Biopolitik

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Wie sterben die Schweizer?

| 7 Lesermeinungen

  Die Schweizer sind gründliche Menschen und sie haben ein geordnetes Gemeinwesen, in dem auch sorgfältig gezählt wird, wie die Schweizer sterben. ...

 

Die Schweizer sind gründliche Menschen und sie haben ein geordnetes Gemeinwesen, in dem auch sorgfältig gezählt wird, wie die Schweizer sterben.  Vor allem haben sich die Statistiker angesichts der Debatte über schärfere Regelungen zur Suizidbeihilfe mit der Frage befasst, wieviele Menschen in der Schweiz organisierte Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen. Die Zahlen bis 2009 wurden gerade veröffentlicht: 300 solcher Fälle pro Jahr sind amtlich registriert, das sind 4,8 auf 1000 Todesfälle, eine recht stattliche Zahl, die zudem stetig wächst:  1998 wurden weniger als 50 Fälle registriert, 2004 waren es noch knapp über 200 Fälle. Der Anteil der Frauen an den Suizidbeihilfe hat dabei schneller zugenommen, als der der Männer – und die meisten der Menschen, die sich Unterstützung von Sterbehilfeorganisationen besorgt haben, sind 55 Jahre und älter, einen besonders hohen Anteil hat die Gruppen der 75 bis 84jährigen (knapp 30 %), während der Anteil der 25 bis 34jährigen nur bei ein Prozent liegt. Die meisten Menschen, die assistierten Suizid, den die Statistiker hier als Sterbehilfe bezeichnen, nachfragen leiden an Krebserkrankungen, eine beachtliche Gruppe hat aber auch neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer oder Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Auch die Gruppe der Menschen mit Depressionen ist bemerkenswert. Auffallend ist, dass der Suizid ohne Beihilfeleistung in der Schweiz im gleichen Zeitraum abgenommen hat: Mite der Achtziger Jahre töteten sich noch 1600 Schweizer im Jahr ohne Beihilfe selbst, 2009 waren es knapp 500 weniger (hier ist übrigens der Anteil der Männer deutlich höher, als der der Frauen). Vergleichzahlen zu Deutschland liegen nicht vor; in Belgien, wo aktive Tötung auf Verlangen erlaubt ist, lag der Anteil gemeldeter Todesfälle, bei denen eine tödliche Spritze gegeben worden war, bei 7,9 von 1000 Fällen, auch hier mit steigender Tendenz.

Eine ganz andere Frage ist, wie die Zahlen zu interpretieren sind. Jedenfalls wird das von“Exit“ und „Dignitas“ offensiv beworbene Angebot zunehmend genutzt,  die Erfahrungen, die berichtet werden, schrecken jedenfalls nicht ab. Ich finde immerhin beruhigend, dass immerhin auch in der Schweiz der allergrößte Teil der Bevölkerung (insbesondere die Menschen, die nicht in Zürich leben, das eine Art Sterbehilfe-Hochburg ist), vorziehen, ihr Sterben zu erleben, statt sich selbst den Tod zu geben – auch eine Art schweigende Mehrheit…. Letztenendes sagen die Zahlen aber wenig darüber aus, was die offene Beförderung des Suizids bewirkt, weil wir die Geschichten, die Überlegungen, die Menschen dazu bringen sich für den raschen Suizid und gegen das allmählichere begleitete Sterben zu entscheiden, nicht kennen. Die Statistik bleibt bemerkenswert, hilft der Ethik aber auch nicht auf die Sprünge, weil  aus der Tatsache, dass es etwas gibt, nicht darauf geschlossen werden kann, ob es gut ist.

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7 Lesermeinungen

  1. Lutz Barth sagt:

    Verehrter Herr Tolmein....
    Verehrter Herr Tolmein. Vielleicht sollten Sie angesichts Ihrer eigenen Überlegungen in Ihrem aktuellen BLOG-Beitrag konsequent bleiben und davon Abstand nehmen, über die Motive der „schweigenden Mehrheit“ zu spekulieren. Dass es für Sie beruhigend ist, dass auch in der Schweiz der allergrößte Teil der Bevölkerung es vorzieht, ihr Sterben zu erleben, statt sich selbst den Tod zu geben, darf nicht mit der Vorstellung verbunden werden, als wäre hierdurch ein Votum gegen die autonome Entscheidung etwa der schwersterkrankten und sterbenden Menschen getroffen. Dem ist mitnichten so, da gerade die Schweizer sich durch einen allergrößten Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwersterkrankten auszeichnen.
    Der „Sterbevorgang“ muss gerade nicht erlebt, geschweige denn das Leid erfahren werden, um das hohe Gut der Freiheit kosten zu können. Insofern beunruhigt mich die Tatsache, dass offensichtlich immer noch das „Leid“ verklärt wird, obgleich wir auch die Motive der „schweigenden Mehrheit“ nicht kennen. Hierüber kann lediglich spekuliert werden und da ist denn auch vornehme Zurückhaltung einzufordern, es sei denn, in dem Erleben des Sterbens erblicken wir einen Wert an sich; einen Wert, an den zu glauben jedem von uns gestattet ist, ohne dass hieraus allerdings eine verbindliche „Kultur des Sterbens“ abzuleiten wäre.

  2. Nicht jeder will sein Sterben...
    Nicht jeder will sein Sterben erleben. Ich wahrscheinlich auch nicht, was vielleicht auch mit meinen germanischen Vorfahren zu tun hat. Der römische Philosoph Seneca berichtet von einem Germanen, der in einem römischen Zirkus den wilden Tieren vorgeworfen werden sollte, und es vorzog, dieses ihm vom Schicksal bestimmte Sterben nicht zu erleben:
    https://www.salmoxisbote.de/Bote20/Seneca.htm
    (Fünftletzter Abschnitt)

  3. Lebensschutz sagt:

    Wer das Sterben in heutiger...
    Wer das Sterben in heutiger Zeit mit Unterstützung der Palliativmedizin und hospizlicher Betreuung mit dem Tod durch wilde Tiere vor einem geifernden Publikum vergleicht, dem mag man zugestehen, dass er sich immer noch die Sterbehilfe wünscht. Denn hier ist das Informationsdefizit der eigentliche Treiber für den Wunsch. Ohne diesen Vergleich über die Maßen zu strapazieren, glaube ich, dass er einen wichtigen Aspekt der Sterbehilfebefürwortung aufzeigt: die mangelnde Kenntnis der modernen Methoden einer humanen Sterbebegleitung.

  4. Lutz Barth sagt:

    Mit Verlaub: Weder Seneca...
    Mit Verlaub: Weder Seneca resp. andere Philosophen noch die Botschaften der Lebensschützerfraktionen helfen uns im aktuellen Diskurs über die Suizidbeihilfe weiter.
    Entscheidend ist, dass wir uns endlich zum Wert des Selbstbestimmungsrechts oder allgemeiner, zum ethischen Grundstandard unseres Grundgesetzes, bekennen. Die Hospizbewegung und ihr offensichtlich die Palliativmedizin folgend, beschreitet auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert einen unheilvollen Weg, in dem diese sich selbst verklären und so ihren eigenen Machbarkeitsphilosophien erliegen.
    Nicht die Befürworter der Liberalisierung der Sterbehilfe benötigen „Nachhilfe“ in Sachen Grundrechtsschutz, sondern gerade die selbsternannten Lebensschützer, die von sich aus glauben, uns ihre Kultur des Sterbens überstülpen zu können und hierbei es geschickt verstehen, mit pseudowissenschaftlichen Argumenten Grundrechte zu Grabe zu tragen.
    Nehmen wir die Lebensschützerfraktionen als dass zur Kenntnis, was sie im Kern sind: Missionare im Namen eines Glaubens, bei denen der Wert des Lebens das Maß aller Dinge ist, ohne hierbei zu erkennen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Menschen unhintergehbar ist.
    Dies zu glauben, bleibt freilich den Lebensschützern vorbehalten, wie sich unschwer aus der Verfassung ergibt. Andererseits mögen doch die Lebensschützer-Aktivisten akzeptieren, dass ein jeder nach seiner Facon selig werden darf und da beruhigt es, wenn wenigstens der Staat zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist.
    Überzeugte Lebensschützer zeichnen sich durch ein Maß an Intoleranz aus, dass kaum noch erträglich ist; unsere Gesellschaft benötigt keine ethischen Oberlehrer und schon einmal gar nicht ethische Überzeugungstäter, deren „Taten“ im Namen des Glaubens gerechtfertigt werden.
    Der Glaube mag Berge versetzen, aber eben nicht die Grundrechte und hierauf aufmerksam zu machen, scheint dringender denn je zu sein.

  5. @Lebensschutz:

    Wäre es mein...
    @Lebensschutz:
    Wäre es mein Schicksal, aufgefressen zu werden, wobei ich mir aber aussuchen dürfte, ob ich von wilden Tieren in einer römischen Arena oder von meinem eigenen Krebs aufgefressen werde, würde ich als kleineres Übel die Tiere wählen. Denn die Tiere töten mich relativ schnell, der Krebs aber langsam. Und Gefangener ist man sowohl in der Arena, als auch in Bryschs Imperium, wo sie dich bewachen und den erlösenden Sterbehelfer nicht zu dir durchlassen… Solange Sterbehilfe in Deutschland nicht zugelassen ist, habe ich kein Vertrauen.

  6. "Ich finde immerhin...
    „Ich finde immerhin beruhigend, dass immerhin auch in der Schweiz der allergrößte Teil der Bevölkerung (insbesondere die Menschen, die nicht in Zürich leben, das eine Art Sterbehilfe-Hochburg ist), vorziehen, ihr Sterben zu erleben, statt sich selbst den Tod zu geben“
    Was ist daran beruhigend? Oder anders gefragt: Was ist beunruhigend an einem schmerzfreien und selbstbestimmten Tod? Welches Interesse können Sie daran haben, dass andere Menschen langsam und oft qualvoll sterben? Um nicht die unhöfliche Frage zu stellen: Was geht es Sie eigentlich an?
    Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der jeder sein Leben nach seiner Façon beschließen kann. Eine Gesellschaft, die den Freitod ebenso wie das Leben bis zum natürlichen Tod als gleichberechtigte Alternativen behandelt, zwischen denen zu wählen nur dem Betroffenen zusteht. Auch die Schweiz ist von einer solchen Gesellschaft noch weit entfernt, aber wenigstens auf einem besseren Weg als das christlich-paternalistische Deutschland.
    Möge uns das Universum vor selbsternannten „Lebensschützern“ bewahren, die das Leben eines Menschen auch gegen die freie Entscheidung seines Eigentümers schützen wollen.

  7. Ich rate folgendes Buch zu...
    Ich rate folgendes Buch zu erwerben…gerade bei Orell-Füssli erschienen: der organisierte Tod, pro und contra…
    Da können Sie die verschiedenen Meinungen über das Thema lesen und anhand vieler Zeugnisse erkennen, daß keine absolute Wahrheit existiert…Jeder von uns muss sich seine eigene Wahrheit schaffen und sie muß respektiert werden….Weder der Staat noch die Kirche dürfen entscheiden, wie ich meine letzten Stunden verbringe und ob ich kurz und schmerzlos sterben möchte anstelle eines langsamen Dahinsiechens…Demokratie ist auch in dieser für uns schwierigen Stunde Entscheidungsfreiheit und zwar uneingeschränkt.

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