Biopolitik

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Bekommen Privatpatienten schneller ein neues Organ?

| 10 Lesermeinungen

Es gibt starke Hinweise darauf, Privatpatienten bei der Zuteilung von Organen bevorzugt werden. 6.9 Prozent der Patienten auf der Warteliste für eine neue...

Es gibt starke Hinweise darauf, Privatpatienten bei der Zuteilung von Organen bevorzugt werden. 6.9 Prozent der Patienten auf der Warteliste für eine neue Lunge sind privat versichert. Von denen, die das neue Organ bekommen, sind aber 9,5 Prozent privat versichert. Damit ist der Anteil der Privatpatienten, die das Organ erhalten,  erheblich höher als der Anteil auf der Warteliste. Bei Leber, Lunge und Pankreas liegen die Daten ähnlich. Nur bei Herz und Niere sind die Abweichungen nach oben niedriger (auch dort sind es aber stets Abweichungen nach oben).

Wer Antworten haben will, muss erst einmal eine Frage stellen.  Das klingt banal. Aber ist es nicht. Denn nur auf gute Fragen gibt es auch gute Antworten. Harald Terpe, selbst Mediziner und Gesundheitsexperte der Grünen, geht in Sache Transplantationsmedizin schon seit längerem eigene Wege. Nicht weil er  Gegner der Transplantationsmedizin wäre, aber weil er deren Praxis in Deutschland bedenklich findet. Dass es dafür gute Gründe gibt, wurde noch vor einem halben Jahr allerorten vehement bestritten. Mittlerweile gilt es genauso selbstverständlich als völlig anerkannt. Wie sich innerhalb weniger Monate dieser Perspektiv- und Ansichtswechsel vollzogen hat, ist eines der kleineren Geheimnisse der gegenwärtigen Debatte – kaum jemand spricht gerne darüber, wie vertrauensselig man Warnhinweise und konkrete Fakten in der Vergangenheit übergangen hat.

Gleichzeitig wird aber auch noch von den meisten Offiziellen insbesondere dem Bundesgesundheitsminister so getan, als ob sich alle Fragen problemlos beantworten und alle Missstände ohne an den Festen des Systems zu rütteln beseitigen ließen. Das dürfte aber kaum zutreffen.  

Die Frage nach dem Verhältnis von Privatversicherten auf der Wartelist zu privatversicherten Organempfängern, die Harald Terpe gestellt hat und auf die er auf der Basis von Zahlen von Eurotransplant erste Antworten gegeben konnte, zieht weitere drängende Fragen nach sich.

Die Kernfrage ist: Werden Privatpatienten als Organempfänger bevorzugt? Schon dass kein Gesundheitspolitiker diese Frage bislang niemand so klar und deutlich gestellt hat, ist an sich bemerkenswert. Kaum ein Zweig der Medizin ist angesichts der knappen Ressource Organe so klar und deutlich mit ökonomischen Überlegungen verknüpft, wie die Transplantationsmedizin. Selbst das Gesetz erkennt das an, indem es den Organhandel unter Strafe stellt. Was liegt näher, als Patienten mit denen mehr Geld verdient werden kann, bei der Organvergabe zu bevorzugen?

Das Gesundheitssystem in Deutschland hält sich viel auf den hohen Versorgungstandard gerade bei gesetzlich Versicherten – und tatsächlich gibt es einige Bereiche, in denen gesetzlich Versicherte mindestens gleich, wenn nicht sogar besser behandelt werden als Privatpatienten. Im Bereich der Transplantationsmedizin – und hier insbesondere bei den neueren und komplizierteren Transplantationsmethoden – stellt sich die Situation anders dar. Harald Terpe konnte nur mit Wartelistenzahlen von Mitte 2012 und Transplantationszahlen von 2011 arbeiten – andere Daten hat er nicht bekommen. Diese Daten müssen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden – genauso übrigens wie die Angaben darüber, was Trasnplantationsmediziner und Kliniken mit Eingriffen bei Privatpatienten verdienen und was mit Eingriffen bei gesetzlich Versicherten. Dann wird es darum gehen müssen, wie das System der Transplantationsmedizin so umstrukturiert wird, dass ökonomische Anreize, die Fehlsteuerungen zur Folge haben können, möglichst konsequent ausgeschlossen werden. Die Öffentlichkeit will Angaben darüber haben, was für Patienten es sind, die hier als „nicht gesetzlich Versicherte“ in der Statistik geführt werden. Sind es alles privat Versicherte? Oder sind es Menschen, die gar keiner Versicherung bedürfen, weil sie ihre Behandlungskosten direkt selbst bezahlen? Sind die Daten in allen Kliniken ähnlich – oder gibt es hier Unterschiede? Die Debatte über die Transplantationsmedizin und ihre Verteilungskriterien, sowie über die Möglichkeiten Transparenz zu schaffen steht erst am Anfang. Sie sollte in der nächsten Zeit ein wenig an Tempo gewinnen……

 

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10 Lesermeinungen

  1. ThorHa sagt:

    Völlig selbstverständlich...
    Völlig selbstverständlich ist die Forderung nach vollständiger Transparenz und umfassender Kontrolle in einem Umfeld, in dem starke ökonomische Interessen mit starken persönlichen interagieren und gegebenenfalls kollidieren. Wenn das bisher nicht selbstverständlich ist, haben Verantwortliche das bewusst ausgeblendet.
    Allerdings wird sich auch bei Kontrolle und Transparenz nicht annähernd Gerechtigkeit einstellen können, wenn man durch Regeln und Kontrolle „natürliche“ Ungleichgewichte unterdrücken muss. Die sich bei einem gleich starken persönlichen Interesse und unterschiedlichen finanziellen Voraussetzungen immer dann ergeben, wenn das gewollte Gut knapp ist (hier: Organe).
    Wirklich beseitigen kann man Ungerechtigkeiten in einem solchen Fall erst dann, wenn das Gut nicht mehr knapp ist (hier: Organe gezüchtet werden können). Das ist kein Aufruf zur Untätigkeit, nur einer zu Realismus.
    Gruss,
    Thorsten Haupts

  2. P. Seudonym sagt:

    Die Frage lässt sich m.E....
    Die Frage lässt sich m.E. nicht durch eine einfache Korrelation der genannten Faktoren “ Anteil der Privatpatienten, die das Organ erhalten“ & „Anteil [der Privatpatienten] auf der Warteliste“ beantworten. Vielmehr bedarf es dabei einer kritischen Betrachtung weiterer Kausalitäten. Womöglich haben Privatpatienten im Hinblick auf die bestehenden Verteilungskriterien Eigenschaften, welche sie systematisch bei der Zuteilung im Sinne einer effizienten Verteilung zur Verfügung stehender Organe bevorteilt ?

  3. tolmein sagt:

    @seudonym: das sehe ich auch...
    @seudonym: das sehe ich auch so. aber die korrelation liefert Hinweise darauf, dass es da Klärungsbedarf gibt. Den müssten dann die befriedigen, die die Daten haben, nicht die, die die Fragen stellen…..

  4. Sehr guter Artikel. Allerdings...
    Sehr guter Artikel. Allerdings sollte man das Übel an der Wurzel packen. Jeder Bundesbürger mit ausreichendem Einkommen sollte in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen müssen. Private Krankenversicherungen würden obsolet. Jeder hat das gleiche Recht auf die bestmögliche medizinische Versorgung. Die Leistungsfähigen sorgen für die Schwachen. Das ganze nennt man Wohlfahrtsstaat. Traurig, dass diese Idee heute utopisch anmutet.

  5. ThorHa sagt:

    @Esposito:

    Staun. Das gibt es...
    @Esposito:
    Staun. Das gibt es bereits. Z.B. in Grossbritannien und in der Schweiz. Und – oh Wunder, oh Entsetzen – in beiden Ländern hat man trotzdem medizinische Leistungen rationiert. Mit dem Ergebnis, dass die medizinische Versorgung über eine Grundversorgung hinaus schon wieder vom Einkommen abhängt.
    Traurig, dass diese Fakten heute niemand mehr wissen will.
    Gruss,
    Thorsten Haupts

  6. Richtig sagt:

    Guter Artikel. Und gute...
    Guter Artikel. Und gute Kommentare. Ausschliesslich gute, gedankenvolle Kommentare.
    Mehr Transparenz muss sein. Es besteht Klärungsbedarf.
    Indes das Problem: Solange die Nachfrage (an Organen) groesser ist als das Angebot, müssen Kriterien für die Zuteilung bestimmt werden und ebendies ist m.E. letztendlich unmöglich. Alter/ Jugend, Lebenserwartung, Rejektionswahrscheinlichkeit?

  7. bonamikengue sagt:

    @ThorHa:

    In der Schweiz...
    @ThorHa:
    In der Schweiz stimmt das nicht. Die Schweiz kennt nur private Krankenversicherungen die aber – ähnlich Obamas Modell in den USA – jeden versichern MÜSSEN (in der Mindestversicherung), aber auch jeder Einwohner MUSS eine Mindestversicherung haben.
    Ein 40 jähriger zahlt für die Minimalversicherung bei 1000 Franken Selbstbeteiligung im Jahr ca 240 Franken im Monat. Alles darüber geht mit Eingangsuntersuchungen und Risikoabschätzungen individuell, z.B. auch die freie Krankenhauswahl.
    Es ist ein rein privates Modell mit einer staatlichen Regulierung.
    Der deutsche Privatversicherungs-Mini-Grundtarif ist deutlich teurer und unattraktiver.
    Rationiert ist hier gar nichts, allerdings müssen Wenigverdiener den Selbstbehalt deutlich nach oben schauben um sich die Prämien noch leisten zu können. Die ersten Arztbesuche zahlt man also erst einmal selber.

  8. ThorHa sagt:

    @bonamikengue:

    Dann wissen...
    @bonamikengue:
    Dann wissen Sie mehr als ich (und wikipedia et al.):
    „Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich ist der kassenpflichtige Leistungskatalog in der Schweiz weniger umfassend. Dies gilt insbesondere für die Zahnmedizin und die Altenpflege. Bei ärztlichen Leistungen kennt das KVG einen offenen Leistungskatalog, d. h. es existiert kein abschliessend definierter Leistungskatalog (keine Positivliste). Das KVG verlangt aber, dass die von Ärzten erbrachten Leistungen „ wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich“ sind. Bestehen Zweifel bezüglich einer neuen oder umstrittenen Leistung, wird sie durch die Eidgenössische Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen (Leistungs- und Grundsatzkommission ELGK) geprüft. Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) legt dann fest, ob die geprüfte Leistung kassenpflichtig ist. Positivlisten sind dagegen für die übrigen Leistungen definiert.“
    https://de.wikipedia.org/wiki/Krankenversicherungsgesetz
    „Die obligatorische Krankenversicherung in der Schweiz bietet den Versicherten
    medizinische Leistungen, die nach dem Krankenversicherungsgesetz (KVG)162
    wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen. Darüber hinaus muss die
    Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein (Art. 32
    KVG). Eine Überprüfung der Leistungen des Leistungskatalogs hat periodisch zu
    erfolgen, damit diejenigen Leistungen aus dem Katalog gestrichen werden können,
    deren Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht mehr aktualisierbar
    sind. Nach dem Gesetz gelten alle Leistungen, die nicht diesen drei (allgemeinen)
    Kriterien genügen als Komfort- bzw. Zusatzleistungen, die der Versicherte
    durch eine freiwillige Zusatzversicherung oder direkte Bezahlung bei dem
    Leistungserbringer erwerben kann.163 Im KVG sind die Leistungen – ähnlich wie im
    SGB V – nur in sehr allgemeiner Form definiert (Art. 25-31 KVG). Leistungen wie
    konventionelle Zahnbehandlungen bei Karies,Zahnextraktionen oder Korrekturen
    von Zahnstellungen (beispielsweise Zahnspangen bei Kindern) werden nicht innerhalb
    der obligatorischen Krankenversicherung vergütet. Gleiches gilt für die
    künstliche Befruchtung, die Empfängnisverhütung, die nicht-ärztliche Psychotherapie
    und die Kosten einer Haushaltshilfe. Im Bereich der ärztlichen Leistungen ist
    hervorzuheben, dass keine Kosten für Maßnahmen in der Fortpflanzungsmedizin
    (In-vitro-Fertilisation) und bei erektiler Dysfunktion von den Krankenversicherern“
    https://www.boeckler.de/pdf/p_edition_hbs_108.pdf
    Die Leistungen sind also rationiert, nur anders als in Deutschland (wo intransparent, nichtöffentlich und indirekt rationiert wird).
    Ganz nebenbei explodieren auch in der Schweiz deit Jahren die Kosten, gemessen am Vergleich des jährlichen Anstieges der Gesundheitsausgaben mit dem Zuwachs des BSP. Der Hauptgrund der gleiche wie in Deutschland und überall sonst – immer mehr Menschen werden immer älter.
    Gruss,
    Thorsten Haupts

  9. Satisfaktion sagt:

    Göttingen - eine neue...
    Göttingen – eine neue Dimension in der Beschaffungskriminalität
    Der PKV – Verbandsdirektor Dr. Volker Leienbach versuchte gleich am Anfang des neuen Jahres GKV – Patienten durch sehr gute Nachsorgebedingungen und Übernahme des Lohnkostenausfalls zur Lebendspende für PKV – Patienten zu gewinnen.Das ist durch das neue Transplantationsgesetz ( TPG ) nun möglich geworden – Fremdspende gegen Bezahlung = Organhandel.
    Am 01.November 2012 tritt nun formal das neue TPG in Kraft, obwohl es in der Bevölkerung auf mehrheitliche Ablehnung stößt. Ein Volksentscheid würde sofort den Beweis erbringen, aber in Deutschland duldet man keine plebizitären Entscheidungen – in diesem besonderen Fall aus gutem Grund.
    Mit dem neuen TPG sind wir zugleich in ein neues Zeitalter eingetreten, denn es gibt zwar keinen gesetzlichen Anspruch auf den Körper eines Menschen zum Zwecke der Organgewinnung, sondern nur eine ungesetzliche Aneignung zum Nachteil des Patienten. Ich lasse mir natürlich gern erklären, welche Schutz – und Kontrollmechanismen bei einem alleinstehenden Menschen greifen, wenn er kein Organspender sein will. Oder ist es eher so, daß es der freien Entscheidung der Ärzteschaft überlassen bleibt. Ich dachte immer der Stellvertreter Gottes auf Erden ist der Papst. Das neue TPG erweckt aber den Anschein, als hätten sich die Kompetenzen verlagert.
    Der Arzt als karrieregeiler, gewinnsüchtiger Unternehmer ist mir zutiefst zuwider. Ich werde mir auf keinen Fall für die internationale „High Cociety“ das Fell über die Ohren ziehen lassen. Von den 12000 wartenden Empfängern gehört jedenfalls keiner zur „Feinen Gesellschaft“, sonst wären sie nicht in dieser mieslichen Lage. Natürlich wird auch mal ein minderwertiges Organ abfallen, das man den – horrende Summen zahlenden Käufern – nicht zumuten kann. Hoffentlich hat Göttingen und Co, geradezu als Lehrbeispiel, vielen Menschen die Augen geöffnet, denn die Transplantationsindustrie ist schon lange wieder zum Tagesgeschäft übergegangen. Sie tun, was sich schon immer bewährt hat: Das Setzen auf Zeit und die Vergeßlichkeit der Menschen.

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