Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist auch für Überraschungen gut. Ich war mir sicher, dass er in dem Sterbehilfeverfahren Koch v. BRD. die Klage zurückweisen wird, weil nach seiner üblichen Rechtsprechung in diesen Fällen er entscheiden würde: In ethisch heiklen Fragen wir Sterbehilfe haben die europäischen Staaten erhebliche Entscheidungsspielräume. Denkste. Oder zumindest: Ein bißchen denkste! Stattdessen muss die Bundesrepublik Deutschland jetzt 2500 EUR Ersatz für immaterielle Schäden an Herrn Koch zahlen und knapp 26.000 EUR für Gerichts- und Anwaltskosten. Gewonnen hat der Kläger aber dennoch nicht. Die sieben Richter der Kleinen Kammer, zu denen auch die frühere deutsche Verfassungsrichterin Renate Jäger gehört, haben dem Kläger in der entscheidenden Frage aber dennoch nicht recht gegeben: Es ging um die Entscheidung des Bundesinstitutes für Arzneimittel, der nach einem Unfall schwerbehinderten und kümstlich beatmeten Frau keinen Anspruch auf Abgabe von 15 g Natrium-Pentobarbital zum Zwecke der Durchführung ihres Suizids zu gewähren, weil nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 5 Abs. 1 Nr. 6 Betäubungsmittelgesetz Betäubungsmittel nur zum Zwecke der notwendigen medizinischen Versorgung der Bevölkerung abgegeben werden dürften, worunter nur lebenserhaltende oder lebensfördernde, nicht jedoch lebensvernichtende Anwendungen verstanden werden könnten. .Diese Entscheidung, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, müssten deutsche Gerichte überprüfen. Sie hätten sie aber auch überprüfen müssen – und nicht, wie bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht geschehen – die Klage des Witwers wegen fehlender Klagebefugnis abweisen dürfen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte am 22. Juli 2007 entschieden die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig:
Für die Berufung auf Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG fehlt dem Beschwerdeführer die Beschwerdebefugnis. Bereits das Oberverwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt, dass aus dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Familie kein Recht auf Beendigung der ehelichen Gemeinschaft durch Suizid eines Ehepartners folgt.
Diese Sichtweise hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für zu eng. Weil der Witwer so lange mit der Frau zusammengelebt und sie bei ihrem Suizid unterstützt hat, nimmt es an, dass auch der Witwer selbst einen Anspruch darauf hat, zu erfahren, ob die Verwaltungsentscheidung nun rechtmäßig oder unrechtmäßig war. Das ist eine nachvollziehbare, wenngleich vielleicht nicht zwingende Auffassung. Der Deutschen Hospizstiftung, die nicht im Verdacht steht, den assistierten Suizid vorantreiben zu wollen, hat die Entscheidung jedenfalls gefallen. In einer Pressemitteilung teilt sie justizkritisch mit:
„Die Praxis deutscher Obergerichte grundsätzlich erst einmal Argumente zu suchen, um eine Zulässigkeit zu verneinen, hat heute eine schwere Niederlage erleiden müssen. Das Urteil besagt ganz deutlich, dass Deutschland sich nicht länger vor der Verantwortung drücken darf, eine klare Position zum assistierten Suizid zu beziehen. Organisierte Sterbehelfer können hierzulande ihr politisches Süppchen, gewürzt mit Halbwahrheiten, weiter kochen, während Bundestag und Justiz eine Antwort auf die Fragen, wie in Deutschland mit dem assistieren Suizid umgegangen werden soll, seit Jahren vor sich herschieben. Aussitzen kann keine Lösung sein. Obergerichte und Politik lassen damit die schwerstkranken Menschen im Stich. Denn die Sterbehelfer werden wieder einen leidenden Menschen finden, der den Schweizer Tod wählt. Doch: Schwerstkranke Menschen müssen weder in die Schweiz fahren, noch benötigen sie die Erlaubnis für ein tödliches Gift. Die bereits rechtlich vorhandenen Möglichkeiten, wie beispielsweise die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen und die Inanspruchnahme der Palliativmedizin, sollten stärker genutzt werden. Wenn nur zehn Prozent der sterbenden Menschen dieses hospizliche Angebot tatsächlich erhalten, ist ein Ausbau der menschenwürdigen Sterbebegleitung dringend erforderlich. “
Dass die Entscheidung den Humanistischen Verband dagegen etwas betrübt zuücklassen wird hatte ich erwartet. Der rügt:„Vor dem EGMR wurde immerhin ein Teilerfolg erzielt, indem die Ignoranz der deutschen Gerichte gerügt wurde. Wir bedauern allerdings, dass sich der Gerichtshof nicht zur Frage der Zulassung von Natriumpentobarbital geäußert hat“, so Erwin Kress, Vize-Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands. „Wir sind der Meinung, dass das Bundesamt für Arzneimittel die Verschreibung von Natriumpentobarbital in bestimmten Fällen zulassen sollte.“
„Es kann nicht sein, dass Deutschland Suizidwillige im Stich lässt. Diese Menschen werden von unserem Staat in ihrer Not allein gelassen. Was ist mit denen, die nicht über genügend Mobilität, ein unterstützendes Umfeld und genügend finanzielle Mittel verfügen, um eine professionelle Sterbehilfeorganisation in Anspruch zu nehmen?“
Ob die Entscheidung dazu führt, dass die Regierung und Obergerichte nun die Palliativmedizin und die Hospizversorgung weiter ausbauen oder Natriumpentobarbital künftig allen, die sich keine Sterbevilla im Tessin leisten können, in Deutschland zu Verfügung stellen lassen wird, erscheint fraglich. Wahrscheinlich stärkt das Urteilrechtlich im Ergebnis künftig mehr die Rechte von Hinterbliebenen bei der Durchsetzung irgendwelcher Ansprüche, als dass sie die Debatte um Sterbehilfe und assistierten Suizid voranbringt. Aber das muss ja auch nicht sein.
Der Kläger hat jetzt wenigstens sein Geld zurück. Was er eigentlich wollte, könnte er nun erneut versuchen vor den deutschen Gerichten zu erstreiten.„In jedem Fall werden wir die Sache weiterverfolgen“, teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers diesem Blog hier mit. Allerdings ist die Entscheidung noch nicht gefallen, auf welchem Weg das erfolgen soll, eine Tendenz gehe allerdings dahin, die Entscheidung durch die Große Kammer des EGMR überprüfen zu lassen.
Damit ist auch noch nicht klar, ob diese Entscheidung des EGMR überhaupt rechtskräftig wird: Die Bundesrepublik hätte die Möglichkeit Beschwerde bei der Großen Kammer dagegen einzulegen. Aber auch der Kläger selbst könnte die Große Kammer anrufen, da er ja nicht bekommen hat, was er wollte. Dann wird der Rechtsstreit auf Europaebene, zu dem bereits Dignitas und die Aktion Lebensrecht für alle als interessierte Dritte Stellungnahmen abgegebenem haben, voraussichtlich weitere Jahre benötigen…..
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Nun - dass eine bahnbrechende...
Nun – dass eine bahnbrechende Entscheidung gefällt werden würde, stand m.E. ohnehin nicht zu erwarten an. Die Sterbehilfe-Aktivisten sind freilich enttäuscht, während andere Lebensschützer-Fraktionen frohlocken.
Sei es drum. Hierzulande wird die Debatte insbesondere über die ärztliche Suizidassistenz weiter zu führen sein, zumal nicht alle Diskutanten zum Kreis derjenigen zu zählen sind, die ein „Süppchen, gewürzt mit Halbwahrheiten“ zu kochen beabsichtigen. In solchen Statements spiegelt sich ein Zynismus wider, der schon manchmal einem die Sprache verschlagen kann und eigentlich beschämend ist. Ethische Gesinnungstäter sind nicht im Ansatz gewillt, den rechtsethischen Grundstandard unseres Grundgesetzes zu reflektieren und da scheint es allemal lohnenswert zu sein, eben auch für die Rechte der schwersterkrankten und sterbenden Menschen am Ende ihres Lebens einzutreten und zu kämpfen, und zwar ohne das der Patient sich in den Dienst der Palliativmedizin zu stellen hat.
Die Deutsche Hospiz Stiftung wird sich den Vorwurf gefallen müssen, ebenso wie andere „Überzeugungstäter“ den Sterbehilfetourismus zu befördern. Wem wir auch immer danken wollen: die Reisefreiheit bleibt (hoffentlich!) uns allen erhalten, damit wir in einzelnen europäischen Nachbarländern unser existentielles Recht auf einen frei und selbstbestimmten Tod wahrnehmen können.
Der parlamentarische Gesetzgeber bleibt aufgerufen, endlich dem Spuk ein Ende zu bereiten und eine Liberalisierung der Sterbehilferegelungen anzustreben. Er sähe sich ganz im Einklang mit der Mehrheitsmeinung des deutschen Staatsvolkes, dass offensichtlich über einer höheres Maß an Toleranz in ethischen Grundsatzdebatten verfügt, als die vermeintlichen Experten!
Dies ist wahrlich die...
Dies ist wahrlich die eigentliche Botschaft des Urteils, dass auch Deutschland die Entscheidung über die Sterbe(bei)hilfe nicht auf Europa abschieben kann. Es ist Zeit für ein klares gesetzliches Nein zur Suzidbeihilfe und den Organisationen, welche auch auf deutschem Boden gerne Sterbewilligen „helfen“, wenn nur der geforderte Betrag von bis zu einigen tausend Euro gezahlt wird. Und zum Thema Palliativmedizin, hier ein Interview eines Arztes, der sich damit auskennt: https://www.landeszeitung.de/lokales/lueneburg/news/artikel/nein-zu-aktiver-sterbehilfe/. Hier ist wohl weniger von Rechten, dafür mehr von echter Hilfe für Schwerkranke und Sterbende die Rede.
Wie wird es weitergehen? Die...
Wie wird es weitergehen? Die freiwillige Euthanasie, manche sagen auch Euthanazi, steht ja, zumal im Zeichen der angelaufenen Biogenetikwelle, weit oben im Programm und bei weitem nicht nur in den Computerprogrammen mit ihrem vollautomatischen Effizienzversprechen. Es wirft ein böses Licht auf eine Gesellschaft, die sich mit der freiwilligen Zustimmung ihrer Mörder und Opfer in Sachen Lebensverkürzung brüsten darf. Besteht doch eine Gesellschaft aus gesellschaftlichen Wesen. Eine Gesellschaft aber, die zwischen Wesen und Verwesung nicht mehr unterscheiden kann, muß wohl im Ganzen ziemlich tot sein. Friede ihrer Asche? Auch dies bleibt, neben vielem anderen, eine offene Frage an die Zukunft und an jeden Einzelnen; denn was heute noch als verwissenschaftlichtes Anekdotenrankenwerk um so manchen Suizid erscheint, oder als Dunkelziffer, weil es nicht einmal in eine halbwegs anständige Statistik eingeht, ist ein Massenschicksal, um nicht zu sagen: Klassenschicksal, das heißt, ein von Ärztehand beschertes und in völliger Verblendung und Arzthörigkeit obendrein von den Betroffenen auch noch „gut“ und „gesund“ geheißenes Schicksal.
Mehr dazu findet man unter dem Stichwort:
EuthaNAZI, heute?
Nein, eine Gegenposition aus...
Nein, eine Gegenposition aus ganz und gar NICHTINHUMANEN Gründen:
Der (humane,nicht quälende) Freitod – sicherlich immer in individuell furchtbarer Situation erwogen, bei materiellem Wohlergehen und „Sonnenschein“ will niemand die „Reise antreten“- MUSS zum Recht von JEDERMANN werden.
Es ist pervers, mit vorgeblichem Hinweis auf Verbrechen in der Vergangenheit und Gegenwart,gar einer negierten deutschen Spezialverantwortung (sonst müssten alle „Verbieter“ z.B. Holland boykottieren wenn sie konsequent sein wollen und wahrhaftig) den kommoden Abgang ,den humanen Freitod, abhängig machen wollen von der SOZIALEN (also materiellen) SITUATION des oder der Betroffenen. Eine ekelhafte Heuchelei ist Standard!
Gunther Sachs konnte sich ehrenhaft und altmodisch-ritterlich wie ein geschlagener aber ehrenhafter Feldherr per Pistolenschuß auf die Reise machen-weil er als Milliardär NATÜRLICH das Recht hatte, eine Waffe in der Schublade zu haben!
Mittlere Herrschaften fahren derzeit in die Schweiz und lachen auf Videos noch bevor sie ihren TEUREN ,aber für sie bezahlbaren , Schierlingsbecher leeren.
Nur die im Leben armen Menschen, ausgebeutet und gepeinigt, müssen auch im Tode leiden, man nötigt ihnen das schwere Sterben oder Dahinvergetieren,quasi wie in dumpfer Gefangenschaft beim Feind (etwaig gar „Klassenfeind“bei Denkenden),zu .
Das kann nicht hingenommen werden. Beim Aufbruch zur langen Reise muss jeder das Recht haben,auch Minderbemittelte, ohne Bettelei und Bürokratiebittstellerei (das muß man sich vorstellen: von Bürokratie gegängelte müssen gar ihren Tod BEANTRAGEN und auf wohlwollende Genehmigung HOFFEN. Perverser geht es nimmer!) die humanen Mittel ausgehändigt zu bekommen, die einen kommoden Reiseantritt ermöglichen.
Und da gibt es kein Vertun! Das ist keine Ethikfrage (hinter der sich heuchelnd die Priviligierten verstecken) -sondern eine knallharte Klassenfrage!