An der Uni Jena gibt es eine psychologische Beratung von Studenten für Kommilitonen. Was zunächst wie eine semiprofessionelle Anmaßung klingt, erweist sich dank kluger Regeln als wirksames Hilfsmittel.
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In einer Cafeteria der Friedrich-Schiller-Universität Jena hängt ein grüner Briefkasten mit der Aufschrift „Flüsterbox“ an einem Pfeiler. Geflissentlich läuft man daran vorbei, schließlich hat man Vorlesungen, Seminare und Verabredungen fürs Mittagessen. Glücklicherweise bemerkt man den Briefkasten dann doch, wenn man stolpert, im Studium oder im Leben. Zu dem grünen Farbklecks am kargen Pfeiler gehört die noch viel grünere Homepage der CampusCouch – eine Initiative von zehn Jenaer PsychologiestudentInnen. Zwei Mitglieder der CampusCouch, Christina Kellermann und Dörte Leonie Keller, habe ich zum Gespräch getroffen, im Wintergarten des Instituts für Psychologie.
An einem relativ bewölkten Samstagnachmittag schlägt mir dort die sterile Nicht-Atmosphäre entgegen, die Unigebäuden fast schon pflichtschuldig anhaftet. Die Ausstrahlung des weißen Raumes klinisch zu nennen wäre wohl zu dramatisch, aber nur um ein Haar. Sollte sich jemals jemand ein Herz gefasst und den Raum mit Bildern und Postern dekoriert haben, so sind davon höchstens die durchsichtigen Klebestreifen an der Wand übrig geblieben und ein paar Spinnennetze. Glücklicherweise erwartete mich nicht das natürlich vollständig unrealistische, aber insgeheim trotzdem befürchtete Albtraumbild des abgeklärten Psychologen aus dem Fernsehen, das solche Räume im Normalfall bewohnt. Stattdessen gibt es eine freundliche Begrüßung und das gewohnte „Und was studierst Du so?“
Die CampusCouch, so sind sich Dörte und Christina einig, ist für beide eine Gelegenheit, das überwiegend theoretische Psychologiestudium mit etwas praktischer Erfahrung anzureichern. Methoden, die innerhalb des Studiums auf theoretischer Basis durchdrungen, aber höchstens innerhalb künstlicher Situationen an anderen Psychologiestudierenden erprobt werden konnten, stellten sich tatsächlich als nützliche Werkzeuge heraus, mit denen man helfen kann, setzt Christina hinzu. Das scheint die beiden am meisten zu freuen.
Die Initiative der CampusCouch existiert bereits seit 2010 in Jena. Die Gründungsmitglieder, die mittlerweile weitergezogen sind, haben einen Ableger nach Trier, mit dem Namen „CampusOhr“ und einen nach Magdeburg exportiert, der „Hängematte“ heißt. Hinter allen steht derselbe Anspruch: Von Studierenden für Studierende soll eine Gelegenheit geschaffen werden, sich den Frust von der Seele zu reden. Klar hat man Freunde, die einem mit Rat und Tat und wutentbrannten Tiraden auf den infantilen Exfreund zur Seite stehen, aber manchmal ist eben ein neutrales Ohr nötig, um den chaotischen Emotionshaushalt wieder in geordnete Bahnen zu zwingen. Niedrigschwellig soll das Angebot vor allem sein, erreichbar für alle. Studierende aller Fächer kommen zur CampusCouch, sogar das Geschlechterverhältnis ist ausgeglichen, sagt Dörte. Nur zum Ende des Studiums, wenn der Abschluss ansteht und damit auch die Entscheidung, wie es weiter geht, erleben die ZuhörerInnen eine kleine Spitze.
Der Kontakt mit der CampusCouch beginnt mit einem Brief in der Flüsterbox oder einer Mail, ganz informell. Schon hier kann man auf Papier bannen, was einen umtreibt. Ob eine Antwort kommt, hängt von den Wünschen des Briefschreibers ab. Manchmal reicht das wohl schon aus, andernfalls wird per Mail ein Treffen unter vier Augen vereinbart. So etwas wie ein Headquarter besitzt die CampusCouch nicht, man trifft sich stattdessen in einem beliebigen Café in der Jenaer Innenstadt oder geht im Park spazieren. Eine Stunde ist für ein Gespräch angesetzt. Die tatsächliche Dauer bestimmt aber der sogenannte Sprecher, eine neutrale Bezeichnung, die bei einer einmaligen Gesprächssituation unter Studierenden sinnvoller klingt als „Patient“.
Die Stärke der studentischen Hilfe
Am Anfang des Gesprächs müssen die Fronten geklärt werden. So hat die CampusCouch nicht den Anspruch dem Sprecher maßgeschneiderte Lebensweisheiten zu präsentieren. Viel eher verstehen sich die Mitglieder als methodisch geschulte ZuhörerInnen. Zudem wird es bei einem einzigen Gespräch zwischen Hörer und Sprecher bleiben. Einerseits reicht dies zumeist aus, andererseits soll so verhindert werden, dass sich, über mehrere Gespräche hinweg, eine Beziehung entwickelt, die die Züge einer Therapeut-Patienten-Beziehung trägt. Sollte also ein weiteres Gespräch nötig werden, so führt man dies mit einem anderen Mitglied der CampusCouch.
Trotz des eigenen Studententums sind sich Christina und Dörte der Verantwortung bewusst, die eine solche Initiative in sich birgt. Gespräche werden nur dann geführt, wenn die ZuhörerIn sich diesen individuell gewachsen fühlt. Erst nach einer Probezeit von einem Semester können eigene Gespräche geführt werden. Davor ist man lediglich als stille ZuhörerIn bei den Gesprächen anderer dabei. Zeichnen sich tiefer liegende Gründe für das Unwohlsein des Sprechers ab, wird ihm nahegelegt, sich therapeutische Hilfe zu holen. Das komme schon mal vor, aber das Worst-Case-Szenario, etwa einen suizidgefährdeten Sprecher, habe noch niemand erlebt, erzählt Dörte und wird ein wenig ernster. Im äußersten Notfall gebe es aber auch dafür einen Plan.
Solche Vorüberlegungen bleiben dem Sprecher freilich verborgen. An ihm ist es nur zu schildern, was genau ihm dem Schlaf raubt. Oftmals handelt es sich bei den Störfaktoren um die üblichen Verdächtigen: Der Prüfungsstress ist drückend; Freunde oder Familie streiten; es ist einsam, so ganz allein in einer fremden Stadt; der Abschluss naht, was mach’ ich nur mit meinem Leben? Genau bei Fragen wie diesen kann die CampusCouch ihre größte Stärke ausspielen. Die semiprofessionellen ZuhörerInnen bewohnen die Lebenswelt der studentischen Sprecher, und Einfühlungsvermögen lebt nicht zuletzt von dem Wissen darum, dass sich das Gegenüber im Grunde gar nicht so sehr vom eigenen Selbst unterscheidet.
Der Experte in einem selbst
Von einem Plausch unter Freunden unterscheidet sich ein Gespräch mit den ZuhörerInnen der CampusCouch aber auch unabhängig von deren Verantwortungsbewusstsein: Ein einziger Kommunikationspartner bestimmt das Thema, die Dauer, den Verlauf und den emotionalen Gehalt des Gesprächs. Die Schilderungen des Sprechers werden nicht mit eigenen Erfahrungen, Ratschlägen oder Meinungen verstopft. Ziel ist es, solches und damit auch sich selbst, weitgehend aus dem Gespräch herauszuhalten. Das Einfühlungsvermögen, wichtigstes Werkzeug beim Zuhören, wird dabei nicht für eine mögliche, maßgeschneiderte Lösungsstrategie zurate gezogen. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch ein Experte für sich selbst ist. Die Lösung liegt im Sprecher selbst, dort, wo auch das Problem seinen Ursprung hat.
Logisch, wer mit wehenden Fahnen durch die letzte Prüfung gerasselt ist, weiß, was zu tun ist, um diesen Missstand zu beheben. Aber diese Erkenntnis befreit noch nicht von der Versagensangst. Statt dem Sprecher also mit sakralem Ton zu unterbreiten, wie das Lernen mit Karteikarten funktioniert, soll genau diese Angst ertastet und offengelegt werden. Emotionen müssen von den ZuhörerInnen der CampusCouch aus der Erzählung herausgefiltert und in Form einer Hypothese explizit benannt werden. Die Angst soll im Gespräch den Platz einnehmen dürfen, den sie ohnehin hat, statt zugunsten einer pragmatischen Problemlösungsstrategie unter den Tisch zu fallen.
Gewöhnungsbedürftig kommt den Sprechern die Situation zumeist schon vor, schließlich trifft man eine wildfremde Person, mit der man nun aus dem Nähkästchen plaudern muss. Solche Unsicherheiten werden aber gewöhnlich schnell überwunden, erzählt Dörte und klingt dabei, als sei das ganz selbstverständlich. Hat man sein Herz geöffnet, hat man geordnet, was zu ordnen war, geben die ZuhörerInnen noch die Gelegenheit das Gespräch einzuordnen, Feedback zu geben und neue Gedanken noch mal explizit zu benennen. Ob die ZuhörerInnen den Sprecher beim zufälligen Treffen in der Bahn erkennen dürfen oder nicht, kann noch kurz festgelegt werden, dann trennt man sich und geht seiner Wege.