Der Kinofilm „Zwischen den Stühlen“ begleitet Berliner Referendare auf dem steinigen Weg ins Lehramt. Katja Wolf erlebte dabei unerwartete Tiefen. Im Interview erzählt sie, warum sie schließlich doch Lehrerin wurde.
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F.A.Z.: Frau Wolf, mit Blick auf den Filmtitel „Zwischen den Stühlen“: Wie ist das, als Referendar einerseits zu unterrichten und Noten zu geben, andererseits im Seminar selbst unterrichtet und bewertet zu werden?
Katja Wolf: Das war wirklich eine ziemlich zwiespältige Situation. In den ersten Tagen habe ich nur hospitiert und selbst noch keinen Unterricht gehalten. Schon da bin ich zunächst in eine regelrechte Schockstarre verfallen. Ich war für mein Referendariat an eine Berliner Sekundarschule mit einer ganz besonders schwierigen Klientel versetzt worden. Es war laut, es war chaotisch, es war den Lehrern kaum möglich, Unterricht zu halten. Gleichzeitig gab es aber auch für mich keinen wirklichen Plan. Nach etwa einer Woche wurde ich sofort als Vertretung mal in diese, mal in jene Klasse gesteckt. Ich meine, ich war ja selbst dort, um etwas zu lernen, aber hinter meiner Ausbildung schien kein Konzept zu stecken. Also musste ich ziemlich viel improvisieren. Gleichzeitig war der Anspruch aber auch, die Schulstunden, die ich zum Beispiel den Seminarleitern vorführen musste und die auch bewertet wurden, nach den neuesten pädagogischen Erkenntnissen von vorne bis hinten durchzuplanen und nach diesem Muster auch abzuhalten – selbst wenn die Rahmenbedingungen dafür überhaupt nicht gegeben sind. Das alles hat mich enorm unter Druck gesetzt, weil ich eine ziemliche Perfektionistin bin. Da saß ich nicht nur zwischen den Stühlen, das war eine Zerreißprobe.
Fühlten Sie sich durch ihr Studium angemessen auf die Praxis vorbereitet oder war es eher wie ein Sprung ins kalte Wasser?
Ich hatte zwar das Glück, bereits während des Studiums in Potsdam viele Einblicke in die Praxis bekommen zu haben. Schon im Bachelor war es dort normal, gemeinsam mit Kommilitonen Unterrichtsstunden vorzubereiten und abzuhalten, im Master ist man dann sowieso ein halbes Jahr an einer Schule und übernimmt auch dort immer wieder ganze Unterrichtseinheiten. Außerdem habe ich bereits vor dem Studium einige Schulpraktika gemacht. Und nicht zuletzt war mir auch durch meine Mutter, die Lehrerin an einer Berliner Grundschule ist, ganz klar, was im Alltag auf mich zukommen wird. Worauf das Studium aber meiner Meinung nach tatsächlich nicht vorbereitet, ist der Umstand, dass es derart schwierige Schulen gibt. An denen es kaum möglich ist, eine Schulstunde ohne größere Störungen abzuhalten, ein Referendar aber gleichzeitig beweisen muss, anspruchsvolle Lehrkonzepte umsetzen zu können. Klar, man lernt im Studium auch, wie man damit umgehen muss – theoretisch. Das in die Praxis umzusetzen klappt meiner Meinung nach aber selten. Nicht zuletzt, weil die Theorie dem Alltag hinterherhinkt. Die Kinder sind beispielsweise meiner Erfahrung nach schon in der Grundschule reifer, als noch vor zehn Jahren, kriegen mehr durch die Medien mit, lesen Bücher, die ursprünglich für Sechstklässler gedacht sind. In der vierten Klasse würden die sich totlachen, wenn ich sie mit dem Schweigefuchs zur Ordnung rufen würde. Und was einem an der Uni auch keiner sagt: Was für ein immenser bürokratischer Aufwand hinter dem Lehrerberuf steckt. Auch das müsste kommuniziert, sogar gelehrt werden.

Sie scheinen zunächst etwas pragmatischer mit den Gegebenheiten des Bildungssystems umzugehen als ihre Mitprotagonistin, eine Grundschullehrerin. Sie äußert immer wieder Kritik, wünscht sich beispielsweise, Kinder individueller fördern zu können. Haben Sie sich arrangiert oder sehen auch Sie Mängel?
Ich bin ein eher pragmatischer Mensch, sehe aber auch viele Mängel, weshalb ich mich mittlerweile schulpolitisch engagiere. Ich kann zwar nur für die Berliner Schulen sprechen, aber aus Gesprächen mit Kollegen aus anderen Bundesländern weiß ich, dass die Zustände ähnlich sind: Es fehlt an allen Ecken und Enden an Geld. Wir sollen beispielsweise Kinder auf die Zukunft vorbereiten, in der sie sich immer stärker im digitalen Raum bewegen müssen, zeichnen aber teilweise noch Tafelbilder mit Kreide. Und an vielen Schulen müssen sich mehrere Schüler im Computerkurs einen PC teilen. Durch die Sparmaßnahmen im Bildungssektor gibt es natürlich auch viel zu wenige Lehrer. Dadurch lastet enorm viel Arbeit und Druck auf sehr wenigen Schultern. Mich wundert es insofern auch überhaupt nicht, dass so viele Lehrer irgendwann einen Burnout bekommen.
Der Personalmangel bedingt gleichzeitig, dass Unterricht in der Tat kaum auf die individuellen Bedürfnisse einzelner Schüler eingehen kann. So fallen sowohl die schlechten, als auch die guten durchs Raster. Die Wirtschaft müsste viel mehr in die Pflicht genommen und direkt ins Bildungssystem, in ihren Nachwuchs, investieren. Was ich allerdings am schlimmsten finde ist der blinde Aktionismus der Politik. Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren wurde eingeführt, dass Kinder in der ersten Klasse nach Gehör schreiben, nicht nach der eigentlich korrekten Orthografie. Damit sollte ihnen der Einstieg erleichtert werden. Den Kindern hinterher die falsche Schreibweise wieder auszutreiben ist aber viel aufwendiger, als ihnen von Anfang an die korrekte beizubringen. Da wird reformiert um der Reform willen, weil das zudem der Agenda einer Partei oder eines Politikers gut zu Gesicht steht.

Zu Beginn der Doku hegt man keinen Zweifel, dass Sie das Referendariat gut überstehen werden. Sie wirken selbstbewusst und taff, ihre Mitprotagonistin eher unsicher, geplagt von Selbstzweifeln, wird viel kritisiert. Nach einem Wechsel an eine andere Schule blüht sie jedoch auf. Sie hingegen zweifeln nach sechs Monaten Referendariat daran, ob es sinnvoll ist, wirklich Lehrerin werden zu wollen. Was war passiert?
Ich hätte es mir vielleicht einfacher machen können, aber ich wollte unbedingt an eine Sekundarschule und beweisen, dass ich es schaffe, auch Kinder aus eher problematischen Verhältnissen zu unterrichten. Nun hatte ich wie gesagt das Pech, an einer besonders schwierigen Schule zu landen. Im Film sieht man ja zum Beispiel, dass der Lärmpegel oft ohrenbetäubend war – und das, obwohl meist mehr als die Hälfte der Kinder gar nicht erst zum Unterricht erschienen ist. Das wiederum hat es mir schwer gemacht, Lehrmodelle zu zeigen, die auf soziale Interaktion oder Gruppenarbeit fußen. Auch der Umstand, dass meine Schüler gerade alle in der Pubertät und viele deshalb außer Rand und Band waren, hat mein Referendariat in eine echte Belastungsprobe verwandelt. Nach sechs Monaten in den Sommerferien habe ich in Ruhe über das bisher Erlebte nachgedacht. Da kamen dann die ersten Zweifel, ob ich das wirklich die nächsten 30 Jahre machen möchte. Da ich aber nur noch ein weiteres halbes Jahr vor mir hatte, habe ich, mit viel Zuspruch meiner Mutter und meiner übrigens sehr netten und fähigen Kollegen, beschlossen, das Referendariat durchzuziehen. Nach meiner Abschlussprüfung bin ich dann allerdings richtig in ein Loch gefallen. Ich habe dann an eine Grundschule gewechselt und arbeite dort nun seit gut zwei Jahren in Teilzeit. Hier ist auch nicht alles paradiesisch, aber ich persönlich empfinde den Umgang mit jüngeren Kindern als leichter, sie erkennen Lehrer noch eher als Autoritätsperson an. Außerdem ist die Klientel eine andere, in meiner vierten Klasse arbeiten viele Schüler schon selbstständig und konzentriert.
Eine Seminarleiterin liest im Film ein Interview mit einem Rektor vor, der darin die Ansicht äußert, dass 50 Prozent der Lehrer ungeeignet seien für den Beruf. Sehen Sie das ähnlich?
Das wäre perspektivisch gesehen natürlich furchtbar, ich glaube auch nicht, dass die Hälfte der Kollegen schlechte Lehrer sind. Allerdings glaube ich auch, dass manche aus den falschen Gründen Lehrer werden, weil sie beispielsweise der Beamtenstatus und die damit einhergehende Sicherheit lockt. Deshalb treten manche Kommilitonen nach dem Studium auch in Brandenburg in den Schuldienst, dort besteht die Chance auf die Verbeamtung. In Berlin sind Lehrer immer angestellt. Ich finde das übrigens gut, ich würde gar nicht verbeamtet werden wollen. Vielen ist nicht klar, dass das auch Nachteile hat. Beamte sind dem Staat verpflichtet, werden deshalb oft viel härter angefasst und belastet, als angestellte Lehrer. Auch sind sie in ihren individuellen Entscheidungen viel stärker eingeschränkt, dürfen beispielsweise nicht für bessere Arbeitsbedingungen streiken.

Zum Schluss: Sollten sich Abiturienten, die darüber nachdenken, Lehramt zu studieren, den Film ansehen, um zu wissen, was wirklich auf sie zukommt – oder wird er eher abschrecken?
Vor kurzem war ich mit meiner Mutter auf einer Podiumsdiskussion über den aktuellen Zustand des Berliner Bildungssystems, ein Impulsgeber für die Veranstaltung war natürlich der Film. Auf der Heimfahrt waren wir uns beide einig, dass er unbedingt Lehramtsstudierenden im ersten Semester gezeigt werden sollte. Er ist authentisch, beschönigt nichts, zeigt aber gleichzeitig auch, dass es sehr schön sein kann, Kinder etwas beizubringen – und das alles durchaus amüsant und liebevoll. Ich glaube, das würde Einsteigern enorm dabei helfen, das Für und Wider dieses Berufs für sich abzuwägen. Er erlaubt einen ersten Ausblick auf das Referendariat und zeigt, welche Schwierigkeiten auf einen zukommen können. Übrigens kenne ich aber auch etliche Kollegen, die ihr Referendariat super fanden.
Die Fragen stellte Eva Heidenfelder
Hier ein weiteres Blog-Interview zum Thema “Lehramtsanwärter”
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Katja Wolf, 34, studierte Deutsch und Geschichte für die Sekundarschule an der Universität Potsdam und trat nach dem Referendariat in den Schuldienst ein. Heute unterrichtet sie an einer Berliner Grundschule, zudem leitet sie dort den Fachbereich Deutsch und ist Mitglied der Schulkonferenz.
Über den Film
Über einen Zeitraum von drei Jahren begleitete der junge Filmemacher Jakob Schmidt, geboren 1989 in Würzburg, von 2013 an die Sekundarschullehrerin Katja Wolf, die Grundschulpädagogin Anna Kuhnhenn und den Gymnasiallehrer Ralf Credner durch ihr Referendariat an Berliner Schulen. Ihre Erlebnisse mit Schülern, Eltern und Kollegen hielt er mit der Kamera fest. Daraus entstand der 102 Minuten lange Film „Zwischen den Stühlen“, seine Abschlussarbeit an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Der Film gewann bereits den Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts auf dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 2016 sowie den DEFA-Förderpreis für einen herausragenden Dokumentarfilm. „Zwischen den Stühlen“ ist seit dem 18. Mai in deutschen Kinos zu sehen.
individualpsychologische Beraterin
Hallo,
Ein Film über die ,ich sage mal, unzumutbaren Zustände in Schulen zu machen ist eine gute Idee .
Mir fehlt nur dazu den Weg aus dieser Misere herauszufinden.Das Schulen oftmal mit Überlastung und Überforderung zu tun haben ist ja immer wieder ein Thema.Durch diesen Film wird es nochmal sichtbarer.
Auszusteigen aus diesem nicht mehr zeitgemäßem Bildungssysysthem ist unbedingt ein zweiter Schritt. Es ist dringend erforderlich, dass Lehrer andere Sichtweisen und Methoden im Umgang mit ihren Schülern erhalten und zwar in ihrer Ausbildungszeit!!
Eine Methode ist die der Individualosychologie nach Alfred Adler,Rudolf Dreikurs und Theo Schoenaker. “Ein störendes Kind ist ein entmutigtes Kind” , “Bevor ein Kind Schwierigkeiten macht hat es welche”,”Kinder brauchen Ermutigung, wie Pflanzen das Licht und Wasser” sind Sätze die diese Menschen geprägt und Methoden der Anwendung entwickelt haben.
Das alleinige Aufzeigen von den emensen Schulproblemen ist aus meiner Sicht nicht ausreichend ,geschweige denn effektiv.
Vielen Dank
Mfg
Conny Jaspers
Allein die Schulkultur ist ausschlaggebend.
Als überzeugter Gesamtschulvater schickte ich alle meine 5 Kinder dorthin – mit Gymnasialempfehlung. Während ich als Gymnasiallehrer mein Geld in der Industrie verdiente. Nach 25 Jahren ging ich noch einmal als Gymnasiallehrer an die Gesamtschule meiner Kinder – und war entsetzt: Übergroße Klassen, beengte Räume, kaum Möglichkeit, meinen Computer einzusetzen und dann noch eine extrem schwierige Schülerclientel: eine Handvoll Unangepasster reicht schon, die gesamte Lernsituation aufzumischen. Dazu kommen die Hilfsbedürftigen mit ADS, ADHS, Lese-/Rechtschreibschwäche, etc. Gleichzeitig sollen die gymnasialen Schüler (meistens nur ganz wenige) besonders gefordert werden – das alles bei einem ständigen Lärmpegel, der jegliche Konzentration unmöglich macht. Dazu gab es “schülerzentrierte” Lernstunden, in denen zB Hausaufgaben gemacht werden sollten. Auch da machte der allgemeine Lärm- und Störungspegel jegliche konzentrierte Arbeit unmöglich. Das alles während man im Kollegium Schülerrechte diskutierte – meine Frage nach den Schülerpflichten erzeugte lediglich indigniertes Stirnrunzeln. Als ich erfuhr, dass die Kinder der Lehrer idR ins Gymnasium geschickt wurden, wusste ich, dass ich am dieser Schule falsch war. Ich verließ die Schule und nahm zugleich meine Kinder mit.
Danach half ich an einer ziemlich verrufenen Gesamtschule mit sehr hohem Migrationsanteil der Schüler aus. Ich hatte Klassen mit ausschließlich muslimischem Elternhaus. Trotzdem gelang mir dort ein vergleichsweise guter Unterricht. Warum? Zuallererst weil die sehr engagierte Schulleiterin hinter mir stand bei allen Störungen und Disziplinarmaßnahmen, die ich ergriff. JEDER Störung wurde konsequent nachgegangen und gegebenenfalls geahndet. Die Schüler wussten genau, was ging und was nicht. In der Schule herrschte eine völlig andere Kultur: Lehrer wurden unbedingt geachtet. Plötzlich konnte ich tiefenentspannt unterrichten. Ein Genuss. Und das obwohl meine Schüler heftig pubertierten, obwohl meine Physiksammlung im Wesentlichen aus Schrott bestand und obwohl der Zustand der Gebäude eine Beleidigung für jedes Auge waren.
Fazit: Hört endlich auf damit, ständig Entschuldigungen dafür vorzubringen, warum Unterricht scheitern muss – sprich: die Schüler, der Migrationsvordergrund, die Sachmittel, die Tafel, … Nein, kümmert euch endlich um die richtige Schulkultur, die Lernen erst möglich macht. Dafür muss die Schulleitung gemeinsam mit dem Kollegium sorgen. Nicht die Schüler sind verantwortlich oder die Sachen – Nein, allein die Lehrer sind verantwortlich. Sie müssen nur wollen – und von der Schulleitung und Schulamt unterstützt werden.
sic! Was für ein wohltuender Beitrag, der ohne die ansonsten lehrertypische Larmoyanz auskommt.
ceterum censeo ist allerdings auch einer jener Lehrer, die ausgesprochen gut sind und auch eine andere als die Schulwelt erlebt haben.
Disziplinlosigkeit ein Naturgesetz?
Wenn ich Abiturienten frage, ob sie nicht vielleicht Lehrer werden wollen, bekomme ich regelmäßig als Antwort” Niemals, bei den Schülern!” Die Schüler selbst empfinden die Situation an den Schulen, die ständigen Störungen, den Kampf um Disziplin als extrem abschreckend. Dabei haben wir überhaupt keine Problemschüler oder grundlegende Probleme, nur den ganz normalen Wahnsinn.
Ich denke hier ist die ganze Pädagogik mit Ihren Konzepten in die Irre gelaufen. Und nein, die Autorität des Lehrers erwächst eben nicht nur aus seiner Kompetenz, daß würde nämlich voraussetzen, daß der Schüler diese überhaupt erkennen könnte…
Dagegen sind die Fragen, ob man ein Whiteboard einsetzt oder genügend Laptops hat oder nicht völlig zweitrangig.