Ermittler werden im TV-“Tatort” oft als Alleskönner dargestellt. Wie Tatortarbeit in der Realität geleistet wird, können Jura-Studierende der Uni Wien bei Aline Girod-Frais lernen.
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Wie ist Ihnen die Idee zu dem Kurs „Theorie und Praxis der Tatortarbeit“ gekommen?
Aline Girod-Frais: In der Schweiz wird die Forensik als eigenständige Wissenschaft – die „Wissenschaft der Spur“ – betrachtet und man kann sie im Bachelor/Master/PhD-System studieren, was ich gemacht habe. Studierende beschäftigen sich dabei mit der Sicherstellung und Auswertung von Spuren am Tatort und im Labor. Europaweit existiert ansonsten so ein Studium fast nicht. Ich bin nach meinem PhD nach Österreich gekommen, um mein Postdoc-Projekt “Der Stellenwert der forensischen Wissenschaft in Österreich” in der Abteilung für Kriminologie der rechtswissenschaftlichen Fakultät Wien durchzuführen. Nachdem ich mich mal ein bisschen in das österreichische Jura-Studium eingelesen hatte, dachte ich mir: Die Studierenden sind herangehende Rechts- und Staatsanwälte, aber haben keine Ahnung von Spurensicherung. Da ich es aber für spannend und wichtig hielt, diese Aspekte für sie während des Studiums zugänglich zu machen, habe ich den Kurs entwickelt.
Warum existiert denn die forensische Wissenschaft nicht als Studium in Österreich?

Das hat historische Gründe, denke ich. Die moderne wissenschaftliche Polizeiarbeit hat etwa Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen. Da gab es in den jeweiligen Ländern entsprechende Schlüsselfiguren. Hierzulande war das Hans Gross, ein gelernter Jurist, der sehr wohl verstanden hat, dass es Übersetzer braucht, um mit Spuren zu arbeiten. Er nannte das Kriminalistik, was für ihn eher eine Methodologie der Übersetzung war, damit Juristen mit der Bedeutung der Spuren arbeiten können. Er sah es als ein Hilfsmittel der Rechtswissenschaft, also einen Teilaspekt. Als er gestorben ist, hat es niemand so aufgegriffen wie er, und die Kriminalistik ist langsam von der Universität verschwunden. In der Schweiz war das anders. Dort war Rudolf Reiss der gleichen Meinung wie Gross, allerdings hat er die „Criminalistique“, oder eben forensische Wissenschaft, als eigenständige Wissenschaft betrachtet und daher 1909 die Universität Lausanne von der Bildung eines Studienganges überzeugt.
Online findet man aber den Masterlehrgang Forensische Wissenschaften an der Uni Wien, mit einem Studienbeitrag von 15.000 €?
Ich bin froh, dass Sie diese Frage stellen. Bevor ich nach Österreich gekommen bin, habe ich mich für diesen Studiengang interessiert und mir gedacht, vielleicht könnte ich dort lehren. Rückmeldung auf meine Anfrage habe ich aber keine erhalten. Als ich dann die Stelle hier am Institut für Strafrecht und Kriminologie bekommen habe, habe ich weiter versucht, Informationen über dieses Studium zu kriegen. Schließlich stellte sich heraus, dass dieser Studiengang noch nie stattgefunden hat und auch in absehbarer Zeit nicht stattfinden wird. Es steht nun auf der Website geschrieben, dass der Lehrgang auf unbestimmte Zeit verschoben wird. Vielleicht gibt es keine Interessenten, weil das Studium nicht günstig ist. Ich weiß es nicht.
Für Ihren Kurs haben sich vermutlich viele Studierende angemeldet?
Ja, ich hatte im heurigen Sommersemester um die 200 Interessenten. Aber ich nehme leider nur zwanzig Teilnehmer auf, weil wir auch eine Exkursion im Schulungslabor der Sicherheitsakademie (SIAK) in Zusammenarbeit mit dem LKA Niederösterreich machen. Dort tragen die Tatortbeamten richtige Fälle vor und meine Teilnehmer können Methoden zur Sicherstellung und Sichtbarmachung von Spuren ausprobieren, daher kann ich leider nicht mehr Studierende aufnehmen. Im nächsten Semester sollte der Kurs aber wieder stattfinden.

Wie bringen Sie Ihren Teilnehmern die Suche nach Spuren bei?
Hier am Institut besprechen wir die Theorie und reale Fälle gemeinsam. Ich zeige Fotos von echten Vorkommnissen, die wir miteinander kommentieren. Die Teilnehmer bekommen dann einen Fall, der in der Fachliteratur publiziert wurde, zugeteilt, und müssen über dessen wichtigste Spur einen Vortrag halten. Während der Exkursion wird die Laborarbeit geübt. Die Studierenden können dann etwa mit Pulver für Fingerspuren, oder verschiedenen Chemikalien, um Blut sichtbar zu machen, arbeiten.
Sind Sie schon mal wirklich lange an einem Fall gesessen oder einem gar unlösbaren?
Ich habe für eine gewisse Zeit in einer Tatortgruppe in der Schweiz mitgearbeitet, aber bin eigentlich nie alleine an einem Fall länger gesessen. Die Fälle wurden alle gelöst, meistens dank der Kombinationen von Informationen, die wir durch die Spuren erhalten haben und Fakten, die die Ermittler ausforschen konnten. Diese Zusammenarbeit ist wirklich für jeden Fall wichtig und ist die einzige Art und Weise zu arbeiten, die auch tatsächlich funktioniert. Daher ist eine gute Kommunikation zwischen allen Beteiligten so entscheidend.
Was war Ihre bisher banalste Spur, mit der ein Verdächtiger „überführt“ werden konnte?
Ein Einbruchsfall, der mir von den österreichischen Kollegen erzählt wurde, wird mir immer in Erinnerung bleiben. Ein Täter hat einen Geldautomaten gesprengt und sich dabei bemüht, keine Spuren zu hinterlassen. Er hat sogar die Videokamera mit der Seite einer Zeitschrift bedeckt, sodass keine brauchbaren Bilder von ihm gemacht werden konnten. Aber diese Zeitschrift-Seite hatte er von zu Hause mitgenommen, und obwohl er während der Tat Handschuhe getragen hat, hatte er zu Hause keine an. Und genaue diese Spuren haben letztendlich seine Identifikation ermöglicht. So ist es eben oft – auch wenn Täter sehr aufpassen und vieles bedenken, sind es oft diese potentiellen Fehler, auf die sich die Tatortermittler und Forensiker konzentrieren.

Sie sagen, die Kommunikation forensischer Ergebnisse zwischen der Tatortgruppe, ErmittlerInnen, StaatsanwältInnen und RichterInnen ist in der Praxis oft verbesserungsbedürftig. Warum?
Ich arbeite in und für Österreich, würde das aber ausweiten und als allgemeines Problem feststellen. Die aktuelle Situation der Forensik kann man mit der Medizin vergleichen. Da kümmern sich Sanitäter und Notfallpersonal, allgemeine Praktiker und Spezialisten um Patienten. Nach einem Unfall wird der Patient, ist er nicht mehr im Spital, vom allgemeinen Praktiker behandelt und dieser koordiniert auch die nächsten Behandlungen. In der Forensik haben wir meistens Polizisten als Notfallpersonal (Tatortbeamte, Ermittler) und Spezialisten in polizeilichen oder privaten Laboren, die sich um die Anfragen der Staatsanwälte oder Richter, die „Kunden“ der Forensik, kümmern. Es fehlen die „allgemeinen Praktiker der Forensik“. Die „Kunden“ müssen entweder mit der Polizei oder mit Spezialisten reden, ohne allgemeine Praktiker, die die Informationen koordinieren. Das wäre nun so, wie wenn ein Patient nach einem Aufenthalt im Spital nur mit Notfallpersonal oder mit einem Oberarzt eines ganz spezialisierten Bereiches in Kontakt kommt. Damit übertreibe ich bestimmt. Allerdings sind es viele Spezialisten nicht gewohnt, ihre Ergebnisse für Leute, die aus einem anderen Fach kommen, zu übersetzen. Dadurch entstehen zwar keine groben Fehler, aber es besteht das Risiko, dass Informationen der Spurensicherung falsch verstanden oder nicht genügend verwendet werden. Daher sind „allgemeine Praktiker der Forensik“ notwendig und können zum Beispiel mit einem Studium so wie in der Schweiz ausgebildet werden.
Um die Stärken und Schwächen des hiesigen Polizei- und Justizsystems im Bereich der Forensik zu untersuchen, führen sie anonyme Umfragen mit Freiwilligen aus dem Bundeskriminalamt, den Landeskriminalämtern und dem Justizwesen durch: Was kam bei ihrer ersten Umfrage heraus?
Bei meinem ersten Durchgang habe ich mich auf DNA-Spezialisten konzentriert, die in Österreich in privaten Labors und im Bundeskriminalamt arbeiten. Ich habe sie zum Beispiel gefragt, ob ihre Ergebnisse verstanden werden – so, wie sie diese kommunizieren und ob sie denken, dass es etwas zu ändern gäbe. Es stellte sich dabei heraus, dass Informationen manchmal nicht genug verwendet oder nicht richtig verstanden werden. Das kann man sich so vorstellen: Bei der DNA-Analyse werden verschiedene „Teile“, sogenannte Loci, des Chromosoms untersucht. Mit der Zeit wird die Technologie dazu besser, daher kann man auch immer mehr Loci analysieren. Und bei meiner Umfrage wurde ein Fall erwähnt, bei welchem ein Personenprofil einen Treffer bei einer Tatortspur ergab. Mit diesem Ergebnis wurde eine Person als Täter ausfindig gemacht. Später aber, da dank dem neuen Stand der Technik mehr Loci untersucht werden konnten, wurden das Personenprofil und das Spurenprofil nochmals analysiert. Es stellte sich heraus, dass die zusätzlichen Loci zum Ausschluss führten, das Personenprofil und das Tatortspurprofil zeigten im Bereich dieser Loci Unterschiede auf. Vom Gericht wurde es so verstanden, dass das Labor einen Fehler gemacht hatte. Das war problematisch, daher mussten die DNA-Experten den Juristen erklären, dass die damalige Standardtechnik diese Unterschiede nur noch nicht feststellen konnte. Das Beispiel zeigt, dass alle Ergebnisse der Forensik nur Wahrscheinlichkeiten sind. Zwar sehr hohe, aber trotzdem tendieren Juristen dazu, von Sicherheiten zu sprechen, welche die Forensik niemals liefern kann. Daher können Kommunikationsprobleme entstehen.
Gab es bei der Zusammenarbeit mit den Studierenden überraschende Vorkommnisse, wie etwa beeinflusste Vorstellungen durch TV-Formate?
Die Zusammenarbeit mit den Studierenden finde ich immer höchst interessant. Anfangs wissen sie oft sehr wenig über physische Spuren, und wie diese gesichert und analysiert werden können. Aber am Ende meiner Kurse zeigt sich bei Ihnen eine sehr logische Denkweise und sie erkennen, wenn etwas, das im TV gezeigt wird, nicht der Realität entspricht. Somit ist meiner Ansicht nach das Ziel der Lehrveranstaltung erfüllt.
Was haben Sie denn eigentlich für einen Eindruck von TV-Serien wie dem „Tatort“?
Grundsätzlich sind all diese Sendungen nicht falsch. Das Problem ist aber oft die Rolle der teilnehmenden Personen. Die Sendung soll ja spannend bleiben, und würden wirklich alle relevanten Akteure dargestellt, kennten sich die Zuschauer nicht aus. Das wirkt dann oft so, als ob Kommissare alles können. Sie arbeiten mit Spuren am Tatort, machen Befragungen und entnehmen Blut. Das stimmt überhaupt nicht. Auch die gezeigten Methoden existieren zwar meist tatsächlich, allerdings ist die Verwendung oft falsch. Zum Beispiel bei einer bestimmten Sichtbarmachungsmethode für Fingerspuren muss die Spur in einem durchsichtigen Schrank mit einem Polymer bedampft werden, der in gasförmiger Form giftig ist. Daher darf der Schrank währenddessen nicht geöffnet werden. Im TV greifen die Darsteller dann meist rein, sodass die Dämpfe herausströmen und schön von den anwesenden Personen eingeatmet werden (lacht).

Sie haben schon immer gerne Detektiv gespielt. War Ihnen immer schon klar, dass sie auf der wissenschaftlichen Seite bleiben – und nicht Kommissarin werden?
Ich habe mich einfach immer für Spuren interessiert und auch für alles Interdisziplinäre. Ich konnte nie sagen ob ich Chemie, Biologie, oder Sprachen im Gymnasium lieber hatte. Als Jugendliche habe ich mir die Arbeit der Polizei genauer angeschaut und mir ist es damals schon so vorgekommen, dass die Spuren da zwar benutzt werden, aber man nicht wirklich chemisch oder biologisch damit arbeitet. Das hat mich aber interessiert, daher habe ich dann Forensik studiert. Vielleicht hat mich die Polizeischule damals auch ein bisschen abgeschreckt. Ich bin zwar nicht unsportlich, aber die sportlichen Leistungen dort waren nicht ohne. (lacht)
Werden Sie ihre Arbeit in irgendeiner Form doch einmal fiktiv verarbeiten – in Form eines Romans oder einer Serie?
Ja, das könnte ich mir sehr gut vorstellen. Ich lese sehr viel und schreibe auch gelegentlich. Da ich sehr unter Zeitmangel leide, habe ich leider noch nichts fertig gestellt. Sollte ich einmal mehr Zeit haben, werde ich mit ziemlicher Sicherheit eine Krimi-Novelle oder ein Buch schreiben. Wer weiß!
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Zur Person:
Aline Girod-Frais hat 2015 ihren PhD in forensischer Wissenschaft an der Universität Lausanne abgeschlossen. Seit Dezember 2015 forscht sie an der Universität Wien. Infolge eines Early Postdoc Stipendiums des SNF (schweizerischen Nationalfonds) entstand ihr Projekt “Der Stellenwert der forensischen Wissenschaft in Österreich”, das von einem Lise-Meitner Postdoc Stipendium des FWF noch voraussichtlich bis Ende 2019 läuft.
Forensikstudium in Bonn
In NRW kann man an der Universität in Bonn den berufsqualifizierenden Bachelor of Science in Forensik studieren und zwar kostenlos und mit hohem Praxisbezug! Zudem kann man natürlich auch einen selbst gewählten Schwerpunkt wählen, bspw. IT-Forensik oder Ballistik.
In der Öffentlichkeit gibt's ja mittlerweile so einen Unfehlbarkeitseindruck, wenn
DNS im Spiel ist. (Das übelste Beispiel war die scheinbare Vielorttäterschaft, die sich erst sehr spät als Verpackungsfehlleistung beim Wattestäbchenhersteller entpuppte.)
Nun kommt von Ihnen die Anmerkung zu einem Vorfall
“bei welchem ein Personenprofil einen Treffer bei einer Tatortspur ergab. Mit diesem Ergebnis wurde eine Person als Täter ausfindig gemacht. Später aber, da dank dem neuen Stand der Technik mehr Loci untersucht werden konnten, wurden das Personenprofil und das Spurenprofil nochmals analysiert. Es stellte sich heraus, dass die zusätzlichen Loci
zum Ausschluss
führten, das Personenprofil und das Tatortspurprofil zeigten im Bereich dieser Loci Unterschiede auf…”
Meine Frage: Sind schon welche, die kein Geständnis abgelegt hatten, jedoch wegen DNS-Untersuchungsergebnissen schuldig gesprochen worden waren, wieder dank des neuen Standes der Technik freigekommen? Ist eine regelmäßige Neuprüfung urteilsrelevanter DNS überhaupt vorgesehen?