können, mal ganz davon abgesehen, dass ein allgemeiner arztethischer Konsens innerhalb der Ärzteschaft gerade nicht festgestellt werden kann und sich „nur“ dort herstellen lässt, wo man/frau sich im Wege einer Selbstverpflichtungserklärung auf die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen verständigen kann, weil andere Handlungsoptionen von vorn herein ausgeschlossen sind!
    Auch hierzulande wird also die Ressoruce „Recht“ zu bemühen sein, um die ethischen Überzeugungstäter auf den rechten Pfad der Tugend bringen zu können, so dass diese jedenfalls verpflichtet sind, die Grundfreiheiten Dritter nicht nur zu tolerieren, sondern auch zu respektieren. Das „Arztethos“ besteht nicht um seiner selbst willen und es ist weit davon entfernt, als „Dogma“ in unserer Gesellschaft anerkannt zu werden, ohne dass hierbei der ethischen Standard unseres Grundgesetzes gewahrt bleibt. Mit anderen Worten: im 21. Jahrundert brauchen wir keine „Oberethiker“, die da meinen, uns ihre Überzeugungen im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur verkünden, sondern in erster Linie „verordnen“ zu müssen. Der Arzt ist und bleibt in seiner Berufsausübung vornehmlich gegenüber seinem Gewissen verantwortlich und es scheint mir persönlich mehr als unverschämt zu sein, wenn eine Arbeitsgemeinschaft von Selbstverwaltungskörperschaften meint, „moralisch und ethisch verbindliche Standards“ vorgeben zu wollen. Die BÄK hat mit ihrer Verbotsregelung eine Regelung verabschiedet, die dem eigenen Berufsstand schlicht unwürdig ist und den Verdacht nährt, dass hier Überzeugungstäter am Werk sind, die kein rechtes Augenmaß auch für die Gewissensentscheidung ihrer Kolleginnen und Kollegen entwickeln wollen.

  2. Wenn man sich intensiver mit...
    Wenn man sich intensiver mit der Suizid-Beihilfe beschäftigt und zudem noch mit psychiatrischen Kenntnissen vorbelastet ist, dann fragt man sich, ob dem Erwägen des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) neben der irrationalen Abwehr der Suizid-Beihilfe nicht zusätzlich noch eine sadistische Komponente unterstellt werden muss. Ich weiß aus eigenen Beobachtungen, dass FVNF bei hochbetagten Menschen und bei Krankheiten mit Appetitverlust eine nicht belastende Möglichkeit eines sehr menschenwürdigen Sterbens darstellt. Ob dies in mittlerem Lebensalter auch gilt, scheint mir zweifelhaft. Ich habe einen 44-jährigen Mann mit einer Querschnittslähmung befragen können: Er berichtete, dass er über 1 1/2 Jahre erfolglos versucht hat, seinem Leben mit FVNF ein Ende zu setzen. Er hat immer wieder – so widersinnig das klingen mag – auf den Minutenzeiger der Uhr geschaut und die Zeit erwartet, dass er wieder Medikamente einnehmen sollte und dabei einen Schluck Wasser trinken konnte. Schließlich hat er seinen Versuch abgebrochen und sich an die Schweiz gewandt.
    Ich frage mich darüber hinaus, ob für einen Menschen mit schwergradigen Transportschwierigkeiten die Fahrt in die Schweiz nicht auch eine solche Zumutung ist, dass man der Ablehnung – psychiatrisch gesehen der Abwehr – einer Suizid-Beihilfe in der eigenen Wohnung uneingestandene bestrafende Emotionen unterstellen muss.
    Ich persönlich kann jedenfalls den Wunsch dieses Engländers, der offensichtlich an einem Locked-In-Syndrom leidet, ohne Weiteres verstehen und würde für mich selbst mit aller Heftigkeit, die mir dann noch zur Verfügung stünde, auf einer Möglichkeit eines Suizids bestehen. Technisch ist auch in einer solchen Situation eine Möglichkeit zu einem eigentätigen Suizid denkbar.
    Ich weiß wovon ich rede!
    Ich kenne auch einen außerordentlich beeindruckenden Menschen in einem Locked-In-Syndrom, der sich sehr konkret mit der Möglichkeit eines Suizids mit Beihilfe auseinandergesetzt hat und diesen Gedanken vorerst (?) hintangestellt hat.

  3. A.Gegner sagt:

    Ich bin zufällig auf diesen...
    Ich bin zufällig auf diesen Blog gestoßen!
    Mich hatte Thema „Sterbeklinik interessiert.
    Aber auch hier – Sie sprechen, Herr Barth , von Überzeugungstätern!
    Frage:wovon sind die überzeugt?
    Sicher istes sehr verwunderlich, dass Abtreibung – also Tötung eines ANDEREN werdenden Lebens , ärztlich erlaubt ist, nicht aber, die Hilfestellung für einen Menschen,der aus Gründen hohen Alters oder schwerer Krankheit , SELBST Hilfe zum Sterben bräuchte??
    An dem Protest der Kirchen, liegt es sicher nicht nur – aber natürlich ist durch Fürsorge für ALTE und KRANKE auch viel Geschäft zu machen.
    Wenn sich die Gesellschaft diese Kosten( die Alten werden ständig mehr) nicht mehr leisten kann, wird sich das ändern müssen.
    Meine Vorstellung wäre also wirklich die Sterbeklinik.!
    Es müßte behördlich abgesichert werden, dass der Antragsteller wirklich SELBER sterben möchte Aufenthalt 3 Tage(damit er auch noch einen Rückzieher
    machen kann) dann ein schönes schönendes Sterben.
    Für das Ambiente, könnrn sich einfallsreiche Geschäftsleutem ja manch schöne Idee einfallen lassen.
    Wäre das nicht eine Aussicht für die Zukunft – ? Ich ließé mich gerne vormerken!

  4. Lutz Barth sagt:

    "Technisch ist auch in einer...
    „Technisch ist auch in einer solchen Situation eine Möglichkeit zu einem eigentätigen Suizid denkbar. Ich weiß wovon ich rede!“, so Spittler in seinem Kommentar.
    Nun – in der Debatte geht es zunächst nicht um die „technischen Möglichkeiten“, die ggf. einen Suizid ermöglichen, sondern zuvörderst um die Kernfrage, ob ggf. Ärzte (und Pflegepersonal) bei einem Suizid assistieren dürfen, vorausgesetzt, dass diese Aufgabe der Suizidassistenz u.a. bei der Ärzteschaft primär angesiedelt werden soll, vielleicht gar in einer „Sterbeklinik“, wie von einer Bloggerin hier zum weiteren Nachdenken aufgegeben.
    Es gilt mit Blick auf das Arztethos, gerade die Irritationen mit Blick auf den Hippokratischen Eid und dem neuen ethischen Neopaternalismus aufzulösen, die in der ärztlichen Berufsordnung selbst verortet sind.
    Dass die BÄK und einige Verbände einem „Sterbetourismus“ Vorschub leisten, ist nicht zu bestreiten und dass eine „Reise“ vor der letzten „großen Reise“ nicht im Interesse eines Schwersterkrankten unbedingt liegt, bedarf keiner näheren Erläuterung. Andererseits ist die „Suizidassistenz“ aus ihrem Schattendasein heraus zu führen und entsprechend zu legalisieren und zwar auch im Sinne einer aktiven Sterbehilfe, wenn und soweit der Suizident zur eigenen Tathandlung nicht mehr eigens fähig sein sollte und zwar ungeachtet irgendwelcher „technischer Möglichkeiten“. Frei verantwortliches „Sterben“ sollte – wenn irgend möglich – nicht durch „Tötungsmaschinen“ organisiert werden, sondern als ein Akt höchster Humanität begriffen werden, so dass die aktive Handlung eines Dritten auch ethisch legitimiert ist, ohne dass der Wunsch des schwersterkrankten Sterbewilligen allerdings zur Fremdbestimmung führt.
    Es stand wohl (auch) in der Absicht von Michael de Ridder, hierüber eine Diskussion zu entfachen: Die Frage muss vielmehr lauten, ob die Suizidassistenz arztethisch geboten sein kann?
    Dass die Ärzteschaft sich in beredtes Stillschweigen hüllt (sehen wir mal von dem unsäglichen Verbotsbeschluss des 114. Deutschen Ärztetages ab), spricht weder für eine offene Diskussionskultur noch dafür, dass jedenfalls Funktionäre willens sind, andere Wissenschaftsdisziplinen gebührend zu Rate zu ziehen.
    Die „Arztethik“ ist jedenfalls im Begriff, sich von für selbstverständlich gehaltenen rechtsethischen Maßstäben zu verabschieden und darüber kann nicht hinweggetäuscht werden, in dem gebetsmühlenartig der „Geist des Hippokrates“ reanimiert wird!

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