Fast drei Monate ist es her, dass im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages über die sogenannte Entscheidungslösung debattiert wurde. Seitdem, so mein Eindruck, gewinnt diese Lösung immer neue Anhänger – aber noch immer gibt es keinen einzigen konkreten Gesetzesvorschlag. Wer soll denn wie noch mehr zur Entscheidung gedrängt werden, als heute schon? Prof. Dr. mult. Nagel, der Transplantationschirurg und Kirchentagspräsident war, hat vor einigen Tagen in Frankfurt-Höchst (merken Sie sich: Höchster Kamingespräche) mit Dr. Undine Samuel einer aufgeschlossen diskutierenden Ärztin der Deutschen Stiftung Organspende und mir debattiert. Nagel weiß eine Lösung: Wenn man den Vertrag mit der Krankenversicherung abschließt, soll man sich seiner Meinung nach zur Organspende erklären müssen. Da geht es schließlich auch um Gesundheit, es besteht also ein Sachzusammenhang und in der Krankenkasse sitzen, denkt er, auch die Leute, die sich auskennen (naja).
Mich überzeugt das eher weniger: Zum einen weiß ich schon gar nicht mehr, bei welcher Gelegenheit und in welcher Verfasstheit ich meinen Krankenversicherungsvertrag unterschrieben habe – es war vermutlich eine einsame Stunde am heimischen Schreibtisch (wer erinnert sich besser? Blog-Leserinnen und –Leser sind gefragt, für die schönste Geschichte, dürfen Sie sich ein Blogthema wünschen). Vielleicht war es zu sogar noch zu Volkszählungszeiten in den frühen 1980er Jahren – kein gutes Umfeld für eine erzwungene Entscheidung. Was machen wir auch mit Altlasten wie mir, die keinen neuen Krankenversicherungsvertrag mehr unterschreiben werden? Und was mit den jungen Rebellinnen, die sich weigern würden, eine Entscheidung zu treffen: Sollen sie keine Krankenversicherung bekommen? Wohl kaum. Und wenn sie, bei Lektüre des Organspendeausweis-Textes eine Frage hätten? Sollen sie beim Call-Center der GEK Barmer anrufen? Das würde vermutlich kaum zu einer Erhöhung der Organspenderzahlen führen. Dass die Krankenkassen schon heute im Transplantationsgesetz aufgefordert werden, ihre Mitglieder um eine Erklärung zur Organspende zu bitten und dieser Aufgabe eher gelangweilt nachkommen, ist nur ein zusätzlicher Einwand, der das Bild abrundet: Die Idee taugt nichts. Es gibt allerdings offenbar auch keine bessere, zumindest verrät niemand, der sie haben sollte, wie es gehen könnte – und deswegen wird, so meine Prognose, die Entscheidungslösung wird so nichts werden, was zwei Folgen haben könnte: Entweder es bleibt alles mehr oder weniger so, wie es ist, oder es kommt doch die sogenannte Widerspruchslösung: Jeder, der nicht ausdrücklich widersprochen hat, wird dann zum Organspender. Er hätte sich ja (anders) entscheiden können.
Diese Einschätzung wird verstärkt durch eine Beobachtung, die ich in der gegenwärtigen Diskussion um das Transplantationsgesetz mache: Viele entschiedene Befürworter der sogenannten Entscheidungslösung argumentieren vor allem damit, dass das Nicht-Ausfüllen eines Organspende-Ausweises in erster Linie den eigenen Angehörigen nicht zugemutet werden könnte, weil diese dann gezwungen wären im Ernstfall eine Entscheidung zu treffen. Die Vertreter dieser Auffassung treten also so auf, als wären sie die Sachwalter der Angehörigen-Interessen und als handelte jeder, der keinen Organspendeausweis ausfüllt rücksichtslos gegenüber seinen Verwandten.
Dem kann man einerseits natürlich durch die Entscheidungslösung begegnen. Wenn das aber, wie oben dargelegt, nicht funktioniert, weil eine sinnvoll Entscheidungslösung nicht realisierbar ist, dann erfüllt auch eine Widerspruchslösung den angestrebten Zweck: Sie zwingt Angehörige nämlich nicht, die ihnen angeblich unzumutbare Entscheidung zu treffen. Wer kein Organspender sein will und das nicht schon selbst erklärt hat, ist dann selbst schuld, die Angehörigen müssen jedenfalls nicht mit einer eigenen Entscheidung und der Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen belastet werden. Wer also die Angehörigen von der Entscheidungslast befreien will, ob tatsächlich oder nur angeblich, kann sich also genauso gut für die Widerspruchslösung einsetzen. Gegebenenfalls ließe sich, in dieser Sichtweise, die erweiterte Widerspruchslösung als besonders sozialverträgliche Alternative präsentieren: für den Fall, dass der Betroffene selbst nicht widersprochen könnten dies die Angehörigen tun, wenn sie es wollten und genau wüssten, dass der Betroffene die Organe nicht hätte spenden wollen.
Tatsächlich spricht aus meiner Sicht allerdings einiges gegen jede Form der Widerspruchslösung und auch das Argument, dass jeder, der keinen Organspendeausweis habe, seine Angehörigen unzumutbar belaste verkennt die Probleme der gegenwärtigen Situation. Die Angehörigen werden nicht durch den belastet, der sich zur Organspende nicht erklären will, sondern allenfalls durch die Ärzte, die eine Organentnahme planen, ohne dass eine Zustimmung vorliegt. Anders als in der gegenwärtigen Debatte immer wieder zu hören konstituiert Paragraph 4 des Transplantationsgesetzes auch keine Verpflichtung für Ärzte zu versuchen, eine Organentnahme vorzunehmen. Die Angehörigen haben, von Ärzten nach der Feststellung des Hirntodes befragt, ob sie in eine Organentnahme einwilligen, durchaus auch die Möglichkeit festzustellen, dass sie sich dazu nicht äußern wollen. Dann entscheiden nicht sie, sondern es tritt der gesetzlich vorgesehene Regelfall ein: Die Organe können nicht entnommen werden. Wie schon der Begriff der „Spende“ deutlich macht, geht das Gesetz gegenwärtig noch davon aus, dass die Organentnahme der (durchaus wünschenswerte) Ausnahmefall ist, für den sich jemand entscheiden muss. So wie der arme Bettler sich nicht einfach aus meinem Einkaufswagen bedienen kann, mit dem Argument, ich hätte nicht widersprochen, so kann das auch der Chirurg nicht machen. Meine Organe gehören zu meinem Körper und damit zu mir – es sei denn ich gebe sie frei. So schön es ist, wenn Menschen anderen helfen und Gutes tun wollen – wenn Gutes zu tun eine Verpflichtung wird, ändert sich der Charakter des Handelns eben auch grundsätzlich.
Das wäre der entscheidende Wechsel, der mit einer Widerspruchslösung eingeleitet würde: Auch wenn angesichts der geringen Bereitschaft, Organspendeausweise auszufüllen, nicht dafür spricht, dass Menschen grundsätzlich bereit sind, ihre Organe zu spenden, würde das als gesetzlicher Normalfall vorausgesetzt. Wer sich dagegen entschiede würde zum Abweichler von der Norm, zum Menschen, der sich einem gesetzlich normierten, altruistischen Normalverhalten entzieht.
Bezeichnend ist übrigens, dass im Patientenverfügungsgesetz ausdrücklich geregelt ist, dass niemand gezwungen werden darf, eine Patientenverfügung zu verfassen. Auch hier muss dann ein anderer Mensch die schwierigen Entscheidungen treffen, wenn man selbst nicht mehr dazu in der Lage ist. Dennoch galt gerade diese Freiheit, sich nicht entscheiden zu müssen, als ein wesentlicher Punkt in der Debatte. Warum das bei der Organspende anders sein sollte, bleibt erklärungsbedürftig. Schauen wir, wohin die Debatte uns noch führt…..
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