Der Garten als Beflügelung des eigenen Arbeitens? Schon Friedrich Schiller suchte nach einem alternativen Ort für seinen Schreibtisch. Am Rande Jenas ließ er in seinem Garten ein kleines Gebäude einzig zu diesem Zweck errichten.
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Eine leichte Brise weht durch die Stadt. Zu Schillers Gartenhaus ist es – wie eigentlich zu allem in Jena – nicht allzu weit. Vorbei an der „neuen Mitte“, wie das moderne Einkaufszentrum sich nennt, passiert man die Ruine des Anatomischen Theaters. Zu Schillers Zeit markierte dieses Gebäude eine der Ecken der Stadtmauer. Dort verließ man die Stadt und betrat die Vororte Jenas. Heute ist das kaum noch vorstellbar.
Zweihundert Jahre später ist der Weg zu Schillers Gartenhaus auch hinter dem Anatomieturm eine lebhafte, urbane Landschaft. Am Theater mit seinem Vorplatz vorbei, gelangt man zu dem Haus auf einem kleinen Weg, der Schillergäßchen heißt. In freundlichem Gelb lädt die Fassade des Hauses den Besucher zum Betreten ein. An einem warmen Tag wie diesem scheint es jedoch lohnenswert, dem Verlauf des Bauwerks zu folgen und am von Ernst Abbe angebauten Flügel vorbei durch das gusseiserne Tor direkt in den Garten zu treten.
Auf einer der beiden rechteckigen Wiesen stehen moderne Sitzmöglichkeiten, auf denen schon einige Besucher die Sonne genießen. Ein Kiesweg führt an der niedrigen Hecke entlang, die die Rasenflächen vom Rest des Gartens trennen. Der Kies knirscht, die Vögel zwitschern, Insekten summen auf dem Weg zur hinteren Seite des Gartens.
Auszug ins Grüne
Schiller, der gemeinsam mit seiner Frau Charlotte, seinen zwei kleinen Kindern und einigen Bediensteten das Haus als Sommerresidenz beziehen wollte, kaufte das Ensemble von Haus und Garten im Jahr 1797. Er musste einige Umbauarbeiten vornehmen und die vormals großzügigen Zimmer, die der Rechtswissenschaftler Johann Ludwig Schmidt bewohnt hatte, unterteilen, um Platz für alle Bewohner zu schaffen. Auch ließ er zwei neue Gebäude errichten: Die Küche wurde gleich zu Beginn in eine Ecke des Gartens gebaut – so ging keine Brandgefahr von ihr aus und sie war weit weg vom Abtritt, der als Anbau an das Haupthaus anschloss. Eine eigene Küche war ein Luxus. Die Mietwohnung, welche die Schillers in der Stadt bewohnten, und die auch ihr Winterquartier blieb, hatte keine.
Im Garten wurden die Obstbäume weiter gepflegt und die Familie baute Gemüse an, auch Mangold, dessen Samen Goethe geschenkt hatte. Ein Jahr später, 1798, nahm Schiller einen weiteren Eingriff an dem Ensemble vor und ließ an der hinteren Ecke des Gartens, gegenüber der Küche, sein „Belveder“, wie er es nannte, erbauen, ein kleines zweistöckiges Gebäude. Gartenzinne nannte Goethe es, weil es wie ein Türmchen auf der Ecke der Mauer saß. Schiller, der sich im obersten Stockwerk des Haupthauses schon eine großzügige Studierstube eingerichtet hatte, konnte hier über eine Freitreppe ein weiteres Arbeitszimmer erreichen, das zwar deutlich kleiner war, aber auch näher am Garten lag. Von der Nähe zur Natur erhoffte sich Schiller auch gesundheitliche Besserung – von Erkältungen geplagt, hatte er die städtische Mietwohnung häufig kaum verlassen können. Und tatsächlich, mithilfe der Frischlufttherapie ging es ihm in seinem Gartenhaus bald deutlich besser. Daneben sollte die Nähe zur Natur auch sein künstlerisches Schaffen beflügeln.
Schreibgeschichten
Ganz in die Ecke der Anlage geschmiegt ragt vor uns jetzt die Gartenzinne auf. Die Architektur des kleinen, zweistöckigen Gebäudes war der Versuch, das Erleben des Draußen in einen Innenraum zu holen, der in unmittelbarer Nähe zur Natur bleibt. Zusammen mit dem Philosophen und Leiter des Gartenhauses, Helmut Hühn, steige ich die kleine, heute rote Freitreppe empor, an deren Geländer die Farbe schon etwas abblättert. Was wir betreten, ist ein Nachbau der Gartenzinne. Das ursprüngliche Gebäude, eine einfachere Konstruktion, musste schon im 19. Jahrhundert abgerissen werden, da die Bausubstanz in der beständigen Witterung morsch geworden war. Schiller und auch seine Frau Charlotte liebten diesen Ort, sagt Hühn. Das architektonische Experiment ging auf.
Auch mein Eindruck ist positiv; die Luft im Zimmer, so stelle ich etwas verwundert fest, ist beinahe genauso frisch wie draußen, und das obwohl der Raum gerade erst aufgeschlossen wurde. Die Ausstattung des Arbeitszimmers, wie sie sich heute zeigt, ist eine Rekonstruktion aus den 1970er Jahren. Da steht ein hölzerner Schreibtisch, der Stuhl dazu mit dem Rücken zur Tür plaziert, links daneben eine Schillerbüste (davon gibt es hier definitiv nicht zu wenige), rechts eine zeitgenössische Ansicht des Gartens. Es ist nicht die vielgenutzte Zeichnung Goethes, sondern eine farbige Druckgrafik, die ein Universitätszeichner angefertigt hatte. Die Lage des Hauses am Tal der Leutra lässt sich gut erkennen. Über Eck zur Grafik hängt eine Manuskriptseite: Goethes Epilog zu Schillers „Die Glocke“, 1805, nach dem Tod des Freundes verfasst. Die besser lesbare Abschrift darunter verdeutlicht sogleich, warum diese Zeilen hier am richtigen Platz stehen: „Nun schmückt’ er sich die schöne Gartenzinne, Von wannen er der Sterne Wort vernahm, Das dem gleich ew’gen, gleich lebend’gen Sinne, Geheimnisvoll und klar entgegenkam.“
Mit dem Verweis auf die Sterne ist das entscheidende Merkmal der Gartenzinne angesprochen. Wie auch zu Schillers Zeit, sind die Wände des Zimmers in einem hellen Blau gehalten – der Versuch, das Gefühl des freien Himmels im Zimmer zu spiegeln. Die gerade Decke, so erklärt Hühn, war eigentlich eine offene Konstruktion, sodass der Blick bis in das Dachgestühl wandern konnte. Die Ausmalung mit Naturmotiven, also Blättern, Blüten und kleinen Vögeln, imitierte den Garten draußen und erweckte beim Blick nach oben den Eindruck, man schaue mitten in eine Baumkrone hinein. Von der ursprünglichen Bemalung geben nur noch Beschreibungen Zeugnis, Skizzen konnten bislang nicht gefunden werden. So begegnet man heute einer sehr nach siebziger Jahre aussehenden Bordüre mit Blumen, die den oberen Abschluss der Wände ziert.
Natursehnsucht und Gastlichkeit
Die Fenster zu allen drei Seiten öffnen den kleinen Raum zum Garten und der umliegenden Landschaft hin. Zur Rechten des Schreibpultes, wo heute die lärmende Hauptstraße verläuft, sah und hörte man damals die Leutra plätschern. Auf der gegenüberliegenden Seite schaut man in den Garten. Dazwischen liegt das Fenster in Richtung der Saale, wo der weite Ausblick die nahezu unberührte Natur einfing. Wendet man den Blick zurück zum Eingang, ist die Gartenlaube zu sehen. Neben der Verbindung zur Natur, wird also auch der Ort der Gastlichkeit in den Vordergrund gerückt, denn an dem dort stehenden, berühmten Steintisch fanden viele Gespräche mit Freunden und anderen Gelehrten statt.
Heute steht der Tisch unter einer neuen Pergola aus Metall, auf der schon einige Gewächse Ranken geschlagen haben und einen Laubencharakter wiederherstellen sollen. Die Platte des Steintischs ist ein Original – an ihr haben Schiller und Goethe oft diskutiert. Daneben stehen zwei weiße Holzbänke, auf denen das mittlerweile so vertraute Schild „Abstand halten“ der Stadt Jena klebt.
Ein romantischer Ort?
Ich wende mich zurück zur Gartenzinne. Dieses Gebäude fasziniert mich immer mehr. Mir wird klar, warum Schiller das kleine Gebäude sein „Belveder“ nannte, denn der Blick zu allen Seiten erfüllt das namensgebende Kriterium des „schönen Ausblicks“. Goethe dagegen sah eher einen mittelalterlichen Bezug, den er mit dem Begriff der Zinne aufrief. Auch andere Analogien bieten sich an. Ich denke an Palladios Villa Rotonda mit ihren vier Portiken, die, wie die Fenster von Schillers Arbeitszimmer, den Blick auf stark unterschiedliche Landschaftsausschnitte freigeben.
Doch all diese Vergleiche hinken an einer entscheidenden Stelle: Die Gartenzinne ist keine pompöse Villa, kein Herrenhaus mit Belvedere, kein mittelalterlicher Burgturm. Wie das gesamte Ensemble ist sie ein privater Rückzugsort, typisch für die Gartenkultur um 1800, nicht repräsentativ, sondern funktional, lieblich und gemütlich – man möchte sagen: romantisch, denn die angestrebte Nähe zur Natur, die sich in diesem kleinen Raum wie in einem Brennglas konzentriert, ruft mustergültig Motive der Sehnsucht nach höherer Einheit auf.
Für Schiller, der mit seiner Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung“ die Entfremdung des modernen Menschen von der Natur und die daraus resultierende, immer währende Sehnsucht hervorhob, scheinen diese Überlegungen in der Architektur der Gartenzinne Ausdruck gefunden zu haben – der Garten als „der süßeste Genuß unserer Menschheit“, wie Schiller schrieb. Und Goethe schrieb 1797 „eine unwiderstehliche Lust nach Land- und Gartenleben hatte (…) die Menschen ergriffen“ – das könnte man heute, in Zeiten von Corona, wieder ganz genau so sehen.