Biopolitik

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Intersexuelle: Ethikrat will ein bisschen mehr als zwei Geschlechter…

| 8 Lesermeinungen

  Annähernd zwei Jahre lang hat sich der Deutsche Ethikrat mit dem Thema Intersexualität befasst – und was hat man nicht alles gemacht:...

 

Annähernd zwei Jahre lang hat sich der Deutsche Ethikrat mit dem Thema Intersexualität befasst – und was hat man nicht alles gemacht: Stellungnahmen eingeholt, Anhörungen veranstaltet, ja sogar einen wochenlangen Onlinediskurs im Internet in Gang gebracht. Soviel Transparenz, so viele Beteiligungsmöglichkeiten – und dann am Ende doch nur eine ganz gewöhnliche, eher routiniert, als engagiert wirkende Entscheidung, zu der Betroffene sagen:

„Die internationale Vereinigung intergeschlechtlicher Menschen begrüsst, dass der Ethikrat sich für eine finanzielle Förderung von Inter*- Organisationen ausspricht und die Peer-Beratung stärken möchte. In zentralen Punkten bleibt allerdings die Stellungnahme hinter den Erwartungen von Inter*-Organisationen zurück!“

Zentral waren die Forderung nach einem Stopp von verstümmelnden Operationen an den Genitalien intersexueller Kinder und die Anerkennung mindestens eines weiteren Geschlechts, dass nicht männlich und nicht weiblich ist und über das es keine medizinische Definitionshoheit gibt (dazu mehr im Feuilleton der Printausgabe der FAZ am Freitag).

Hier im Blog interessiert mich die Frage, warum sich eigentlich der Deutsche Ethikrat mit dem Thema „Behandlung Intersexueller“ befasst: In der Stellungnahme, die immerhin über 100 Seiten lang ist, geht es um die Frage medizinischer Behandlungen und ihrer rechtlichen Grenzen, es geht um die Bedeutung des Personenstandsgesetzes und die Frage inwieweit dieses zu verändern ist, es geht um den Anspruch Intersexueller Menschen auf einen Entschädigungs-Fonds, weil sie jahrzehntelang zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Normvorstellungen von Geschlecht auf teilweise brutale Art und Weise medizinisch misshandelt worden sind, es geht schließlich um familienrechtliche Probleme, wie die Frage, ob Menschen, die nicht Mann sind und die auch nicht Frau sind, die Möglichkeit haben sollen eine Ehe zu schließen oder nicht. Es geht also in erster Linie um rechtliche Fragen, oder zumindest, wenn man nicht wie ich als Jurist sowieso immer auf das Recht schielt, Umfragen von eminent gesellschaftspolitischer Dimension. Natürlich geht es irgendwie auch immer um Ethik – aber es erscheint schon seltsam, wenn die Bundesregierung, von einem internationalen Gremium (dem CEDAW-Ausschuss der Vereinten Nationen)  aufgefordert sich um die Menschenrechte einer Minderheit zu kümmern, das nicht in die eigenen Hände nimmt und auch nicht z.B. dem Bundestag übergibt, der mit dem Rechtsausschuss oder dem Gesundheitsausschuss Gremien hat, die sich genau mit diesen Fragen befassen müssen, sondern sich stattdessen an ein Ethik-Gremium wendet. Ethik droht hier zur Befassung zweiter Klasse zu werden, Ethiker sind für das zuständig, was den Politiker zwar vorgeschrieben ist, aber vopn dem sie nicht so richtig wissen, was es soll – ein Eindruck, dem sich auch der Deutsche Ethikrat selbst widersetzen sollte. Stattdessen hat dieser im Auftrag der Bundesregierung brav und pflichtbewusst die wesentlichen Fragen aufgearbeitet und daran einen wenig innovativ wirkenden wirkenden Empfehlungskatalog angehängt. Während es bei originärer ethischen Kontroversen, wie beispielsweise der um die Prämplantationsdiagnostik ausführliche Mehrheits- und Minderheitenvotum gibt, die zudem auch von namentlich benannten Mitgliedern des Ethikrates nach außen hin vertreten werden, erfahren sie hier ganz beiläufig unter „9.2“ in Empfehlung Nummer 4:

„Der Deutsche Ethikrat schlägt mit überwiegender Mehrheit vor, Menschen mit dem Geschlechtseintrag „anderes“ die eingetragene Lebenspartnerschaft zu ermöglichen. Ein Teil des Ethikrates schlägt vor, ihnen darüber hinaus auch die Möglichkeit der Eheschließung zu eröffnen.“ 

Argumente dafür oder dagegen: Fehlanzeige. Namensnennung der Vertreterinnen von Minderheit und Mehrheit: Fehlanzeige. Für die Betroffenen aber auch für die, die sich mit dem Thema befassen, das sich auf zentrale Vorstellungen in der Gesellschaft bezieht, ein eher entäuschender Kurzsprung. Auch dass sich der Ethikrat im Ergebnis nicht von der in erster Linie medizinischen Sichtweise auf das Thema Intersexualität emanzipiert, hätte man sich anders gewünscht.

Dennoch kommt es jetzt in erster Linie darauf an, was die Bundesregierung mit dieser Empfehlung machen wird: Der CEDAW-Ausschuss hat sie 2009 (als Ergebnis der Vorlage eines Schattenberichts durch Selbsthilfe-Gruppen) in die Pflicht genommen, die Lage von intersexuellen Menschen in Deutschland zu verbessern und dafür mit Ihnen in einen Dialog zu treten. Wie auch immer man die Stellungnahme des Ethikratausschusses bewertet: Sie kann dafür allenfalls ein Anfang sein.

 

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8 Lesermeinungen

  1. Muriel sagt:

    Ich schäme mich so sehr, in...
    Ich schäme mich so sehr, in einer Gesellschaft zu leben, in der ein „Ethikrat“ eine solche Stellungnahme abgibt, abgeben muss, abgeben kann, was weiß ich, dass es schon körperliches Unwohlsein verursacht.
    Allein schon diese erbärmliche Unterscheidung zwischen „Ehe“ und „eingetragener Lebensgemeinschaft“ sagt doch alles über uns aus, was eine außerirdische Zivilisation wissen müsste, bevor sie entscheidet, ob sie uns ausrotten will.

  2. Andy sagt:

    Sorry, aber man frägt sich...
    Sorry, aber man frägt sich was in diesen zwei Jahren gemacht wurde.

  3. cromagnon sagt:

    Weg mit dem Staat...
    Weg mit dem Staat

  4. canova sagt:

    Es wird allerhöchste Zeit,...
    Es wird allerhöchste Zeit, dass die Probleme und speziellen Angelegenheiten andersgeschlechtlicher Menschen auf höchster politischer Ebene gründlich und nachhaltig thematisiert werden. Es geht nicht an – nicht heute und nicht in der Zukunft – dass bi- und andersgeschlechtliche Menschen einfach ignoriert und totgeschwiegen werden. Man sollte sich dieses Themas dringend annehmen, denn mit jedem Tag, den diese „Problematik“ weiter hinausgeschoben wird, leiden unzählige Menschen unter dem Druck unserer heterosexuellen Gesellschaft.

  5. Der Standesbeamte soll bei...
    Der Standesbeamte soll bei Intersexualität zukünftig nicht mehr „männlich“ oder „weiblich“ eintragen, sondern „anders“.
    Besser wäre, „beides“ einzutragen, denn der Intersexuelle ist ja nicht „anders“, er ist sowohl männlich als auch weiblich.
    Die Eintragung „beides“ hat eine positivere Ausstrahlung, „anders“ hingegen eine negativere.
    Sie würde eine spätere Festlegung oder Eheschliessung sicher erleichtern.

  6. mkl82 sagt:

    Intergeschlechtlichkeit hat...
    Intergeschlechtlichkeit hat nichts mit „hetero- oder homosexualität zu tun. Hier geht es nicht bloß um die sexuellen Präferenzen von Männern und Frauen, sondern darum, dass es Menschen gibt die rein biologisch nicht wirklich dem einen oder anderen Geschlecht zugerechnet werden können.
    Ich bin Christ und glaube durchaus, dass grundsätzlich eine Einteilung in Männer und Frauen gut und richtig ist. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, dass es eben Fälle gibt, in denen diese Einteilung nicht weiterhilft und die damit einhergehenden medizinischen und vor allem gesellschaftlichen Beeinträchtigungen dieser Menschen so gering wie möglich gehalten werden müssen und im Idealfall natürlich gänzlich verschwinden.
    Mag sein, dass hier der „Ethik-Rat“ zu kurz gegriffen hat, aber ein Schritt in die richtige Richtung ist besser als gar keiner. Bei einem so komplexen Thema, bei dem kein Fall gleich ist, sollte man der Vielgestaltigkeit der Lebenswirklichkeiten durch eine überlegte Herangehensweise Rechnung tragen.

  7. Mitleser sagt:

    Mit "Ethik" hat das nichts zu...
    Mit „Ethik“ hat das nichts zu tun, es sei denn, „wir“ beziehen uns auf Ethik als Heteronarmative. Geschlecht Mann/Frau/anders ist absurd. Warum nicht gleich auf geschlechtliche Eintragungen verzichten und Menschenwürde achten? Es ist nicht nur reichlich ungerecht die Verbrechen an den Kindern, die an ihren Geschlechtsteilen operiert worden siind, nicht als solche klar herauszustellen, sondern die altmodischen Zuschreibungen von Geschlecht weiter zu betreiben.
    Hier sind höhere Wahrheiten im Spiel, die durch „Ethik“ wiederholt werden sollen. Vielleicht hätte sich die Gesellschaft dieses Spiel des „Ethikrats“ ersparen können, wenn jedes Mitglied ein oder zwei Bücher von Judith Butler hätte geschenkt bekommen und es auch gelesen hätte.
    Aber die meisten Mitglieder werden die Inhalte kaum verstehen. Bedauerlich.

  8. Wenn sowohl im Blog kritisiert...
    Wenn sowohl im Blog kritisiert wird, dass es dem ‚Ethikrat‘ nicht gelang, die medizinische Ebene zu verlassen, dann kann nur zu Recht im obigen Kommentar gefragt werden, was jenes ehrwürdiges Gremium die letzten zwei Jahre eigtl. getan hat. Und dann verwundert es ebenso wenig, wenn plötzlich die Kategorie „anders“ institutionalisiert wird.
    Es scheint als hätte es der Rat und seine Mitglieder nicht geschafft, sich von einer essentialisierten Perspektive auf Geschlecht zu lösen. Mehr noch, diese Sichtweise (und damit sozio-kulturelle Materialisierung sowie Performanzen) wird brav und demütig reproduziert, indem die unhinterfragbaren Ontologien männlich & weiblich der Ausgangspunkt jeder Weisheit gesetzt, alles, das aber nicht in diese Binärität passt, als Abweichung konzipiert und gelabelt werden. „Anderes“, das klingt krank, das klingt pathologisierend pathologisch und nach einer Problematisierung, die doch wieder ein stets anzugehendes Problem virulent hält – einen Auswuchs in unserem grazil-feinen, richtigen und gesunden gesellschaftlichen Gewebe.
    Das Produkt der zweijährigen Arbeit bewegt sich auf RTL-Niveau, wenn es dort wieder einmal von „Männer“ und „Frauen“ und deren „wahren“ Eigenschaften und Fähigkeiten zu sprechen gilt. Bravo, die sozialen Machtverhältnisse sind wieder einmal erfolgreich stabilisiert worden – und dieses mal sogar mit dem Nimbus höchster Institutionen.

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