Der Reportagefotograf Maciej Staszkiewicz begab sich über drei Jahre hinweg immer wieder auf die mittelalterliche Handelsroute „Via Regia“, die sich von Moskau und Kiew nach Santiago de Compostela zieht. Insgesamt war der damalige Fotografiestudent ein Jahr lang unterwegs, traf unzählige Menschen. Wir zeigen einige seiner Fotografien, die das Studentenleben in der Ukraine und Polen im Jahr 2013 einfangen. Im Interview erzählt der Fotograf von den Geschichten hinter seinen Momentaufnahmen.
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Maciej, Du bist einen Großteil der alten Handelsroute „Via Regia“ entlanggereist. Wie kamst Du Sie zu diesem Projekt?
Der Impuls war ziemlich banal. Ich bin im Internet darüber gestolpert und fand es sehr spannend zu sehen, was auf dieser Route heute zu finden ist. Es hat in kleinen Etappen in Polen angefangen, das war bereits 2010. Das Projekt ist immer weiter gewachsen und wurde umfangreicher, 2013 war ich die meiste Zeit unterwegs, vor allem in Osteuropa. Insgesamt war ich ein Jahr lang unterwegs, allerdings mit Unterbrechungen, da ich regelmäßig nach Deutschland zurückkehren musste.
Wie hast Du Deine Reisen geplant?
Der Charme am Reisen ergibt sich für mich aus der Spontanität heraus. Ich habe auf einer Landkarte den Weg der wichtigsten ehemaligen Handelsstädte eingezeichnet. Das hat meine Ziele und meine Route ergeben. Die Städte gibt es größtenteils noch, obwohl die Wegführung sich leicht verändert hat. Wenn es mir sinnvoll erschien, bin ich von einigen Punkten aus in die umliegenden Dörfer gereist, um das Leben dort beobachten zu können. Es war mein Plan, nichts zu planen, sondern mich treiben zu lassen. Die Aufenthaltsdauer bei den Menschen, die mich beherbergt haben, hat ebenfalls stark variiert. Manchmal bin ich bloß eine Nacht geblieben, manchmal über eine Woche lang.
Wie verlief die Route?
Meine Reise begann mit dem Aufbruch nach Kiew. Bis zur ukrainischen Grenze hat mich ein Bekannter mitgenommen, von da aus bin ich mit dem Nachtzug nach Kiew gefahren. Über Berdichev ging es weiter nach Schytomyr, das ist eine größere Stadt bei Kiew, von da aus bin ich abgewichen, um die entlegenen Dörfer zu besuchen. Dort leben, trotz Verschleppung, heute wieder fast nur Polen. Das stellte ein Vorteil für mich dar, weil ich polnisch spreche. Ukrainisch hat zwar Gemeinsamkeiten mit Polnisch, aber die Leute haben mich immer besser verstanden, als ich sie. In Kiew sprechen die meisten Russisch, das war tatsächlich anfangs schwierig für mich. Allerdings konnten recht viele der Studenten in der Westukraine Englisch sprechen und einige sogar auch Polnisch.
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Von dort bin ich weiter nach Rivne gezogen, dort gibt es eine Spaltung der Via Regia in eine nördliche Route und eine südliche. Ich bin beide entlanggegangen. Über Dubno, Brody und Lviv bin ich schließlich über die polnische Grenze gelangt. Das war der erste Monat meiner Reise durch die Ukraine. Einen weiteren Monat bin ich in Polen geblieben. Zunächst war ich in der Grenzstadt Przemysl, dann habe ich mich über viele weitere Städte nach Krakau bewegt. Ich war in dem Ballungsgebiet Katowice, das ist zu einer großen Stadt zusammengewachsen und ist eine sehr interessante Gegend. Die Städte haben den Charme der Kohleindustrie. Über Opolskie und andere Städte ging es nach Wroclaw. Von der Grenzstadt Zgorzelec, also Görlitz, aus bin ich dann weiter durch Deutschland gereist. Und das war jetzt nur die Ost-Route.
Die Transportwege waren sicherlich von unterschiedlicher Qualität. Mit welchem Transportmittel hast Du die Wege zurückgelegt?
Das war sehr unterschiedlich. In Spanien handelt es sich um den Jakobsweg, den bin ich gelaufen. Durch Deutschland bin ich mit dem Fahrrad gefahren, im Osten hat es variiert. In Polen habe ich kurz ein Fahrrad benutzt, war sonst aber viel zu Fuß und mit Bussen oder Zügen unterwegs. In der Ukraine bin ich viel getrampt, aber auch mit dem Bus oder der Bahn gefahren, da das recht günstig ist. Wobei ich mich in Polen vor allem gegen das Trampen entschieden hatte, weil das zu der Zeit sehr schwierig war. Es hatte sich eine Mordserie ereignet, bei der sich ein Paar als Studenten ausgegeben hatte. Und ich hatte mich gewundert, warum mich keiner mitnahm und war der Annahme, dass es an meinem Bart liegen musste, weil der in Polen sehr unüblich ist, Bartträger gelten schnell als Vagabunden, vor allem in den Dörfern. Nachdem sich ein Gutgläubiger erbarmt hatte, war das die Geschichte, die er mir erzählte. Anschließend bin ich auf andere Transportmittel umgestiegen.

Als Du an dem Projekt gearbeitet hast, warst Du selbst noch Student und bist wiederum bei vielen Studenten untergekommen. Hast Du das Gefühl, dass die Solidarität untereinander größer war, als bei anderen Leuten? War auch Dein Alter von Vorteil?
Mein Status und Alter waren sicherlich von großem Vorteil. Darüber hinaus hat mir mein Studium auch den Grund geboten, diese Menschen zu besuchen und sie kennen lernen zu können. Wenn ich von meinem Projekt erzählt habe, bin ich speziell in Osteuropa auf großes Interesse gestoßen.
Diejenigen in der Ukraine und Polen, die studieren können, genießen ein Bildungsprivileg. In welchem sozialen Umfeld hast Du Dich wiedergefunden?
Wirklich „reiche“ Studenten habe ich auf meiner Reise durch den östlichen Abschnitt der Via Regia nicht kennengelernt, obwohl es die sicherlich ebenso gibt wie in Deutschland. Die waren oftmals ebenso am Existenzminimum, wie es viele Studenten in Deutschland sind, wobei man in Deutschland zumindest ein Anrecht auf Bafög hat. In Polen gibt es zwar eine Art Stipendium, aber von diesem Geld kann man dort nicht leben. In Polen ist es sehr üblich, zu dritt oder viert in einem Zimmer zu wohnen, da die Miete nicht anders zu bezahlen ist. Ich war dann oft der Fünfte im Raum. In der Ukraine haben viele meiner Wegbegleiter noch Zuhause gewohnt, ich gehe davon aus, dass das aus finanzieller Not heraus entstand. Diejenigen, die ihr eigenes Zimmer hatten, haben für deutsche Verhältnisse sehr einfach gewohnt. Aus meiner Erfahrung heraus würde ich sagen, dass es die Studenten in den östlichen Ländern schwerer haben als in Deutschland, allein schon deshalb, weil sie keine oder kaum staatliche Hilfeleistung bekommen.
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Hattest Du das Gefühl, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad und der Offenheit Dir gegenüber gab?
Da stelle ich keinen Zusammenhang her. Ich habe Leute getroffen, die nichts hatten und trotzdem alles geteilt haben. Namentlich Obdachlose. Einmal bin ich auch bei einer Roma-Familie untergekommen. Sie hat mich eingeladen und mir kein Abreisedatum genannt, obwohl sie wenig hatten und in einem Plattenbau lebten. Das Familienoberhaupt war ein angeheirateter Pole, der ein Hakenkreuz tätowiert hatte, das bezeichnete er als Jugendsünde. Offenbar hatte er eine kriminelle Vergangenheit hinter sich.
Insgesamt hatte ich allerdings das Gefühl, dass die Menschen in Polen und der Ukraine mich aus dem Westen mit extremer Neugierde aufgenommen haben, während ich andersherum als in Polen geborener Deutscher auch feststellen konnte, dass Menschen aus den osteuropäischen Ländern in Deutschland mit Verschlossenheit und Misstrauen begegnet wird.
Was für Unterschiede haben sich zwischen polnischen Studenten und Studierenden in der Ukraine abgezeichnet?
Kollektive Unterschiede ergaben sich erstmal vor allem durch die Reisebegrenzung in der Ukraine. 2013 war es den Studenten nicht einfach möglich, nach Westeuropa auszureisen. Russland war natürlich jederzeit möglich, mittlerweile ist ein Teil der Ukraine ironischerweise russisch besetzt. Pavlo ist der Geografiestudent, den ich auf dem Dach liegend in Kiew fotografiert habe. Er reist sehr gerne, aber er hat mir in dem Zusammenhang auch erzählt, dass er sich vor allem Richtung Osten bewegt, da es für ihn durch die Visumsvorschriften zu schwierig ist, nach Westeuropa zu kommen. Der Austausch im Studium innerhalb der östlichen Länder scheint einfacher zu sein, ich habe einige Polen kennengelernt, die in der Ukraine studieren und umgekehrt habe ich auch einige Ukrainer kennengelernt, die in Polen studieren.
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Ich finde, dass sich die Mentalität, vor allem die Offenheit, die Neugierde in beiden Ländern sehr ähnelt. Die Ukrainer habe ich als sehr diszipliniert wahrgenommen, vor allem auf ihr Studium bezogen. Viele haben mit Zwanzig schon ihren Magisterabschluss. Mir wurde gesagt, dass sei sehr gewöhnlich. Aber auch übertragen auf das gesamte Leben wirken sie sehr zielgerichtet. Der Anreiz scheint es zu sein, Dinge zu erlernen, das Leben zu verstehen.
Um einen Unterschied aufzuzeigen, würde ich da eher Deutschland den beiden Ländern gegenüberstellen. Ich habe das Gefühl, in Osteuropa ist der Umgang menschlicher. Die Menschen dort wirken offener und logischer. Sie stellen sich mehr Dingen und wirken glücklicher. Sie suchen das Glück vielleicht einfach in der Existenz des Lebens und nicht im Materialismus. Als ich durch Deutschland gereist bin, war es wirklich sehr schwierig, Fotos aufzunehmen. Das lag daran, dass die meisten Menschen sehr abweisend reagiert haben und sehr ängstlich waren.
Auf Deinen Fotografien sind neben den Aufnahmen von Orten vor allem viele Porträts ganz unterschiedlicher Menschen zu sehen. Wie kommst Du zu Deinen Fotos?
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Ich kannte niemanden in den Ländern vor meinen Reisen. Ich habe zwar in Polen Familie, die war aber nicht Teil des Projektes. Größtenteils habe ich Leute über Couchsurfing angeschrieben oder tatsächlich einfach auf der Straße angesprochen. Das war ein Selbstläufer, denn wenn ich den Menschen von meinem Projekt erzählt habe, wurde ich glücklicherweise oft an Bekannte weitergereicht, die in den angepeilten Städten leben. So habe ich auch die meisten Studenten kennengelernt, die jüngere Generation generell.
Wenn beides nicht funktioniert hat, ich aber trotzdem Weiterreisen wollte, habe ich auch oft in Kirchen gefragt, ob ich dort bleiben durfte. Zum Beispiel in Dovbysh, dem kleinen polnischen Dorf. In der Ukraine gab es absolut keine Verbindungen, weder über das Netz, noch über die Menschen, die ich zuvor getroffen hatte. Also wurde ich von einem Kioskbesitzer zum Pfarrer geschickt. Tatsächlich durfte ich in dem Ankleideraum der Geistlichen übernachten. Das habe ich danach auch in anderen Städten versucht. Die Reaktionen waren sehr gemischt. Für den Notfall hatte ich auch meistens ein Zelt dabei.
Was steht im Fokus Deiner fotografischen Arbeit?
Die Menschen. Sie sind diejenigen, die das Erbe der Orte und Kulturen in sich tragen. Es ist meine größte Motivation, Menschen kennenzulernen. Es war meine Triebfeder bei diesem Projekt. Ein weiterer Antrieb war außerdem, sie in den Räumen so zu porträtieren, dass ihre Aura spürbar wird. Mich hat interessiert, wie die Leute entlang der alten Handelsroute heutzutage leben. Die Unterschiede zwischen den Ländern zu erkunden war mir sehr wichtig. Fotografie ist immer eine gute Eintrittskarte dafür, Menschen kennenzulernen, die man normalerweise nicht in seinem Umfeld hat. Ich denke deshalb habe ich sie zu meinem Medium gemacht.
Die urbane Lebenswelt habe ich dokumentiert, weil es nunmal der öffentliche Raum ist, der sich stetig verändert. Den Majdanplatz beispielweise gibt es heute in der Form nicht mehr. Ich habe ihn 2013 festgehalten.

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Zu den Porträtaufnahmen: Nach welchen Kriterien hast Du Deine Motive ausgewählt?
Nach Gefühl, nicht nach Sympathie. Ich habe manche Menschen auf der Straße angesprochen und sie dann nach einem Foto gefragt, also kenne ich auch nicht die Geschichten aller Menschen, die ich fotografiere. Manchmal ist mir die Ausstrahlung mancher Menschen bei Couchsurfing aufgefallen, einige hatten diese Aura dann auch als ich sie traf. Überwiegend haben sich die Momente und Bekanntschaften spontan ergeben. Die vorliegenden Fotos zeigen allerdings die Menschen, die ich besser kennenlernen konnte. Es zählt der Moment und das Gefühl. Aufnahmen geplant habe ich nie. Kann man bei Reportagen auch nicht.
Hattest Du in Deutschland das Gefühl, frei in Deinem Studium arbeiten zu können?
Ja, absolut. Das liegt im Fach begründet. Aber ich denke auch, dass man der Typ für ein solches Studium sein muss. Mir waren Dinge wie Karriere und Geld nie wichtig. Ein ungebundenes Leben war mir hingegen immer sehr wichtig. Das Studium in Deutschland hat das auf alle Fälle ermöglicht. Allein durch die finanzielle Unterstützung in Form von Bafög kann man sich mehr Freiheiten leisten.
Sämtliche Folgen unserer Reihe “Feldforschung”
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Maciej Staszkiewicz, 1983 geboren in Schwerin an der Warthe in Polen, 1986 immigriert in den Süden Deutschlands. Besuchte nach der Mittleren Reife eine private Kunstschule in Heilbronn, danach Studium an der Hochschule für Gestaltung in Mannheim von 2006-2013. Abschlußarbeit VIA REGIA. Weitere Dokumentationen im Iran, in Indien, Nepal, Ost- und Westeuropa. Arbeitet seit 2014 als selbstständiger Fotograf und Filmemacher in Tübingen, Deutschland.
Verbundenheit
Danke fuer das puzzel stueck in europas laufender Geschichte fuer kommunikation und vereinigung
spannend!
Toll wie einen der offene Blick des Studenten mit auf diese alte Handelsroute nimmt. Dazu die faszinierenden Bilder, schöner Artikel!
Über die angst vorm fotografiert werden
Es ist gerade diese offenheit der leute dort die solche reportagen möglich macht. Gerade hier in süd und westdeutschland hat man das gefühl die Menschen hätten eine unbändige angst davor fotografiert zu werden. Mir selbst ist es fast unmöglich hier menschen, also fremde, zu fotografieren. die frage nach dem warum ist mir unbeantwortbar, da der selfie-kult auf seinem Höhepunkt ist und man praktisch von jedem zweiten menschen bilder im internet findet. Ich bewundere leute die es schaffen diese barrieren zu überwinden und es schaffen porträts eines landes in solcher weise zu aufzunehmen. Doch möglicherweise ist dies hier nicht mehr möglich, weil eine bilderflut im internet die Menschen verängstigt hat offen mit einem fremden fotografen zu sprechen.
Titel eingeben
Ja, ich schließe mich an, dies ist der schönste Artikel, den ich seit langem gelesen habe. Danke.
Super!
Das ist ein wunderbares Interview mit tollen Fotos. Bitte mehr davon!