Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Die EM klingt grauschwarz kariert

| 6 Lesermeinungen

Alle reden über Fußball. Aber keiner spricht über die Geräusche, die er macht. Überwältigend sind sie für Menschen, die Töne sehen können. Kompaktseminar für Synästhetik: Public Viewing als Wahrnehmungsschule.

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Visitors of a restaurant watch the Euro 2016 Quarter final between France and Iceland in Cassis, France, 03 July 2016. Photo: Federico Gambarini/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit© dpaPublic Viewing in Frankreich

An fast keinem öffentlichen Ort kann man sich derzeit dem Fußball entziehen. Selbst in Berliner indischen Restaurants werden die Spiele der Europameisterschaft auf großen Bildschirmen übertragen. Fast alle halten diese gleichzeitige Erlebniszufuhr unterschiedlicher Sinnesorgane für äußerst komfortabel, nur für den Synästhetiker ist sie eine ziemlich anstrengende Steigerung an Komplexität.

Die Welt eines Synästhetikers kann zum Beispiel so aussehen: Der Tag Mittwoch ist ein dicker blauer Strich (die Buchstaben des Wortes sehen nochmal anders aus), die Zahl vier ist dunkelrot, der Klang eines tiefen Orgeltons ein gelbbrauner Kegel. Es sind keine Imaginationen, die bewusst hervorgerufen werden oder gar ausgedacht sind, sondern sie entstehen automatisch; ein Synästhetiker kann sie nicht abstellen. Synästhesie beschreibt eine Wahrnehmung, in der die Reizung eines Sinns das Reizempfinden eines anderen auslöst. Wenn ich zum Beispiel etwas schmecke und rieche oder Töne und Geräusche höre, sehe ich sie gleichzeitig auch; manche Gerüche, aber mehr noch Laute, zeigen sich in Farben, andere in räumlichen Dimensionen oder in Form von Mustern, Licht und Schatten. Das ist vielleicht ein bisschen so wie auf einem LSD-Trip. Nur hört die Wirkung hier nicht auf. Man ist immer so. Sozusagen von Natur aus. Ohne die Einnahme halluzinogener Substanzen.

Die Geräusche einer Sportart können besonders viele ungewollte Reize auslösen. Was auf den Bildschirmen des Public Viewings während eines Fußballspiels zu sehen ist, interessiert mich im Grunde nicht. Also drehe ich mich in öffentlichen Räumen weg, sobald die Omnipräsenz der Bildfläche mich dazu nötigt – die EM findet statt, was soll man machen. Weil ich Synästhetikerin bin, sehe ich aber auch das, was ich nur höre. Und das ist im Fall einer Fußballübertragung wahrlich kein Vergnügen. Dabei beginnt es gar nicht mal so schlecht. Der Klang der Trillerpfeife, mit der jedes Spiel eröffnet wird, zeigt sich in Form einer rötlich-violetten, gestrichelten Linie, die mitten im Raum schwebt, sie ist begrenzt und in ihrer Farbsättigung noch matt, doch umso größer wird die Hoffnung darauf, was nach diesem zaghaft kolorierten Start, fast nur eine Andeutung, kommen mag. Die Trillerpfeife macht ein Geräusch, dessen Aussehen hohe Erwartungen weckt. Doch anschließend werde ich jäh enttäuscht.

June 22, 2016 - Lille, United Kingdom - An Irish dad brings his baby along to watch the match with ear defenders during the UEFA European Championship 2016 match at the Stade Pierre Mauroy, Lille. Picture date June 22nd, 2016 Pic David Klein/Sportimage |© dpaIrischer Fan mit schallgeschütztem Kind

Da ist zunächst die grölende Menge der Fans: Die Laute, die sie von sich geben, produzieren ein grauschwarzes dreidimensionales Bild mit Wänden links und rechts, vielleicht einem Höhleneingang vergleichbar, darüber eine gleichmäßig karierte Schraffur in dünnen weißen Linien. Hängt dieser Sinneseindruck mit meiner Einstellung gegenüber dem Fußball zusammen? Ich glaube nicht. Es gibt zum Beispiel extrem schräge Musik, die die wenigsten anhören mögen, ich aber schon, weil sie so tolle Formen und Farben produziert.

Diese schraffierte Front bleibt mindestens neunzig lange Minuten erhalten. Sie flimmert, aber wird nie zum Verschwinden gebracht. Der Blick ist nicht frei. Permanente Anstrengung ist die Folge. Es fühlt sich so an, als könnten die Sinne sich nicht entfalten. Manchmal wird die düstere Dauerfront mit hellen Wellen überlegt. Das passiert dann, wenn die Fans zu singen beginnen, wenn man es so nennen möchte. Die Materie beginnt sich in diesen Momenten zu verdoppeln. Der Raum wird enger. Schön sieht das nicht aus.

Dann kommt der Kommentator. Wobei bemerkenswert ist: synästhetisch betrachtet ist keine Differenz zwischen unterschiedlichen Sprechern zu erkennen. Der Ton der Kommentatoren ist immer laut und eng. Ihre Stimmen sehen immer gleich aus: Eine unendlich lange Röhre, sehr schmal, schwarzer Rand, innen dumpfes Licht. Eine einzige Hoffnungslosigkeit. Alles bleibt schwarz und grau und dunkelweiß. Fußball produziert keine Farben, für mich zumindest nicht. Er ist für sich überlappende Sinne durchgehend strapaziös. Einzig beim Singen der Nationalhymnen verhält es sich anders, was aber wahrscheinlich weniger mit den Nationen als mit dem Versuch zu tun hat, so etwas wie Musik zu machen.

ARD Fußball Euro EM 2016 - Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl Moderator Matthias Opdenhövel (li.) im Gespräch mit Fußballexperte Mehmet Scholl © WDR/Sachs, honorarfrei - Verwendung gemäß der AGB im Rahmen einer engen, unternehmensbezogenen Berichterstattung im WDR-Zusammenhang bei Nennung "Bild: WDR/Sachs" (S2), WDR Presse und Information/Bildkommunikation, Köln, Tel: 0221/220 -7132 oder -7133, Fax: -777132, bildkommunikation@wdr.de© WDR/SachsUnendlich lange Rören in dumpfem Licht: Die Stimmen von Fußball-Kommentatoren (hier Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl) hören sich alle gleich an.

Hat überhaupt schon mal eine Frau ein Fußballspiel in einem großen Wettbewerb kommentiert? Vielleicht wäre das einmal eine Idee, nicht nur in emanzipatorischer Hinsicht, das sowieso, sondern auch aus synästhetischen Gründen. Es gibt Stimmen, deren visueller Farbenreichtum offen und unbegrenzt ist und die Kreativität der Sinne anregt. Die gleichtönigen männlichen Stimmen der Fußballübertragung bieten synästhetisch gesehen nichts von alledem. Vielleicht sollte man den Synästhetiker in dieser Hinsicht einfach mal als Seismographen ernst nehmen.

Die entmutigende Akustik des Spiels bleibt bedauerlicherweise die ganze Zeit erhalten. Zwischendurch zeigt sich immer wieder die hinterhältige Trillerpfeife, die verspricht, was sie nicht hält. Neunzig Minuten synästhetisches Fußballerleben – und ich stehe kurz vor einer Depression. Das Pendel schlägt zwar aus und bringt ein wenig Abwechslung ins Spiel, wenn ein Tor fällt. Kurz flackern dann neonartige Farbkleckse auf, mal pink, mal gelb, mal grün. Doch nachhaltigen Trost findet man auch hierbei nicht. Keine Befreiung vom grauschwarzen Grundton, kein Einstürzen der Wände, der Klang visualisiert sich bloß in Form von Beulen im Raum oder etwas, das sich darüber legt.

Jubelnde walisische Spieler und Kinder von ihnen nach dem Schlusspfiff auf dem Rasen; Kind; Freude, Jubel, celebration, Sieger; Achtelfinale, Wales (WAL) - Belgien (BEL) 3:1, in Lille, am 01.07.2016; Fussball EM 2016 in Frankreich vom 10.06. - 10.07.2016. | Verwendung weltweit© dpaErlösung: Jubelnde walisische Spieler und Kinder nach dem Schlusspfiff auf dem Rasen in Lille

Eine Rückkehr in die Welt der Farben und des Formenreichtums ist erst am Ende in Sicht. Wenn das Fußballspiel vorbei ist, die Bildschirme ausgeschaltet werden und die Fans verschwunden sind, stellt sich ein wohliges Gefühl ein. Ruhe. Freiheit. Frieden. Die visuelle Anstrengungsfront ist weg. Die Sinne können sich endlich wieder erholen. Freuen kann sich jetzt auch ein Synästhetiker. Bis zum nächsten Spiel.


6 Lesermeinungen

  1. jana sagt:

    Synästhesie und Fußball
    Ich bin auch Synästhetikerin und liebe Fußball. Die EM ist immer eine Art Familienereignis bei uns. Public Viewing kommt bei mir aber auch nicht infrage, viel zu viel unnötiger Lärm.
    Was mich stört, ist dass Synästhetiker pauschal als introvertiert eingeordnet werden, da sie sensibel sind. Ich bin hochsensibel und extrovertiert.

  2. Xose sagt:

    So
    Nun, Ich bin Synästhetiker und mag Fußball. Jeder von uns empfindet es anders.

  3. John Christiansen sagt:

    Cand.med.
    Auch ohne über diese interessante Variante menschlichen Empfindungsvermögens zu verfügen stimme ich zu: Fußballspiele klingen schrecklich. Danke für den Artikel!

  4. Christo sagt:

    Auch wenn ich keine Formen sehe...
    …so sind die Kommentatoren furchtbar. Auch besagte Frau. Die im Radio sind anders – besser? Eher nicht. Habe tatsächlich schon mal was über Synästhetiker gelesen, doch richtig bewußt ist es mir mit diesem Artikel geworden. Vielen Dank dafür.
    Scheint schwer zu sein, manchmal. Ich selbst bin fußballbegeistert und kann nicht wegschauen. Das ist auch schwer, vor allem, wenn ich mal wo bin und mit den Menschen mich beschäftigen will.

  5. Tommi sagt:

    Das ist aber nicht alles schlecht
    Die Atmosphäre beim Fußball ist aber durchaus auch bunt und schön. Ich sehe den text, den die Kommentatoren sprechen, das sieht je nach Betonung und Stimme auflockernd und schön glänzend aus. Public Viewing ist für mich als Hochsensibler allerdings eher anstrengend.

  6. spnr sagt:

    Ach ja...
    Schade, dass kein Synästhetiker gefunden wurde, der Fußball mag. Ich selbst habe auch bildhafte Vorstellungen bei Klängen, aber ich glaube nicht, dass ich ein 100prozentiger Synästhetiker bin. Geigen z.B. empfinde ich immer als hellblau-gleißenden Strahl.
    Jedenfalls stimmt die Aussage über die Kommentatoren nicht. Die sprechen nicht immer nur gedrückt. Und eine Kommentatorin gab es ja dieses Mal auch.
    Jedenfalls klingt das ganze furchtbar trostlos, was aber meiner Meinung nach erst in zweiter Linie mit den synästhetischen Fähigkeiten der Autorin zu tun hat. Am Ende klingt es, also ob aufgrund des Lärms kein Synästhetiker fußball(turnier)begeistert sein kann. Und genau das glaube ich nicht.

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