Wann hat ein Thema besondere gesellschaftliche Brisanz? Abstrakt ist das wohl schwer zu fassen. Konkret gibt es dagegen wohl kaum jemanden, der behauptete, dass „Pflege“ kein Thema von besonderer gesellschaftlicher Relevanz wäre. Und trotzdem habe ich meine Zweifel – nicht hinsichtlich der objektiven Bedeutung von „Pflege“, auch nicht mit Blick auf die Bedeutung, die Pflege für Menschen hat, die sie für sich oder für Angehörige benötigen. Aber dass „Pflege“ wirklich das gesellschaftspolitische Top-Thema ist, dass sie sein müsste, kann mit Blick auf die politische Landschaft schwerlich behauptet werden. Am Montag fand im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung zum „Pflegeneuausrichtungsgesetz“ (PNG) der Bundesregierung statt. Dass für dieses Thema – inklusive zweier Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken zum Thema und gegen das PNG – gerade mal drei Stunden angesetzt waren, mag ja noch angehen. Bemerkenswert ist immerhin dass von 62 eingeladenen Verbänden gerade mal 12 schriftliche Stellungnahmen eingereicht wurden – was entweder einiges aussagt über deren Vertrauen in den Gang der parlamentarischen Entscheidungsfindung bzw. deren Einschätzung von der Qualität des Gesetzentwurfes der Bundesregierung oder über die Bedeutung, die sie dem Thema beimessen. Dass eine Woche vor Anhörungsbeginn bei den von den Fraktionen benannten Einzelsachverständigen N.N. bei weitem dominierte und lediglich 2 zwei Einzelsachverständige tatsächlich benannt werden konnten (beide bemerkenswerterweise von der Universität Bremen), ist jedenfalls ein beachtlicher Ausdruck davon wie weit entfernt voneinander Sachverstand und Politik in Sachen Pflege sind.
Von den Stellungnahmen besonders aufschlussreich erscheint mir die des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, gerade weil der als gemeinsames Forum von Kommunen, Bundesländern und Wohlfahrtsorganisationen bislang keineswegs als besonders umstürzlerische Vereinigung aufgefallen wäre (und das knappe und mir gar nicht so sympathische Plädoyer für die Bedeutung der stationären Pflege unterstreicht das). Der Deutsche Verein macht aber in seiner zurückhaltend-bürokratischen Art zugleich außerordentlich deutlich, dass das Pflegeneuausrichtungsgesetz, soweit es überhaupt etwas ausrichtet, nicht einfach nur unzureichend ist, sondern in die falsche Richtung geht. Die neuen Leistungen, die ein bißchen an der strukturellen Benachteiligung von Menschen mit dementiellen Erkrankungen und geistigen Behinderungen herumflicken sollen, führen nämlich nicht dazu, dass das System verbessert wird, sondern dazu, dass eine weitere Zersplitterung von Pflege stattfindet. Das Ergebnis ist: ein neuer Pflegebegriff – der meiner Meinung nach, das Konzept der Assistenz in den Mittelpunkt rücken muss – rückt damit nicht näher, sondern weiter weg. Der sogenannte verrichtungsbezogene Pflegebegriff, der das SGB XI prägt, und der einzelne Verrichtungen, nicht dagegen die Bedürfnisse des Menschen in den Mittelpunkt rückt, ist aber nach ganz übereinstimmender Auffassung ein Hauptproblem des gegenwärtigen Pflegenotstandes, der anders als andere Notstandssituationen, routiniert als normaler Alltag genommen wird (das zweite grundlegende Problem ist noch gewichtiger: Pflege wird durch die Pflegeversicherung nur im Rahmen von pauschalen Zuschüssen übernommen, ein erheblicher Teil des Bedarfs bleibt systematisch ungedeckt). Dabei hat fast jeder irgendeinen Menschen, der Pflege benötigt in der Familie und die meisten sind mit den Möglichkeiten und der Qualität der Versorgung und Unterstützung, die hier gewährleistet wird, unzufrieden. Die Menschen kennen also die Mängel des Systems, erleben sie selbst – und trotzdem kann es sich die Regierungskoalition und kann es sich ein Fachminister wie Herr Bahr leisten, hier Maßnahmen zu präsentieren, die allenfalls Scheinlösungen sind, wenn sie die Lage nicht sogar verschlechtern.
Das Thema „Pflege“ hat also vielleicht gesellschaftliche Brisanz, es wird aber selbst von vielen Betroffenen nicht als Thema wahrgenommen und behandelt, an dem sich grundlegende Fähigkeiten der Politik beweisen müssen. Solange das so bleibt, so lange „Pflege“ ein Thema ist, dessen Emotionalitätswert weit hinter dem Urheberrechtsschutz im Internet, Sterbehilfe und Terrorismus aller Art zurückbleibt, wird sich hier nichts Grundlegendes ändern – warum auch?! Die Pflegeexperten allein sind dazu jedenfalls nicht in der Lage und diejenigen, die in so hohem Maße einen Assistenzbedarf haben, dass sie sich die gegenwärtige Lage nicht wirklich leisten können, weil sie ihre Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben gravierend beschneidet, auch nicht.
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Vielleicht wagt es niemand...
Vielleicht wagt es niemand öffentlich auszusprechen, dass durch die Überalterung der Gesellschaft es bald einmal offensichtlich wird, dass eine sachgerechte Pflege der Alten ausserhalb der Familie nicht finanzierbar ist?
Vielen Dank für die kritische...
Vielen Dank für die kritische Bewertung, wie in Deutschland mit dem Thema (häusliche) Pflege umgegangen wird.
Ich kann nicht mit Ihnen übereinstimmen, dass „Pflege“ von den Betroffenen nicht als Thema wahrgenommen wird – im Gegenteil: für die Betroffenen und die pflegenden Angehörigen ist Pflege und Pflegebedürftigkeit lebensbestimmend. Die Betroffenen und ihre Angehörigen haben nur leider nicht die Kraft, auch noch auf politischer Ebene laut und vernehmlich auf ihre Belange aufmerksam zu machen. An zu vielen Stellen müssen sie um jede Kleinigkeit diskutieren und sich gesetzlich verankerte Rechte erstreiten. Während beruflich Pflegende den Beruf wechseln können, wenn der Frust zu groß wird, können dies pflegende Angehörige nicht. Sie müssen weitermachen – ob sie wollen/können oder nicht. Schließlich ist es ein Familienmitglied, dass auf ihre Hilfe und Pflege angewiesen ist.
Es stimmt traurig, dass nur so wenige Experten von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, ihr Statement abzugeben und ihre Anwesenheit bei der Anhörung nach der „Kosten-Nutzen-Bewertung“ anscheinend als obsolet (oder wirkungslos?) angesehen haben.
Man kann schon den Eindruck bekommen, dass hier von „der Politik“ auf eine wirkliche Beteiligung nicht viel Wert gelegt wird. Auch wir haben aus Sicht pflegebedürftiger Kinder, Jugendlicher und ihrer Angehörigen eine Stellungnahme abgegeben (https://www.kinderpflegenetzwerk.de/stellungnahme-png/) und an jeweils zwei ParteienvertreterInnen im Gesundheitsausschuss und an alle VertreterInnen der Kinderkommission verschickt. Nicht EINE! Antwort haben wir erhalten. Was bleibt einem dazu noch zu sagen …?!
Claudia Groth
1. Vorsitzende
Kinder Pflege Netzwerk e.V.
Eine Gesellschaft sollte sich...
Eine Gesellschaft sollte sich daran messen lassen, wie sie mit den Menschen umgeht, die im wirtschaftpolitischen Sinne nicht „produktiv“ sind – noch nicht – oder nicht mehr! Wer denkt an die Familien mit den (schwerst)pflegebedürftigen Kinder? Wer denkt an die (jungen) Menschen, die wegen ihrer sogenannten geistigen Behinderung Begleitung benötigen? #milieugestütztes wohnen # assiatenzmodell etc.
Solange die Politiker ANGST vor Behinderung, vor dem Alter, seinen Bgégleiterscheinungen und vor Bedürftigkeit haben – und so lange monetäre Interessen (verdienen an Pflegeversicherung etc) vorrangig sind, brauchen wir auf eine konstruktive, respektvolle Lösung wohl nicht zu hoffen.