Dem VWL-Studium fehlt es an theoretischer Bandbreite. Zunehmend kritisieren Studierende und Dozenten einseitige Darstellungen auch in Lehrbüchern. Eine Pluralismus-Bewegung beginnt sich zu organisieren.
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Vor sieben Jahren verließen Dutzende Harvard-Studierende die Einführungsvorlesung des renommierten Volkswirtschafts-Professors Gregory Mankiw. Weder ein Anflug von Müßiggang noch eine spontane Kollektiverkrankung veranlasste sie zu diesem Schritt. Ihr Vorgehen war rebellischer Natur, ein Protest. Ihr Vorwurf: die Lehre des Dozenten sei von weltanschaulicher Einseitigkeit geprägt, die Studierenden vermissten eine kontroversere Darstellung des Stoffs. Damit war der studentische Anstoß zu einer Debatte gegeben, die im Wissenschaftsbetrieb noch immer geführt wird: Wie plural ist die ökonomische Lehre?
Till van Treeck ist Professor und Gründungsdirektor am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Zusammen mit Janina Urban, mit der er am Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) für den Themenbereich „Neues ökonomisches Denken“ zuständig ist, hat er gerade das Buch „Wirtschaft neu denken. Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie“ veröffentlicht, das auf der Shortlist des Hans-Matthöfer-Preises für Wirtschaftspublizistik stand. Das Buch untermauert, was die protestierenden Studierenden aus Harvard kritisierten: In der Volkswirtschaftslehre dominiere eine neoklassische Sichtweise, die nicht nur in den Hörsälen propagiert werde, sondern auch in Lehrbüchern das Wissensfundament für Generationen von Studierenden darstelle – so fasst van Treeck die im Buch enthaltenen Rezensionen von verschiedenen Wirtschaftswissenschaftlern zusammen. Zum Beispiel behaupteten die meisten Lehrbücher, Umverteilung führe quasi gesetzmäßig zu einer ineffizienten Wirtschaft. „Es wird als größter gesellschaftlicher Konflikt dargestellt: Je gleicher man versucht, den volkswirtschaftlichen Kuchen zu verteilen, desto kleiner wird er“, sagt van Treeck im Gespräch mit diesem Blog. Auf diese Weise werde nahegelegt, dass sich die Gesellschaft zwischen Effizienz und Gerechtigkeit entscheiden müsse.

Dass solche Aussagen aus einer bestimmten Auslegung der neoklassischen Wirtschaftstheorie abgeleitet werden und in der Forschung umstritten sind, erführen die Studierenden hingegen größtenteils nicht. „Das ist problematisch und intellektuell unredlich“, sagt van Treeck, der kritisiert, dass konkurrierende ökonomische Denkschulen wie der Post-Keynesianismus, die ökologische Ökonomik oder der Marxismus häufig außen vor blieben. Höchstens in Fußnoten und Unterkapiteln läsen die Studierenden von alternativen Paradigmen – dort jedoch oft verbunden mit abwertender Rhetorik.
Dabei sei plurale Ökonomik von großer Wichtigkeit, so van Treeck; je nachdem auf welcher wirtschaftstheoretischen Grundlage man die Welt interpretiere, komme man zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Während die Neoklassik zum Beispiel rational und eigennützig agierende Individuen in den Mittelpunkt stelle, lege der Post-Keynesianismus sein Augenmerk auf Gruppen wie Arbeitnehmer oder Unternehmer und die Beeinflussung Einzelner durch ihr soziales Umfeld. Beschwört die Neoklassik typischerweise die Selbstheilungskräfte des Marktes, sieht der Post-Keynesianismus eher den Staat in der Verantwortung, bei fehlender privater Nachfrage oder Verteilungskonflikten zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu intervenieren.
Für die jeweilige Ideengeschichte sensibilisieren
Die Stoßrichtung der protestierenden Harvard-Studierenden fasst van Treeck folgendermaßen zusammen: „Sie fanden, dass die Einseitigkeit und in weiten Teilen die wirtschaftsliberale Orientierung von Lehrbüchern mitverantwortlich für die Finanzkrise war, weil man die Selbstregulierungskräfte der Finanzmärkte total überschätzt hat – auch bleiben gesellschaftliche Probleme wie Ungleichheit und Klimawandel unterbelichtet.“
Von diesem Ansatz leitet der Duisburger Ökonom seine Forderung einer ausgeglicheneren Lehre ab: „Verschiedene Paradigmen müssen nebeneinander und zunächst einmal gleichberechtigt präsentiert werden.“ Außerdem müssten Lehrbücher Studierende für die Ideengeschichte des jeweiligen Theorieansatzes sensibilisieren.
Viele Studierende wussten sich allerdings auch selbständig zu mehr Pluralität zu verhelfen. 2007 gründete sich zum Beispiel das Netzwerk Plurale Ökonomik, dem mittlerweile über 30 Initiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz angehören. Neben Lehrveranstaltungen an Universitäten und Vorträgen initiierte das Netzwerk mit „Exploring Economics“ eine Internetseite, die Studierenden die wesentlichen Charakteristika verschiedener wirtschaftswissenschaftlicher Paradigmen erläutert. Das FGW fördert aktuell auch die Entstehung von Online-Lehrbüchern, die die Ökonomik für Studierende und Schüler pluraler darstellen sollen.
Für die Zukunft zeigt sich Till van Treeck trotz der ernüchternden Ergebnisse der Lehrbuch-Analysen optimistisch. „In den Wirtschafswissenschaften findet langsam ein Umdenken statt”, sagt er, “die Pluralismus-Bewegung ist im Mainstream der Volkswirtschaftslehre angekommen“. An der Universität Duisburg-Essen soll zum Wintersemester 2019/2020 unter seiner Leitung der Master-Studiengang Sozioökonomie eingerichtet werden. Einen wichtigen Baustein soll dabei das Modul “Plurale Ökonomik” liefern. Vom herkömmlichen VWL-Studiengang soll das neue Angebot aber vor allem die Interdisziplinarität unterscheiden. Volkswirtschaftliche Fragen sollen dort auch unter wirtschaftssoziologischen und politik-ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden.
Einseitigkeit ist kein Alleinstellungsmerkmal der Ökonomie
Praktisch alle Fachrichtungen leiden mehr oder weniger unter einem gewissen Konservatismus, der andere und neue Ideen versucht unter den Teppich zu kehren.
Man schaue nur auf das im Beitrag erwähnte Thema “Klimawandel” , wo alles, was nicht der “herrschenden Lehrmeinung” entspricht, konsequent der “Inquisition” unterworfen wird.
Oder man denke an die Zweifel und fast schon Hohn und Spott die angeblich dem Entdecker des helicobacter pylori zu Teil wurden, selbst als der “Nachweis” schon erbracht war.
So gesehen ist es nur zu begrüßen, dass sich die Wissenschaft – und nicht nur die Ökonomie – ( wieder ) frei macht von Ideologie und durch eine Art “Öffnung” auch wieder “Wissen schafft”.
Assistant Professor, Maastricht University
Ich glaube nicht, dass ich dieser negativen Sichtweise allgemein zustimmen kann, auch wenn natürlich vieles vom Dozenten (weit mehr als von Lehrbüchern) abhängt. Nur ein paar wenige Beispiele um das zu illustrieren:
Wenn Sie Hal Varians Lehrbuch verwenden, werden Sie in der ersten Vorlesungen erklären, wie Steuern ein Marktgleichgewicht beeinflussen und die gehandelte Menge verringern und somit einen Wohlfahrtsverlust verursachen. Heißt das, dass wir Steuern verringern sollten? Mitnichten! Und ich zweifele daran, dass meine Kollegen eine solche Sichtweise unterrichten. Aber ohne diesen ersten Schritt können wir nicht ein Jahr später in einem anderen Zusammenhang erklären, wie man mithilfe von Lenkungssteuern den Benzinverbrauch reduzieren kann um Externalitäten zu internalisieren und ein effizienteres Gleichgewicht zu erreichen.
Wenn Sie Allgemeines Gleichgewicht unterrichten, lehren Sie das erste Wohlfahrtstheorem: Jedes Marktgleichgewicht ist effizient. Fantastisch! Wir sind zurück bei Adam Smith und seiner unsichtbaren Hand, Egoismus ist gut, Interventionen sind schlecht. Oder? Ungefähr 15 Minuten später werden Sie über das zweite Wohlfahrtstheorem reden: Eine Umverteilung von Ressourcen führt zu einem anderen, immer noch effizienten(!), Gleichgewicht. Also: Umverteilung ist kein Problem.
Dann ist da noch die Idee des homo economicus, dieses rationalen und egoistischen wirtschaftlichen Akteurs, der in so vielen Aspekten dem Verhalten des homo sapiens widerspricht. Natürlich müssen wir als Lehrende Alternativen vorstellen. Aber: Wir betreiben keine Unterhaltungsshow, in der wir mithilfe von Anekdoten erklären, wo sich Generationen von Forschern geirrt haben! Wir müssen zunächst einmal klären was “rational” eigentlich bedeutet, welche normativen Grundannahmen getroffen wurden. Erst danach können wir systematisch analysieren wann welche dieser Annahmen verletzt werden, welche Alternativen es gibt, und welche Konsequenzen alternative Annahmen auf kollektives Verhalten haben. Aber das unterrichten wir nicht im ersten Jahr! Die Materie ist einfach zu komplex.
Ökonomie hat sich zu einer formellen Wissenschaft entwickelt. Wir argumentieren basierend auf einem Axiomensystem mit mathematischer Präzision. Diese Argumentation lässt keinen Spielraum für Diskussion: entweder ein Argument ist ein logisch fundiert oder eben nicht. Die Diskussion muss auf er Ebene der Axiome stattfinden. Und diese Diskussion hängt erheblich davon ab, was Sie von der Ökonomie erwarten: Soll sie Verhalten voraussagen? Soll sie Empfehlungen geben? Soll sie einfach “nur” akkurat beschreiben? Oder geht es etwas ganz anderes?
Es ist keine Antwort Studierende im ersten Jahr mit eine Fülle an Paradigmen zu konfrontieren und sie wählen zu lassen, welches ihnen am besten gefällt. Als Lehrende müssen wir den Stoff strukturieren, um dann neue Erkenntnisse einzubauen und alternative Sichtweisen zu ergründen. Eine Grundlagenvorlesung hat nur eine einzige Daseinsberechtigung: Grundlagen zu legen. Studierende, die mit interessanteren Modellen in Kontakt kommen wollen, müssen weiterführende Veranstaltungen besuchen.
Dipl.-Kfm.
Das Experiment Kommunismus und wohl auch Sozialismus war doch gescheitert. Welche sind die Grundlagen für die dauernden Wiederbelebungsversuche?
Muss Ungleichheit des Menschen noch bewiesen werden? Die Korrekturen zum reinen ökonomischen Prinzip werden ständig angepasst.
Also was soll das?!
Einseitig?
Ist dieser Artikel nicht vielleicht auch ein bisschen einseitig? Bei mir als Wissenschaftler entsteht der Eindruck, dass Der Autor nicht wirklich weiß, was (zumindest im hören Semestern) heutzutage standardmäßig unterrichtet wird. Er bemühte sich offenbar auch nicht, eine andere Meinung einzuholen. Schade, gerade bei einem Thema, dass mangelnde Meinungsvielfalt kritisiert.
Studenten und Pluralität
Sind diese Harvard-Studenten mit ihrer Forderung nach Pluralität die gleichen, die Safespaces und Triggerwarnungen als Schutz vor unliebsamen Fakten und Ansichten fordern? Die gleichen, die lautstarke Sprechchöre in Vorlesungsräumen organisieren, wenn dort jemand mit ungeliebten Standpunkten sprechen soll? Oder sind die wirklich an Pluralismus interessiert?
Interessanter Punkt
Das was Sie ansprechen ist sicher auch kein Einzelfall und auch nicht nur auf Studenten der VWL beschränkt :
Für die eigene abweichende Meinung die uneingeschränkte Freiheit fordern aber die der eigenen Meinung entgegengesetzte am liebsten verbieten.
Ist aber vermutlich irgendwie menschimanent.
Unbekannte Sachlage
Ich weiß nicht, ob die Studenten die gleichen sind. In den letzten Jahren machten US-amerikanische Universitäten aber eher von sich reden, ihre Studenten vor allem Möglichen und Unmöglichen schützen zu wollen, anstatt ihnen ein breiteres Wissen (auch von unbequemen Standpunkten) zu vermitteln. Und deshalb wundert mich der Aufmacher.
Grundsätzlich habe ich nichts gegen das Lehren verschiedener Denkmodelle. Allerdings hätte ich als Student gerade marxistische Denkmodelle sehr kritisch analysiert und geprüft.
Redlichkeit und Selbststudium
Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man in der akademischen Lehre mehrere Sichtweisen vorstellt und diskutiert. Das gehört zur Reflektiertheit der Lehrenden und zur intellektuellen Redlichkeit.
Andererseits ist es niemandem verboten, seine Professoren zu kritisieren und andere Bücher zu lesen (nicht mehr so modern) sowie selbst zu denken.
Bei meinen Studierenden erlebe ich seltenst kritische Fragen, und wenn ich etwas aus mehreren Blickwinkeln bespreche, ernte ich eher Unverständnis.
Es ist aber auch nur BWL, nicht VWL.
Literatur Empfehlung
Dem kann ich nur zustimmen. Die eine Wahrheit gibt es nicht, schon gar nicht in der VWL, deshalb sollten den Studierenden neben der von den angelsächsischen Ländern geprägten neoliberalen Lehre auch weitere Theorien vermittelt werden. Ich empfehle Bücher von Andre Gorz.
Viele Grüße
... aus Wissenschaft
mal schnell eine Ideologie machen
Marximus ist keine Wissenschaft.
Titel eingeben
Die Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues beschäftigt sich auf hohem Niveau in didaktisch hervorragenden Seminaren mit dem Thema. Für ein Bachelor- oder Masterstudium sehr zu empfehlen!
Was bleibt ist der Selbstzweck
Plurale Ökonomik hat in meinen Augen durchaus ihre Existenzberechtigung, jedoch warne ich davor diese Sichtweise künstlich aufzublasen. Die Realität sieht doch so aus, dass die Märkte aus den Akteuren gebildet werden und deren Entscheider maßgeblich einem neoklassischen Bildungsmodell entstammen. In wie weit der Marxismus in den universitären Elfenbeintürmen gelehrt werden muss, um dies zu korrigieren erschließt sich mir nicht. Natürlich hätte ich mich gefreut, wenn diese alternativen Sichtweisen früher mehr gelehrt worden wären, aber dann doch bitte als Komplement und nicht als Substitut für die Neoklassische Theorie, wobei ich als Volkswirt aber sowieso sagen muss, dass die lehrbuchmäßige, Neoklassische Theorie an den Universitäten nur ganz am Studiumsbeginn gelehrt wird. Bereits in der ersten Vertiefung kommt man zu den Marktunvollkommenheiten und diese werden bis zum Erbrechen vertieft, so dass diese Fundamentalkritik, die universitäre Lehre sei einseitig, eigentlich nur von Nicht-Ökonomen kommen kann, die nur die “Einführung in die Wirtschaftswissenschaften” oder “Grundzüge der Mikroökonomie” besucht haben. Schafft man einen alternativen Wirtschaftsstudiengang, wo alles gelehrt wird, was nicht Mainstream ist, so ist das aus akademischer Sicht sicherlich interessant, für den einzelnen Absolventen aber nur empfehlenswert, wenn ein dickes finanzielles Polster als Juniorchef in Vatis Firma existiert. Diese Gedanken sollte man stehts berücksichtigen, wenn man anfängt “gegen das System” zu kämpfen.