Neuerdings wollen Hochschulen neben guten Noten und vielen Praktika auch sozial engagierte Studenten. Aus diesem frommen Wunsch ist in kurzer Zeit ein absurder Wettbewerb entstanden.
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Ist es nicht ein Irrsinn, welche Bedeutung dem „sozialen Engagement“ im heutigen Studentenleben zukommt? Durch Bologna hat diese neue Währung nach Stiftungen und Personalabteilungen längst auch die deutschen Hochschulen erfasst. Denn die vermeintlichen Reformen schufen einen übertriebenen Kampf um das viel zu geringe Angebot an Masterplätzen. Mit der Folge, dass die Ehrlichen zu Verlierern und die Scharlatane zu Gewinnern geworden sind. Dabei sollte doch alles so schön transparent werden – und akademische Leistung europaweit vergleichbar.

Wenn es im Erasmussemester aber allein schon für Museumsbesuche, schiere Pünktlichkeit und das Häkchen in der Anwesenheitsliste schon ECTS-, also Leistungs-Punkte gibt, wird schnell klar, dass hier wieder einmal eine gut gemeinte europäische Idee gründlich versenkt wurde. Wobei man böse hinzusetzen könnte, dass das „Europäische“ an dieser Idee ohnehin fast nur aus Tresenbegegnungen in künstlichen Erasmus-Welten besteht.
Schon in der deutschen Hochschullandschaft entpuppt sich das Mantra der Vergleichbarkeit von Noten und Abschlüssen als großer Murks. Weder steckt hinter jedem ECTS-Punkt und jeder Prüfungsleistung der gleiche Aufwand, noch versteht jeder Lehrstuhl zwischen Passau und Flensburg unter den „Grundlagen der Volkswirtschaftslehre“ dasselbe. Die Folge: Masterstudiengänge, von denen es bekanntlich ohnehin zu wenige gibt, werden exklusiver statt offener. Nach irgendwelchen Kriterien müssen die Hochschulen schließlich aussieben, wollen sie ihre fachliche Ausrichtung aufrechthalten. Und das ist ihr gutes Recht, solange die Anforderungen klar und eindeutig definiert sind.
Mit der vielgerühmten Transparenz ist es bei der Masterplatzvergabe aber nicht weit her, von Fairness kann keine Rede sein. Denn das Zusammenspiel von OECD-konformer Studentenexplosion, Bestnoteninflation und Kampf um die wenigen Masterplätze hat einen Prozess in Gang gesetzt, der die studentische Selbstbestimmtheit zunehmend einschränkt. So interessieren sich inzwischen nicht mehr nur Arbeitgeber, sondern auch Hochschulen zunehmend dafür, was Studenten abgesehen vom akademischen Erfolg sonst noch so aufzubieten haben. Damit rückt plötzlich ein eigentlich rein privater Bereich ins öffentliche Interesse – öffentlich, weil bewerbungsrelevant.
Ob für Master, Beruf, Werksstudentenjob, Hiwi-Stelle, Praktikum, Stipendium, Auslandssemester: Die früher belanglos „Sonstiges“ genannte Lebenslaufrubrik genießt heute als „Außerfachliches Engagement“, „Extracurriculare Aktivitäten“, oder – besonders reputabel – „Ehrenamtliche Tätigkeiten“ größte Bedeutung. Studienerfolg, Praktika, Sprach- und IT-Fertigkeiten bleiben zwar wichtig, wer jedoch bei der privaten Begleitmusik den Ton nicht trifft, ist raus. Forscher- oder Verwaltungsstellen mögen davon noch ausgenommen sein, wo aber das Hohelied von „Teamfähigkeit“, „Kommunikation“ und „Persönlichkeit“ gesungen wird oder einfach nur die Nachfrage das Angebot übersteigt, wird nach dem „Sozialen“ selektiert. Mit der Konsequenz, dass Studenten ihrem freizeitlichen Tun eine immer größere strategische Bedeutung beimessen und minutiös dokumentieren, was sie neben Studium und Praktika noch so alles machen.
Dabei haben auch vorangegangene Generationen nicht nur Grashalme auf der Mensawiese gekaut und sich Rilke vorgelesen. Schon bevor aus dem Diplom der Master und dem Studenten der Studierende wurde, kam man in Verbindungen zusammen und musizierte oder trainierte in Vereinen. Mit der Bildungsexpansion der siebziger Jahre wurden studentische Mitbestimmung und Hochschulpolitik dann zum großen, offenen Raum, in den man sich einbrachte – und der mal als Boxring für frenetische Idealisten, mal als Spielwiese für angehende Politiker interpretiert wurde. Viele waren natürlich auch einfach aus Spaß am Engagement dabei – und das gibt es auch heute noch.

Was sich aber bei den meisten Studenten ganz konkret verändert hat, sind, neben der Vielfalt an Möglichkeiten, die Motive, mit denen man sich engagiert. Abgesehen von fachnahen Organisationen sind Hochschulen heute von einer derartigen Masse an inneruniversitären Vereinen, Initiativen und Programmen übersät, dass kein Studienanfänger mehr durchblickt. Hinzu kommen außeruniversitäre Hilfsorganisationen und soziale Einrichtungen, die seit Jahren einen bemerkenswerten Zulauf verzeichnen. Irgendwo wird jeder fündig. Ist doch schön, könnte man sagen: Studenten bringen sich ein, machen mit, rangeln sich um Ämter, dienen dem Gemeinwohl. Völker, schaut auf diese Studenten, wie sozial sie doch sind!
Schade nur um den Studenten, der daheim seinen behinderten Bruder pflegt – freizeitfüllend. Oder seine demenzkranke Großmutter. Denn zertifizieren kann diesem Studenten keiner, was er neben der Uni tagtäglich an Engagement erbringt. Natürlich könnte er es im Lebenslauf erwähnen und im Bewerbungsgespräch, wenn es zu einem solchen überhaupt kommt, davon erzählen. Aber vielleicht möchte er es gar nicht, weil es den Chef nichts angeht und das Studienbüro noch weniger. Im Wettbewerb mit dem Kommilitonen, der dieselben Noten hat, aber nebenher noch als AStA-Referent und Initiativenvorstand tätig ist, wird er aber sehr wahrscheinlich den Kürzeren ziehen. Und dasselbe gilt für den Wanderfreund, der mit Bekannten allwöchentlich den Taunus durchstapft und ein großartiger Geschichtenerzähler ist, gar nicht spießig, sondern ziemlich cool. Jeder vernünftige Mensch würde ihm Team- und Kommunikationsfähigkeit attestieren. Einzig: Es fehlt das Zertifikat. So bleibt seine Lebenslaufrubrik mager.
Und weil in dem grotesken Wettbewerb um das „soziale Engagement“ genug schwarze Schafe mitspielen, weiß man inzwischen leider gar nicht mehr, welches Ehrenamt wirklich ehrlichen Motiven entspringt. Die Künstler des Marketings blasen nichtige Tätigkeiten zur großen Wohltat auf und entdecken zwei Semester vor der Masterbewerbung plötzlich ihr Herz für Flüchtlinge – eine Möglichkeit, die manch sozial schwächer gestelltem Studenten schon deshalb verwehrt ist, weil er für seine hohe Miete klassisch jobben muss, als Kellner im Café oder als Aufpasser in der Bibliotheksverwaltung. Lebenslaufrelevantes Sozial-„Außercurriculares“? Woher soll das kommen bei ihm?
Und der duale Student, den es halbjährlich nach der Praxisphase zum Studieren in eine andere Stadt zieht? Seine logistischen und zwischenmenschlichen Kompetenzen sind möglicherweise vorbildlich. Aber kann er neben Arbeit und Dualer Hochschule noch ein Mentorenprogramm leiten? Schwer vorstellbar bei zwanzig Urlaubstagen.
Es läuft etwas falsch bei den neuen Zusatzkriterien für Bewerbung und Auswahl. Bologna ist daran zwar nicht alleine schuld, hat durch die Separierung des Masters vom Bachelor jedoch zugelassen, dass der Irrsinn um dokumentiertes „soziales Engagement“ von den Auswahlverfahren aus Stiftungs- und Personalbüros auf die Hochschulen überschwappte.
Es ist schwer zu sagen, wann genau postmaterielle Gestaltungsfreude und kapitalistischer Optimierungswahn jene unheilvolle Allianz eingingen, die jetzt nur noch beklagt werden kann. Der Druck jedenfalls, sich aus Karrieregründen zu engagieren, ist für Studenten heute Realität. Im allgemeinen Überbietungswettbewerb haben auch die Skeptiker längst die Grenzen ihres Privatlebens einreißen müssen, momentan schaukeln sich alle immer weiter hoch. Und leider vermitteln Stiftungen und Hochschulen dabei den Eindruck, als hätten sie noch gar nicht realisiert, dass das Ganze ein absurdes Theater ist, bei dem sie das Publikum sind.
Herrliche Formulierung
Das Oxymoron “postmaterielle Gestaltungsfreude und kapitalistischer Optimierungswahn ” gefällt mir. Herlich!
Aber vergessen wir nicht, dass beim postmateriellen Gestaltungswahn doch auch gutes Output generiert wird.
Kurz, es ist eigentlich das Gute, was hier zynisch instrumentalisiert wird. Das würde ich als Personaler ablehnen und mir lieber den Kandidaten herauspicken, der seine Ona gepflegt oder ein Kind bekommen hat.
Ich bin genau von diesem Problem betroffen
Sehr guter Kommentar Herr Zàboji!
Ich habe im Bachelor dual studiert und nebenbei noch Nachhilfe für Bekannte gegeben. Kein Zertifikat. Meine Eltern sind Selbstständig und auch dort habe ich noch mitgeholfen, neben Studium und Arbeit. Jetzt, im Master, arbeite ich die maximalen 20 Stunden, belege 7 Fächer (bin immer unter Regelstudienzeit), habe eine Arbeitswoche von 55-60 Stunden (ohne Ausarbeitungen) und muss meine 20 Urlaubstage im Jahr für Blockveranstaltungen und Klausurphasen nehmen. Ich werde meinen Master mit 23 in der Tasche haben, bis dahin sogar noch ein Auslandssemester absolviert haben, und das wird mir keiner danken…
Es könnte einfacher sein!
Mein einziger Trost ist, dass ich einen Fachbereich studiere, in dem chronische Unterbesetzung in Deutschland herrscht. Deshalb frage ich mich auch oft, ob der Stress es wert ist.
Zwang zur Selbsterfindung
Die Massen an Angeboten die an den Universitäten wie Billigware auf dem Basar, unter dem Motto “da ist für jeden was dabei” feilgeboten werden, erzeugen einen enormen sozialen Druck. Es zählt überhaupt nicht mehr ob man sich in seiner Freizeit engagieren “will”. Der Großteil der Leute verbringt ihre Freizeit sowieso am liebsten mit Freunden, vorm Fernseher oder beim Lesen und nicht mit halbherzigem, aber erzwungenem Engagement. Und das ist OK !!
Zurück zum Diplom
Gott sei dank hab ich dieses Problem nicht, da es mir in Dresden noch möglich ist auf Diplom zu studieren. Wenn ich befreundete Studenten sehe die jetzt schon im Achteck springen müssen um sich irgendwie einen Masterplatz zu ergattern, tut es mir wirklich leid. Die Unterteilung in Bachelor – Master macht für mich allgemein keinen Sinn. Diplom ftw!
Sie vergessen was das Ziel des Studiums ist die selbst ausbeutende Eierlegende Wollmilchsau
Bologna hat nicht das Ziel gehabt die Bildung effektiver zu machen, sondern den besser ausbeutbaren Studenten zu erzeugen. Der soll im Studium darauf vorbereitet werden hinterher so wenig wie Möglich Fähigkeiten haben sich gegen Ausbeutung zu wehren.
Nicht umsonst sind viele sehr erfolgreiche Menschen wie Billy Gates Studienabbrecher in den USA. Desto mehr wirkliche Bildung desto unabhängiger der Mensch, das ist bei einem Großteil der Arbeitgeber unerwünscht.
Ziel des Studiums und eigene Ziele
Mal wieder Verschwörungstheorie pur! Ich bin als dualer Student durchaus und gerade deswegen in der Lage, mich mit aktuellen Themen politischer, wirtschaftlicher und kultureller Natur kritisch auseinanderzusetzen. Hier kommt es aber vor allem auch auf den Willen an, sich in manchen Dingen über das vorgegebene Maß hinaus in Eigeninitiative weiterzubilden. Ganz egal wie das Programm heißt. Kein Studium wird jemals in der Lage sein, alles Wissen der Welt zu vermitteln. Zeitungen und Nachrichten lesen, mal den ein oder anderen kritischen, historischen Roman in die Hand nehmen und selber denken. Darauf kommt es an aus meiner Sicht. Schule, Studium etc ist Grundlage. Oder glauben Sie, dass die Intellektuellen der heutigen Zeit alles, was sie wissen, rein ihren Studien der vorangegangenen Bildungssysteme entnommen haben?
gibt es in den USA schon lange
meine Schwester lebt in den USA und hat zwei Kinder in Eliteuniversitäten in Boston untergebracht, u.a. weil sie sich das sogenannte volunteering leisten konnten. Es gibt dazu einen eigenen, gut florierenden Wirtschaftszweig (z.B. http://www.goeco.org). Meinen 16jährigen Sohn hatte ich auch schon als Volunteer auf einem sündhaft teuren “Forschungsschiff” auf dem Mittelmeer zum Delfinebeobachten angemeldet, es aber dann doch sein lassen, weil er es für den Bachelor noch nicht braucht. Das Problem der noch stärken Bevorzugung von rich kids ist in den USA schon lange erkannt, aber noch nicht gelöst. (z.B. https://www.forbes.com/2006/09/13/college-admissions-myths-lead-careers-cx_de_college06_0914myths.html)