Abgesagte Wahlkampfauftritte, Nazi-Vergleiche, das Flüchtlingsabkommen – das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland ist gestört. Ein Studentenaustausch-Programm will Abhilfe schaffen. Eindrücke vom Auftakt.
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Oben auf der Empore der Ditib Mevlana Moschee in Konstanz sitzen heute Nacht nicht nur Muslima, sondern auch viele nicht-muslimische Frauen. Sie sind Teilnehmerinnen des IstKon, eines neuen, von Studierenden organisierten Austauschprogramms zwischen den Städten Istanbul und Konstanz. Vor ihnen befindet sich eine ältere kleine Frau, die wild mit den Armen gestikuliert, während sie den Ablauf des Gebetes erklärt. Sie ist Mitglied der Moschee und hat die Aufgabe übernommen, den Neuankömmlingen die Abläufe zu erklären. Sie beginnt, sich ihren bodenlangen Rock, den sie fürs Beten tragen muss, über ihre Hose zu ziehen. Auf einem Bein stehend redet sie munter weiter: „Es ist schrecklich heiß heute“, sagt sie, „hier habt ihr eine Flasche Wasser. Selbst mir ist das Fasten heute schwergefallen.“ Es ist der 21. Juni 2017, sechster Tag des Austauschprogramms, 21:30 Uhr, die Nacht der Bestimmung, jene Nacht, in welcher der Koran zum ersten Mal offenbart wurde. Eine wichtiges Datum für den Islam. Außerdem befinden wir uns im Fastenmonat Ramadan. Nach dem Gebet darf das Fasten für den heutigen Tag unterbrochen werden.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, zu diesem Anlass als Nicht-Muslim in die Moschee zu dürfen. Nach einigen Gesprächen mit deren Leiter wird jedoch die Genehmigung erteilt. Die Voraussetzung war lediglich, dass Männer wie Frauen ihre Knöchel und Frauen ihren Kopf bedecken. So sehr der Moscheegemeinden-Verband Ditib zuletzt immer wieder für seine Politik in Deutschland in die Kritik geraten war, in diesem speziellen Fall zeigte er sich unkompliziert und offen. „Ich mache noch ein Foto von euch allen“, flüstert die Muslima auf der Empore und lichtet die IstKon-Teilnehmerinnen ab. Dann beginnt der Imam zu beten. Die Frauen auf der Empore beten nach, ebenso die Männer, die unterhalb stehen. Doch wo ist der Imam, der vorbetet? In der Moschee ist niemand, der wie ein Imam aussieht. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass einer der Männer ein Stück weiter vorn steht als die anderen und sich zum Beten immer etwas früher hinkniet als die anderen. Er trägt eine Trainingsjacke vom FC Wacker Biberach.
So etwas bei uns?
Die Trainingsjacke des Imams, vielleicht ist es aber auch nur ein Vorbeter, ist nicht das Einzige, was in diesen Tagen die Erwartungen durchkreuzt. Zum interkulturellen akademischen Austausch trafen sich zwischen dem 16. und 25. Juni 22 Studierende der Marmara Universität Istanbul mit 25 Studierenden der Universität Konstanz zum ersten IstKon. Die Idee zu diesem Projekt stammte von Markus Heckmann, der sie während seines ERASMUS-Aufenthalts in Istanbul entwickelte und später mit Kommilitonen aus den Politik- und Verwaltungswissenschaften in stunden-, fast tagelangen Skype-Gesprächen mit dem International Relations Club der Marmara Universität umsetzte. Nun also konnte beim Erstbesuch gemeinsam diskutiert, gefeiert und teilweise sogar zusammen gefastet werden. Die von den Studierenden festgelegten Themen reichen dabei von Menschenrechten in der Türkei und in Deutschland über Pluralismus und Laizismus, die Flüchtlingspolitik beider Länder bis hin zum Erscheinungsbild der AKP, der Partei des türkischen Ministerpräsidenten. Zur Überbrückung der Sprachbarriere hatte man sich auf die Verwendung des Englischen geeinigt. In einem ausgeglichenen Programm aus Workshops, Vorträgen und Kulturveranstaltungen – auch eine Kirche wurde besucht – sollten durch Sensibilisierung Vorurteile abgebaut werden, so der Plan.

Und ein Abbau derselben wurde schon bei der Akquirierung der Fördergelder nötig. Das Team um Heckmann sah sich nach dem Verfassungsreferendum im April plötzlich mit großen Zweifeln auf Seiten eines Förderkreises konfrontiert – was passiert, wenn die türkischen Studierenden durch das Austauschprogramm in Gefahr geraten? Die Gelder würden erst fließen, wenn absolute Sicherheit bestehe, hieß es. Nun galt es, Visa zu organisieren, offizielle Schreiben der Universitäten und Unbedenklichkeitsversicherungen anzufordern. In mühsamen Tag- und Nachtaktionen wurde die erwünschte Absicherung schließlich erreicht, die Förderer waren beruhigt. Allerdings gab es im Konsulat die Sorge, dass einige der türkischen Studierenden als Flüchtlinge in Deutschland bleiben könnten. Drei Visa wurden nach Angaben der Organisatoren am Schluss nicht gewährt.
Über das Ausmaß dieser Besorgnis zeigt sich Erhan Doğan überrascht. Der Professor für Politikwissenschaften und internationale Beziehungen an der Marmara Universität Istanbul, der den Austausch begleitet, blickt mit wachen Augen durch seine Brille: „Ich kann die Bedenken der Deutschen schon verstehen. Doch letztlich ist es übertrieben. Es hat ja alles funktioniert, wir sind hier und können offen sprechen.“ An den Sicherheitsmaßnahmen, die auf deutscher Seite getroffen werden, erkenne man, wie die Türkei von deutscher Seite wahrgenommen werde. Andererseits erzählt er am Rande, dass in seiner Sektion an der Uni sechs Kollegen entlassen wurden. So ganz unbegründet sind die Bedenken dann also doch nicht.

Da es für viele der türkischen Studierenden der erste Auslandsaufenthalt war, ging diesem Verständnis oft eine gewisse Verwirrung voraus. Besonders emotional wurde es in dem thematischen Block „Refugees“, zu dem ein afghanischer Flüchtling eingeladen war. Man sieht ihm an, dass er einen langen Weg – von seiner Heimat, sagt er, über ein türkisches Gefängnis und schließlich nach Deutschland – hinter sich hat. Zögernd erzählt er von seiner Inhaftierung in der Türkei: „Ich wurde geschlagen, die Zeit dort war schrecklich.“ Die tatsächlichen Umstände seiner Inhaftierung werden zwar nicht gänzlich klar, die Austauschstudierenden zeigen sich jedenfalls betroffen über die geschilderten Zustände, die türkischen auch ein wenig ungläubig: So etwas bei uns? In unseren Gefängnissen?
Das Mister-Missverständnis
Doch können sie tatsächlich ahnungslos über die Zustände in türkischen Gefängnissen und die Behandlung von vor allem politischen Gefangenen sein? „Man ahnt schon, dass da Dinge vor sich gehen, von denen wir nichts wissen. Aber wir wissen es eben nicht. Man hört schon hin und wieder, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht“, ist zu hören. All das spiele sich aber eher im Bereich der Vermutung ab, irgendwie sei es mehr eine Glaubensfrage.
Die Besorgnis einerseits, das vermeintliche Fehlen von Informationen andererseits, lässt sich schwer übereinbringen. So entsteht eine Ahnung von Informiertheit, die zugleich wieder Vorurteile herausbildet. Bei „denen“ ist es ganz schlimm, bei uns nicht. Da kann dann auch mal das nötige Feingefühl verloren gehen.
Vor allem die deutsche Direktheit fällt den türkischen Studierenden in Diskussionen unangenehm auf. „Bei uns kritisiert man sein Gegenüber nicht so direkt. Man versucht, sich den Diskussionspartnern im Gespräch anzunähern und sie zu überzeugen, ohne sie direkt zu kritisieren“, sagt eine Teilnehmerin. Alles andere wirke unhöflich und könne verletzend sein. Durch Aussagen wie diese entstehen Momente der Erkenntnis. Erst durch den Blick der Anderen bekommt man einen geschärften auf die eigenen kulturellen Besonderheiten.

Das wird bei einem Vortrag über Menschenrechte am fünften Tag der Veranstaltung besonders deutlich. Der PKK-Führer Abdullah Öcalan wird vom deutschen Vortragenden als „Mister“ Abdullah Öcalan bezeichnet, was im Publikum Unruhe auslöst. Der Grund: Was sich für deutsche Ohren eher wie die Distanzierung von einer terroristischen Vereinigung anhört, klingt in türkischen Ohren wie eine Aufwertung. Bei der abendlichen Evaluationsrunde beschweren sich deshalb einige türkische Teilnehmende über die Wortwahl. Deren Hintergrund kann erst jetzt restlos aufgeklärt werden.
Zuweilen setzt sich aber auch einfach Ungesagtes durch. In einem der Themenblöcke geht es um Frauenrechte in der Türkei. Die Debatte ist erhitzt. Zunächst dreht sich die Diskussion um die Frage, ob Kopftücher als Ausdruck des Glaubens an Universitäten gehören oder nicht. Die Meinungen klaffen auseinander, es geht um Religionsfreiheit und Säkularismus. Eine Teilnehmerin beginnt davon zu berichten, dass es Frauen in der Türkei nicht immer leicht hätten. Sie wird von einem Studenten unterbrochen. Auf Türkisch raunt er seinen Kommilitonen offenbar zu, auf dieses Thema nicht weiter einzugehen. Das Bild, das vom eigenen Land gezeichnet wird, sollte in diesem Punkt nicht zur Diskussion gestellt werden.
Die Türken und die Deutschen, die „eine“ und die „andere“ Kultur. Kann man Abgrenzungen durch Vergleiche vermeiden? Sind erstere für Identitätsprozesse nicht notwendig? Wie wichtig sind letztere? Möglicherweise ist es entscheidend, im Auge zu behalten, wie genau solchen Prozesse vor sich gehen.
Dazu müssen die vielbeschworenen Brücken geschlagen werden, die schon bei den kleinen Dingen anfangen, welche vor allem im sogenannten Buddy-Programm in den Vordergrund traten, in dem jeder Austauschstudent von einem Einheimischen betreut wird. „Es ist schön zu sehen, wie mein Buddy mit der Zeit immer weiter auftaut und sich öffnet“, berichtet eine deutsche Teilnehmerin. „Von zu Hause kennt sie nur gewöhnlichen Frischkäse und fand den Kräuterfrischkäse, den ich esse, irgendwie komisch. Jetzt hat sie ihn mal probiert“ – und er war gar nicht mal so schlecht.
Offen sein, neue Blickpunkte einnehmen, den Blick auf sich selbst durch den Blick der Anderen schärfen, das sind Dinge, die die Beteiligten und auch die Beobachter von IstKon lernen können. Es gilt, neue Denkweisen zu erproben – und nicht nur den Kräutern im Frischkäse eine Chance zu geben. Die Konstanzer Konferenz war ganz offensichtlich ein Anfang. Für das nächste Jahr wird gerade ein Gegenbesuch in Istanbul geplant.
Titel eingeben
Ich freue mich im nächsten Jahr alles über den gemeinsamen Besuch eines Gottesdienstes in einer Istanbuler Kirche zu lesen.
was ist Ihre Definition von unkompliziert und offen?
Meines Erachtens ist eine strenge Kleidervorschrift nicht “offen”. Wieso passen Sie Ihre Maßstäbe an diese Ideologie an?
Diese Veranstaltung geht doch wieder nur in eine Richtung: Der Westen soll von den Muslimen lernen – umgekehrt Fehlanzeige!