Freitagabend, nach einem langen Tag im Büro und anstrengenden Verhandlungen über Kinderwagenreparaturen im Rahmen der Gewährleistung ist es eigentlich eine erfreuliche Perspektive sich zu Hause am Rechner niederlassen und in aller Ruhe für arte als Experte chatten zu können. Ich hätte zwar auch gerne mal über Skitouren oder Kindererziehung gechattet, aber da gelten andere als Experten. Also assistierter Suizid. „Clara geht für immer“, der Film zum Chat, hat mich in den ersten Minuten zugegebenermaßen etwas beunruhigt, weil ich befürchtete, dass nach der klaren Entscheidung der Protagonistin, sich statt für eine weitere Chemotherapie für den assistierten Suizid in der Schweiz zu entscheiden, nun eigentlich wenig zu erzählen übrig blieb. Ich fand die Entscheidung auch wenig reflektiert und wollte mich schon innerlich über erzählerische Einseitigkeit aufregen, aber das war voreilig. Es war gerade die Qualität des Filmes, sich auf das zu konzentrieren, was nach der Entscheidung für den assistierten Suizid kommt und vor dessen tatsächlicher Umsetzung: die Auseinandersetzungen mit Freunden, die Konflikte in der Familie, das Unverständnis mancher, aber auch die Verzweiflung der Betroffenen, wenn sie sehen, dass das Leben nach ihrem Tod geplant wird.
Die Zentrale der Schweizer Sterbehilfeorganisation bildet in dem Film mit ihrer klinischen Sterilität und der unangreifbaren, aber nicht wirklich empathischen Freundlichkeit einen deutlichen Kontrapunkt zum bisweilen chaotisch wirkenden, meist exzentrischen, vor allem aber emotional wenig abgeklärten Leben von Clara und ihrem Klan. Folgerichtig entscheidet sie sich auch gegen eine Suizidbegleitung an einem ihr angebotenen Ort, sie sucht sich ein Chalet mitten in den Bergen und reist dort mit fast der ganzen Familie an. In der Schlußszene wird deutlich, dass der Frei-Tod, der so frei nicht ist, weil er im wesentlichen eine Flucht, vor dem Tod an der Krankheit ist, seinen Preis hat: Der abrupte Übergang vom Leben in den Tod unter Auslassung des Sterbeprozesses ist zumindest für die Zurückbleibenden etwas anderes, als die Begleitung eines allmählichen Sterbens, das seinen Abschluss nicht in einer Entscheidung, sondern im Tod findet. So wie der Hirntod als normativ gesetzter Todeszeitpunkt für die, die den durchbluteten, noch atmenden Hirntoten sehen, keine Evidenz hat, erscheint auch der begleitete Suizid nicht als „natürlicher“ Tod (so problematisch dieser Begriff in Zeiten der umfassenden medizinischen Begleitung von Menschen am Lebensende auch ist), sondern eben als vorzeitig, als zu diesem Zeitpunkt willkürlich gewählt. Claras Familie stützt sie dennoch – überwiegend – in ihrer Entscheidung. Vor allem gilt das für ihren Sohn. Man merkt ihm aber auch ein Leiden an der Entscheidung seiner Mutter an.
Passenderweise wird gerade jetzt auch in den Medien über die Studie der Psychiaterin Birgit Wagner bekannt, die mit ihrem Team 85 Familienmitglieder oder enge Freunde von Sterbewilligen befragte, die vor 14 bis 24 Monaten einem assistierten Suizid durch die Organisation Exit beigewohnt haben. Das Resultat der nun im Fachblatt «European Psychiatry» abgedruckten Studie: 20 Prozent hatten eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), von denen bei zwei Dritteln die Symptome voll ausgeprägt waren. 16 Prozent hatten eine Depression und 5 Prozent litten immer noch unter starker Trauer wie in den ersten Monaten (eine sogenannte komplexe Trauerreaktion). Dazu trug allerdings nicht nur die Situation der Sterbebegleitung selbst bei, sondern auch die forensische Untersuchung durch Polizei, Ärzte und Staatsanwaltschaft, die in der Schweiz jedem Freitod zwingend folgt.
„Clara geht für immer“ wird noch zweimal ausgestrahlt: Montag 15. Oktober 2012 um 14.40 Uhr Mittwoch 24. Oktober um 01.25 Uhr
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Es gibt wesentlich besser...
Es gibt wesentlich besser Filme zu dem Thema…..
Die aufwendigste ist der Film „How to Die in Oregon (2011)„
https://www.imdb.com/title/tt1715802/
Sogar in einem Land in dem Kirchen leider einen so grossen Einfluss auf die Bürger haben, gibt es Staaten wie Oregon die ein Death with Dignity Gesetz verabschiedet haben.
Während der Film gedreht wurde, wurde im benachbarten Washington State ein identisches Gesetz verabschiedet und der ganze Prozess wird in dem Film dokumentiert.
Was soll man dazu sagen? Ich...
Was soll man dazu sagen? Ich glaube nicht, dass man sich selbst oder seinen Angehörigen durch einen vorzeitigen Suizid etwas erspart. Ich habe meine Mutter die letzten 9 Wochen Ihrer Krebskrankheit begleitet bis zum Schluss. Sie konnte die ganze letzte Woche nichts mehr essen und die letzten drei Tage auch nichts mehr trinken. Ist das Quälerei? Ich glaube nicht. Ich glaube, diese Zeit ist eine besondere Zeit für die Sterbenden, in der sie das ganze verarbeiten können. Die sie auch brauchen, damit ihre Seele Ruhe finden kann. War es für mich schlimm? Ja, schlimm war es schon, aber auch gut, es gibt einem Kraft, dass man auch sowas durchstehen kann, nicht davor flüchten muss. Über eine traumatische, psychische Störung kann ich mich nicht beklagen, eher im Gegenteil. Das Gefühl, dass man alles getan hat was ging und sie ein gutes Ende hatte, gibt einem einen gewissen inneren Frieden, den man sonst wohl nicht so leicht bekommt.
@Volland: "How to die in...
@Volland: „How to die in Oregon“ ist allerdings ein Dokumentarfilm und daher schlecht mit „Clara geht für immer“ zu vergleichen…. Oregon ist in vielfältiger Hinsicht ein besonderer US-Bundesstaat (hier starteten schon frühzeitig Versuche mit einer umfassenden, gesetzlichen Krankenabsicherung). Die Daten, die hier über die assistierten Suizide erhoben werden sind interessant: einerseits steigt die Zahl der Menschen, die assistierten Suizid in Anspruch nehmen stetig, gleichzeitig handelt es sich fast ausschließlich um Krebspatienten, von denen viele zudem eine Hospizversorgung erhalten, außerdem sind sie vergleichsweise alt und haben eine gute Ausbildung, sowie eine passable Krankenversicherung. Mehr Informationen: https://bit.ly/PLd0lk . Die Verhältnisse und Entwicklungen dort lassen sich aber nicht 1:1 auf die Verhältnisse in Deutschland übertragen. In Oregon hat es beispielsweise auch schon strafverfahren wegen unzureichender Schmerztherapie gegeben…
Lieber Herr Tolmein,
"Tod ohne...
Lieber Herr Tolmein,
„Tod ohne Sterben“ ist eine unfreiwillig schöne Formulierung. Genau den werde ich mir im Alter spendieren. Übergangslos von einem glücklichen Leben in die selige Nichtexistenz wechseln, das verstehe ich unter einem guten Ende.
Und ich bin sicher, dass diese Art des Sterbens (trotz Ihres kleinen Propaganda-Blogs) in 30 Jahren etwas völlig normales sein wird. Der Freitod wird dann auch wirklich „frei“ sein und nicht mehr zu Mondpreisen bei Dignitas gekauft werden müssen 🙂
@Meyer: So hat halt jeder...
@Meyer: So hat halt jeder seine Hoffnungen und Visionen….. schön wenigstens, dass Ihnen meine gar nicht „unfreiwillig“ getextete Formulierung gefällt….
@Martina 07. Oktober 2012,...
@Martina 07. Oktober 2012, 12:44
„Was soll man dazu sagen? Ich glaube nicht, dass man sich selbst oder seinen Angehörigen durch einen vorzeitigen Suizid etwas erspart.“
Danke, was hier fehlt war ein Beitrag der mal wirklich schonungslos die lächerlichen Argumentation der Gegenseite darlegt….
„.. dass man sich selbst … durch einen vorzeitigen Suizid etwas erspart.“
Klartext ist das, was in der Diskussion fehlt.
Damit wir uns nicht missverstehen, keiner hat etwas dagegen wenn sie sich lieber auf die Gnade ihres himmlischen Vaters verlassen wollen. Aber es geht bei der Diskussionen darum, ob die Masse der Mittelmässigen den anderen gesetzlich vorschreiben darf, dass Selber-Denkende gefälligts genauso zu leiden haben wie die Doofen.
Einizig und allein darum geht es!
„…dass man ….seinen Angehörigen durch einen vorzeitigen Suizid etwas erspart.“ Sie dürfen gerne jämmerlich krepieren, denn so sieht so etwas nämlich in der Realität aus, um ihren Angehörigen etwas zu ersparen, aber bleiben sie anderen vom Leibe.
@Oliver Tolmein 07. Oktober...
@Oliver Tolmein 07. Oktober 2012, 14:47
„How to die in Oregon“ ist allerdings ein Dokumentarfilm und daher schlecht mit „Clara geht für immer“ zu vergleichen….“
Richtig, der Film zeigt die Realität, und es wundert mich gar nicht dass er Menschen wie ihnen nicht gefällt!
Wie schon gesagt, es ist mir und anderen völlig egal was sie tun, denn es soll es ihnen völlig freistehen sich zu diesem Thema für das entscheiden zu können, das sie möchten.
Was mir und mehr und mehr anderen NICHT egal ist, ist dass Menschen mit einer mittlealterlichen Einstellung die Unverschämtheit haben anderen vorschreiben zu wollen, wie die zu leben und zu sterben haben.
@tylerdurdenvolland:...
@tylerdurdenvolland: Beeindruckend, was Sie als moderner Sterbehilfe-Diskussions-Hochbegabter so alles lesen: weder hat „Martina“, die sie hier mal so einfach den „Mittelmäßigen“ zuschlagen, etwas von „Himmlischem Vater“ geschrieben, noch habe ich „How to die in Oregon“ in irgendeiner Weise bewertet. Die Annahme, dass Dokumentarfilme die „Realität“ treffender zeigten, als Spielfilme scheint mir zwar ein naturalistischer Fehlschluss zu sein – aber das hat an sich mit der Debatte über Sterbehilfe und assistierten Suizid nichts zu tun und mit den beiden Filmen hier schon gar nicht. Im übrigen freue ich mich natürlich auf weitere Ihrer differenziert und empathisch argumentierenden Kommentare. Sehr belebend…..
Schön das Arte das Thema mal...
Schön das Arte das Thema mal wieder aufnimmt. Ich finde es schade das in Deutschland fast keine öffentliche Diskussion darüber stattfindet, wohingegen es in den (beinahe schon fundamentalistisch Christlichen) USA ein Dauerbrenner ist. Meiner Meinung nach ist der Verbot von Selbstmord nämlich einer der (leider vielen) Überbleibsel des Christentums in den Gesetzen.
Ich bin auch der Meinung das ein geistig klarer Mensch selbst entscheiden können sollte ob, wann, wo und wie er sterben will. Natürlich darf das keine Selbstmordzelle wie in Futurama sein, sondern vor Missbrauch geschützt und von mir aus auch mit einem Gespräch mit einem Psychologen vorher, aber es sollte möglich sein so einen Schritt legal und Menschenwürdig zu tun.
Nun - ob es wirklich die...
Nun – ob es wirklich die „Masse der Mittelmäßigen“ ist, die anderen Bürgerinnen und Bürgern etwas vorschreibt, wie diese zu denken und „zu leiden“ haben, steht durchaus zu hinterfragen an. Ist es nicht vielmehr eine kleine, handverlesene Elite von Ethikern und Moralisten, die da meinen, für uns alle die Kultur des Lebens entfalten zu müssen? Hierzulande ist – ebenso wie in den meisten anderen europäischen Nachbarländern – das Staatsvolk durchaus entschieden: es wünscht sich liberalere Sterbehilfe-Regelungen. Dokumentarfilm hin, Spielfilm her: der parlamentarische Gesetzgeber ist gefordert, zumal neben den Theologen insbesondere auch die verfasste Ärzteschaft in Gestalt hochrangiger Ärztefunktionäre meinen, unmittelbaren Einfluss auf die individuelle Gewissensentscheidung und dem Selbstbestimmungsrecht nehmen zu können.