Trolle sind den Denkgewohnheiten der westlichen Welt viel näher, als sie denkt, sagt die amerikanische Wissenschaftlerin Whitney Phillips. Ein Gespräch über Provokation und Hate Speech im Web.
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F.A.Z.: Trolling, Belästigung im Netz und Hate Speech sind wichtige Themen in diesem Jahr. Gleichzeitig wird darüber diskutiert, wie Tech-Unternehmen mit diesen Probleme umgehen sollten. Das Internet scheint ein feindlicher Ort geworden zu sein. Wie sind wir Ihrer Meinung nach an diesem Punkt gelandet?
Whitney Phillips: Ich habe vor kurzem an einem Artikel gearbeitet, in dem ich unsere aktuellen Probleme in Zusammenhang mit den Wurzelsystemen der Küstenmammutbäume gesetzt habe (lacht). Küstenmammutbäume sind interessant, weil ihre Wurzeln Nährstoffe und strukturelle Unterstützung für andere Bäume liefern. Ältere Bäume kultivieren die jungen Bäume, indem sie sie füttern, was eine schöne Metapher dafür ist, wie Medien, das Internet und die Öffentlichkeit in der digitalen Welt zusammenhängen. Das bedeutet aber auch, dass, wenn ein Baum krank wird, alle anderen krank werden. Der Versuch, zu beurteilen, warum wir uns jetzt an diesem Punkt befinden, ist aufgrund eines sehr ähnlichen Prozesses so schwierig. Man muss sich nur für einen Moment den Journalismus, die Werbebranche und soziale Medien als Bäume in einem Ökosystem vorstellen. Gegenwärtig privilegiert der Journalismus sensationalistische Rahmungen, da er werbungsbasiert ist und deshalb auf allgemeine Empörung und emotionale Reaktionen angewiesen ist. Dem kommt wiederum die Hyperreaktivität in den sozialen Medien entgegen, die durch Algorithmen, welche die „heißesten“ Geschichten an die Spitze der Trendlisten und die Social-Media-Feeds spült, verschärft wird. Alles fließt ineinander.
Ironischerweise besteht unser Hauptproblem gerade darin, dass alle diese kapitalistischen Systeme so nahtlos ineinandergreifen. So entsteht ein Zustand, der für die menschliche Kommunikation nicht gut ist. Alle unsere derzeitigen Systeme arbeiten wunderbar zusammen, reduzieren dabei aber im weitesten Sinne Nachdenklichkeit, Reflexion und Empathie. Nur sehr bestimmte Arten von Kommunikation werden in unserer Gesellschaft und damit auch im Netz geschätzt und gefördert. Leider sind sie eher negativ.
Es ist nicht nur ein Faktor, sondern eine Kombination von Faktoren …

Ja, genau. Um zu verstehen, wie wir an diesem Punkt angelangt sind, müssen wir überlegen, wie all diese Dinge zusammenhängen und bestehende Probleme noch verstärken. Es ist nicht nur eine Sache von „Twitter moderiert nicht vernünftig“ oder „Facebook ist beschissen, wenn es darum geht, offensive Inhalte zu entfernen.“ All das ist wahr, aber man kann nicht über die Fehler von Twitter und Facebook reden und gleichzeitig die Probleme in Redaktionen oder unserer Kultur insgesamt ausklammern – auch hier wird immer noch versäumt, eine bessere Gesprächskultur sowie mehr Toleranz und Diversität herzustellen. Kurz gesagt: Alles, was Menschen jemals getan haben, hat uns an diesen Punkt gebracht und jetzt müssen wir herausfinden, was als nächstes zu tun ist.
Sie sind eine der führenden Expertinnen für Trolle und Trollkultur, Ihr Buch „This is Why We Can’t Have Nice Things“ gilt als Standardwerk. Wie kam es dazu, dass Sie Trolle überhaupt studiert haben und, was noch wichtiger ist, wie haben Sie das gemacht?
Man muss sehr viel verdauen können (lacht). Ich habe aus zwei Gründen damit begonnen, Trolle zu studieren. Erstens war mein Bruder ein Troll und er versuchte immer wieder, mich zur Onlineplattform 4chan – einer Brutstätte für Trolle – zu bringen. Das war 2007 und meine Reaktion war nur: „Da habe ich keine Lust drauf.“ Was ich damals nicht verstand, war, dass diese ständigen Versuche, mich zu überzeugen, selbst eine Form von Trolling darstellten. Gleichzeitig war diese Situation eine glücklich Fügung des Schicksals. Ich war im späten Frühjahr in ein PhD-Programm aufgenommen worden und hatte bis zum Beginn des Programms nichts zu tun. Meine erste Reaktion war dann „Hmm, keine Ahnung, ich gehe einfach … online.“ Das war im Vorfeld der amerikanischen Wahl 2008, als Barack Obama gegen John McCain antrat.

Ich habe damals viele Dinge im Netz gesehen, die ich sehr interessant fand. Ich wollte in meiner Doktorarbeit eigentlich politischen Humor erforschen. Dementsprechend habe ich mich zu Anfang vor allem auf humorvolle Unterhaltungen fokussiert, die ich auf verschiedenen politischen Seiten fand. Ich bemerkte jedoch bald, dass es da noch etwas anderes gab, einen bestimmten Tonfall, den ich nicht genau einordnen konnte. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt gelang es meinem Bruder, mich dazu zu bringen, bei 4chan mitzumachen. Und siehe da, 4chan schien der Urheber für viele dieser seltsamen Witze, Memes und Unterhaltungen zu sein, die ich auf den anderen Seiten gefunden hatte.
Könnten Sie uns ein Beispiel dafür geben, was Sie auf 4chan damals genau fanden?
Nun, viele Nutzer teilten bestimmte Insider-Witze und Memes über die verschiedenen Kandidaten, oft um die gegnerische Seite zu verspotten. Der Ton war dabei ein neuer, nicht ganz so offensichtlich politischer. Trotzdem wurden dort die Inhalte geschaffen, die anschließend auf den politischen Seiten übernommen wurden. Das berühmte Obama Joker/Sozialismus-Bild entstand zum Beispiel auf 4chan.
Ich habe gemerkte, dass hier etwas vor sich ging, das ich nicht ganz verstand. Ich habe dann Tage, Wochen und Monate ununterbrochen mit Beobachten verbracht, was die zweite Frage beantwortet, wie man Trolle studiert: Man muss Tausende von Stunden vor einem Computer sitzen und sich alles genau anschauen. Außerdem ist es wichtig, ein gutes Gespür für das zu haben, was man sich ansieht. Es ist notwendig, die Konturen und Grenzen der Community, die man studiert, zu erspüren und zu verstehen, wie sie in das breitere Online-Ökosystem passt.
Seit Sie Ihr Buch geschrieben haben, ist das Internet scheinbar viel „unübersichtlicher“ geworden. Ist es immer noch möglich, Trolle auf die gleiche Art zu studieren?

Es ist jetzt sicherlich schwieriger. Im Jahr 2008 war die Trolling-Subkultur wirklich klar begrenzt, man wusste genau, bei was es sich um Trolling handelte. Es war auch immer noch einfach, Trolle in der Öffentlichkeit zu entdecken, weil die Witze so spezifisch und für diese Gemeinschaften so typisch waren. Ich kam sogar an einen Punkt, an dem ich Trolle in den Kursen, die ich unterrichtete, entdecken konnte. Sie machten oft Witze, die sie für „sooo komisch“ hielten, weil niemand im Raum wusste, was sie eigentlich meinten. Aber ich wusste es. Und wenn ich dann mit einer ähnlich verschlüsselten Referenz antwortete, liefen diese Studenten oft knallrot an, weil sie nicht verstanden, woher ich dieses Wissen hatte. Über die letzten Jahre ist die Trolling-Kultur jedoch immer mehr zum Mainstream geworden. Der große Wendepunkt war dann 2011, als die Webseite „Know Your Meme“ allgemein bekannt wurde.
Wieso das?
Plötzlich gab es eine Datenbank für Nicht-Trolle, die jedem erlaubte, die Trollkultur zu verstehen. Immer mehr normale User konnten an den dort geführten Gesprächen teilnehmen. Nach 2012 wurde es dann fast unmöglich, einen „echten“ Troll zu entdecken. Wenn jemand spezifische Trolling-Referenzen benutzte, konnte das nun entweder bedeuten, dass er oder sie ein Troll war oder einfach nur, dass er viel Zeit auf Facebook oder im Internet verbracht hatte.
Natürlich haben auch die Medien eine Rolle gespielt. Nach 2012 schrieben immer mehr Journalisten über Trolle und diese Subkultur. Um ehrlich zu sein, weiß ich heute nicht mehr wirklich, was jemand meint, wenn er den Begriff „Troll“ benutzt. Er ist jetzt im Wesentlichen bedeutungslos, weil er sich auf so viele verschiedene Verhaltensweisen beziehen kann.
Können Sie dennoch versuchen, mir kurz zu erklären, was ein Troll ist oder wofür der Begriff einmal stand?
Wie weit soll ich zurückgehen (lacht)? Der Begriff “Trolling” entstand zuerst in den 80er und 90er Jahren im Usenet (im Grunde ein Vorläufer von Reddit), und wurde vor allem im Zusammenhang eines sozialen Korrektivs benutzt. Als Trolle oder „Trollers“ wurden diejenigen bezeichnet, die die Gemeinschaft störten und im Grunde genommen das waren, was man als „pain in the ass“ bezeichnen würde. In den frühen 2000er Jahren, als der Begriff “Troll” schon seit Ewigkeiten existierte, übernahmen die Nutzer auf 4chan, besonders dem / b / oder „Random“-Board, einer Unterseite von 4chan, den Begriff „Troll“ dann um auf sich selbst zu verweisen.
Also stand „Trolling“ sehr weit gefasst für Verhaltensformen, die in Online-Communities nicht sozial akzeptabel waren?
So in der Art. Im Prinzip wurde es als Bezeichnung für Verhalten verstanden, das darauf abzielte, das emotionale Gleichgewicht anderer Menschen zu stören, um daraus persönliche Befriedigung zu erlangen – oder eben weil man es lustig fand, was jedoch im Prinzip das Gleiche ist. Oft geht dieses Bestreben Hand in Hand mit beleidigendem, obszönem oder verletzendem Verhalten. Wenn es das Ziel ist, jemanden zu einer Reaktion zu zwingen, dann erreicht man das nicht durch höfliche oder rücksichtsvolle Kommentare. Die Bedeutung des Begriffs als eine Art antagonistisches, emotionales Spiel macht bis heute den Kern von „Trolling“ aus.

Was denken Sie über die inflationäre Verwendung des Begriffs „Troll“?
Es schafft viele Probleme, wenn man die rigide subkulturelle Rahmung von Trollen und Trolling nimmt und sie zum Beispiel auf Nazis überträgt. Es verharmlost das entmenschlichende Verhalten dieser Gruppe, indem es dieses in den Kontext des „Spielerischen“ und des performativen Schabernacks rückt, der oft mit Trolling in Verbindung gebracht wird. Im besten Fall erschwert es Diskussionen über ein Thema wie Online-Belästigung und Hate Speech. Im schlimmsten Fall minimiert es die Erfahrung von Menschen, die traumatisiert wurden.
Viele Leute sind der Meinung, dass Trolle nur – entschuldigen Sie meine schlampige Ausdrucksweise – Idioten sind, die versuchen, andere in sozialen Medien kleinzumachen. In Ihrem Buch erwähnen Sie jedoch sowohl Sokrates als auch Arthur Schopenhauers „Eristische Dialektik“ als Inspirationsquellen für viele Trolle. Heißt das, wir müssen unsere Vorstellung von Trollen überdenken?
In gewisser Weise ja, zumindest dann, wenn man über den größeren kulturellen Kontext für diese Art von Verhalten nachdenkt. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Trolle, mit denen ich gearbeitet habe, die subkulturellen Trolle, immer die Ersten waren, die zu mir gesagt haben „Sokrates war ein Troll, den du kennst“ oder „Schopenhauer war ein Troll“. Sie waren diejenigen, die den philosophischen Kontext ins Gespräch einbrachten. Und es ist nicht überraschend, warum. Sie konnten sich so in eine Linie mit den großen Figuren des westlichen Denkens setzen und sich wichtiger machen. Und um fair zu sein, ganz falsch lagen sie nicht. Die Strategien, die Sokrates benutzte, und die Strategien, die Schopenhauer beschrieb, passen sehr gut zum typischen Verhalten von Trollen. Genau das hat mich dann auch zum Nachdenken darüber angeregt, wie Trolling in unsere Kultur eingebettet ist.
Trolling als etwas, an dem wir alle mitschuldig sind?
Egal wie sie den Begriff definieren, Menschen neigen dazu, Trolle an die Peripherie unserer Kultur und Gesellschaft zu rücken und zu sagen: „Das sind die bösen Jungs. Die machen abnormale Dinge. Sie sind nicht wie wir.“ Für viele ist diese „Sie sind die Bösen und wir sind die Guten“-Dichotomie sehr beruhigend. Die Wahrheit ist jedoch, dass Sie Trolling tatsächlich innerhalb dieser breiteren philosophischen Ideenwelt verorten können, mit der wir im Westen kulturell aufwachsen. Ein Beispiel ist die Ablehnung von Emotionen und emotionalen Argumenten, etwas, das Trollen sehr wichtig ist und gleichzeitig im Zentrum der westlichen Weltsicht steht. Logik, Rationalität und kühles, sachliches Argumentieren werden in der westlichen Tradition explizit privilegiert. Und diese Qualitäten sind gleichzeitig unbestreitbar männlich konnotiert.
Das Gegenteil, jede Art von emotionalem Ausdruck oder Sentimentalität, ist in unserer Kultur als weiblich festgelegt. Gleichzeitig wird diese Form des Ausdrucks pathologisiert, eben weil es nicht die idealisierte Form des Sprechens ist und deswegen zurückgedrängt werden muss. Das ist in unserer Kultur normalisiert: männlich konnotierte Kommunikation – Logik, Rationalität, Emotionslosigkeit – ist das, was kulturell geschätzt wird. Die Rhetorik der Trolle passt sehr gut zu dieser kulturellen Vorliebe, die Delegitimierung des emotionalen Ausdrucks wertzuschätzen und gleichzeitig Frauen explizit zu entwerten. Das ist der Kern des Problems. Genau deshalb ist es so schwierig, mit Trollen umzugehen. Wenn Trolle wirklich die Bösewichter wären, sozusagen die kulturellen Außenseiter, wäre alles einfach. Aber was zur Hölle machen wir, wenn Trolling im westlichen Denken eine zentrale Rolle spielt? Was machen wir dann?
Würden Sie argumentieren, dass wir etwas von Trollen für uns selbst lernen können?
Ich denke, dass wir viel lernen können, wenn wir darüber nachdenken, dass uns Trolle ähnlicher sind, als wir vielleicht zugeben möchten. Wenn Trolle so schrecklich sind – und wir sind uns alle einig, dass dies der Fall ist und wir eine Lösung finden müssen –, was machen wir, wenn wir viele der gleichen Dinge tun? Gerade in diesem Moment, in dem die Welt in Flammen steht, können Trolle und das Nachdenken über sie dabei helfen, unsere kulturellen Grundannahmen und Normen in Frage zu stellen und neu zu bewerten.
Wir haben jetzt viel darüber gesprochen, was Trolling ist, wie es sich in den letzten Jahren verändert hat und was es für uns bedeuten könnte. Rein praktisch kümmert viele Leute jedoch viel mehr, was sie tun sollen, wenn sie von einem Troll angegriffen werden.
Das ist eine knifflige Frage und leider gibt es keine allgemeingültige Antwort. Oft heißt es „Füttere nicht die Trolle!“. Doch das Problem bei dieser Rahmung ist, dass sie in eine Logik des „Victim blaming“ eingebettet ist: „Du hättest es einfach ignorieren sollen, aber stattdessen lässt du dich trollen. Don’t you know how to internet!“ Dabei ist doch der entscheidende Punkt: Angreifer sollten nicht angreifen. Es ist niemals die Schuld des Opfers. Die einzige Person, die für die Tat verantwortlich ist, ist der Täter.
Gleichzeitig ist es natürlich wichtig, praktische Lösungen zur Hand zu haben. Wie jemand reagieren kann (und ob er oder sie reagieren sollte), hängt stark davon ab, warum die Person angegriffen wird, wer sie angreift, ob der Angriff Medienrummel generieren wird, und so weiter. Abhängig von all diesen Variablen kann sowohl Reagieren als auch Ignorieren für das Opfer gleichermaßen wirksam oder gefährlich sein. Was für den einen die beste Option ist, könnte für jemand anderen katastrophale Auswirkungen haben.
Kein „Goldstandard“ also für die Reaktion auf Trolle?
Es wäre großartig, wenn es eine universelle Art zu reagieren gäbe. Was ich unterstütze, ist, dass Opfer die Entscheidung treffen, mit der sie sich am besten fühlen. Wenn Ignorieren für jemanden das Richtige ist, dann steht es mir nicht zu, ihn dafür zu kritisieren. Umgekehrt ist es das Gleiche. Wir müssen Menschen, die online attackiert werden, unterstützen und sie nicht noch mitverantwortlich dafür machen, dass sie belästigt werden.
Eine Forderung, die wir kürzlich in mehreren Ländern auf der Grundlage ganz unterschiedlicher Rechtsprechungen beobachten konnten, ist, dass Plattformen mehr tun sollen, um Probleme wie Hate Speech und Trolling anzugehen. Aber was können Social-Media-Plattformen überhaupt tun und warum geschieht oft so wenig?
Das ist ein sehr schwieriger Punkt. Zuallererst eine unangenehme Wahrheit über Social-Media-Plattformen: Sie haben einen finanziellen Anreiz, dieses Verhalten nicht zu moderieren. Es ist teuer und je mehr Leute sich aufregen, je mehr Menschen auf Dinge reagieren und sich auf den Plattformen beteiligen, desto einfacher ist es, diese Räume zu kommerzialisieren und zu Geld zu machen. Aus einer geschäftlichen Perspektive haben die Plattformen keinen Grund, von vielen als notwendig erachtete Änderungen vorzunehmen, um das Problem wirklich zu beheben.
Zur gleichen Zeit sagen viele Tech-Unternehmen im Prinzip die richtigen Dinge: Twitter zum Beispiel hat eine Ausweitung seiner Moderationspolitik angekündigt, Reddit verbietet Subreddits, die Gewalt verherrlichen oder dazu aufrufen. In beiden Fällen sagen diese Firmen, dass sie sich auf den Kontext, in dem eine Aussage gemacht wird, konzentrieren, um zu entscheiden, ob etwas in Ordnung ist oder gegen die Nutzungsbedingungen verstößt.
Klingt ja eigentlich nach dem richtigen Vorgehen …
An sich ist es großartig, abgesehen davon, dass die richtige Einschätzung von „Kontext“ im Internet eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt ist. Sie müssen die Akteure und ihre Beziehung zueinander kennen. Dann müssen Sie in der Lage sein, den Tonfall zwischen all diesen Akteuren zu deuten, und dann müssen Sie herausfinden, was die Auswirkungen sind, wenn Aussagen den Kreis, in dem sie entstanden sind, verlassen.
Allein vom nötigen Arbeitsaufwand her ist es fast unmöglich, dies alles zu berücksichtigen. Moderatoren haben keine drei Tage oder sogar drei Stunden oder vielleicht sogar nur drei Minuten Zeit, um herauszufinden, was jemandes Witz wirklich bedeutet. Dafür gibt es online einfach zu viel Inhalt – zu viel Kontext.
Warum verfolgen die Technologiefirmen dann diese Lösung? Sie müssen doch wissen, dass inhaltliche, kontextbasierte Moderation eine Herkulesaufgabe ist.
Über „Kontext“ zu sprechen, ist eine clevere Art zu signalisieren: „Macht euch keine Sorgen, wir werden eure Redefreiheit nicht verletzen. Macht euch keine Sorgen, wir werden berücksichtigen, ob eure Post Satire ist oder nicht.“ Aber ich verstehe nicht, wie das möglich sein soll, besonders angesichts der Neigung dieser Firmen, sich nur dann selektiv einzubringen, wenn die Presse negativ über sie berichtet.
Als zum Beispiel die schwarze Schauspielerin Leslie Jones auf Twitter massiv von rassistischen Trollen angegriffen wurde und deshalb Twitter verließ, hat man plötzlich reagiert, weil die Presse so schlecht war. Aber in anderen Fällen hat man lange nichts getan, zum Beispiel im Fall des früheren „Breitbart“-Redakteurs Milo Yiannopolous, der wiederholt mit missbräuchlichem Verhalten im Netz aufgefallen und an der Attacke gegen Jones beteiligt war. Das Verhalten der Social-Media-Giganten ist extrem inkonsistent. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie man diese Probleme nur innerhalb der Plattformen lösen könnte. Ich weiß nicht, ob sie es können. Ich weiß nicht, ob sie es wollen, ich weiß nicht, ob sie es – besonders in den Vereinigten Staaten – überhaupt versuchen werden.

Abgesehen davon, ob Plattformen etwas leisten können oder wollen, steht besonders in den Vereinigten Staaten auch die Frage im Raum, ob sie es sollten und ob man Plattformen die Macht geben sollte, zu entscheiden, was und was nicht erlaubt ist.
Ja, aber ich denke, dass es wichtig ist, das „Sollte“ auf dem Tisch zu halten. Der ethische Imperativ ist, dass wir Wege finden müssen, um die robustesten demokratischen Räume im Netz zu erschaffen. Hierfür müssen wir aber sicherstellen, dass extremistische Randgruppen nicht die Redefreiheit aller anderen einschränken. Ich verstehe die Bedenken darüber, ob wir wirklich wollen, dass Twitter, Facebook und Co. darüber entscheiden, worüber wir im Netz sprechen können und worüber nicht. Aber ich denke auch, dass es wichtig ist, die Tatsache nicht aus den Augen zu verlieren, dass man, wenn man an die Demokratie glaubt, sich auch damit auseinandersetzen muss, dass es nicht für alle einen Freifahrtschein geben kann. Ich glaube an die Demokratie und ich engagiere mich für sie, aber manchmal bedeutet dies auch, dass man eingreifen muss.
Was halten Sie persönlich von einer Lösung wie „Keine Anonymität im Internet“, die von Politikern oft vorgeschlagen wird? Abgesehen von der Frage, ob es tatsächlich durchsetzbar ist, wäre so etwas denn effektiv?
Zwei Antworten darauf: Die erste ist, dass die „Unite the Right“-Kundgebung in Charlottesville ein wirklich gutes Beispiel dafür ist, dass viele Menschen dazu bereit sind, sich zu extremistischen Positionen zu bekennen, ohne ihre Identitäten zu verschleiern. Menschen sind in der Lage, schreckliche Rassisten und Fanatiker zu sein und all das unter ihrem richtigen Namen. Die Geschichte lehrt uns, dass Menschen nicht anonym sein müssen, um Gräueltaten gegen ihre Mitmenschen zu begehen.
Der zweite Punkt ist, dass es viele Annahmen über die Rolle von Anonymität im Internet gibt. Es ist ein sehr deprimierender und beunruhigender Gedanke, dass Sie einer Person nur eine Maske geben müssen und diese dann nur zwei Klicks davon entfernt ist, die schrecklichsten Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Wenn man sich ansieht, wie viele schreckliche Dinge online unter dem Deckmantel der Anonymität geschehen, scheint diese Vermutung auch intuitiv wahr zu sein.
Die Forschung unterstützt diese These jedoch nicht. Es gibt keine stichhaltigen Beweise dafür, dass Anonymität direkt zu schlechtem Verhalten führt. Viel wichtiger ist die Rolle von Gruppennormen. Eine faszinierende Studie aus dem Jahr 2012 zeigt, dass, wenn die Norm einer bestimmten Gruppe darin besteht, sich destruktiv, bösartig oder gewalttätig zu verhalten, dieses Verhalten aufgrund des reduzierten sozialen Risikos in Online-Umgebungen durch Anonymität noch verstärkt wird. Aber wenn die Normen der Gruppe Mitgefühl und Toleranz sind, dann wird Anonymität wiederum diese Verhaltensweisen bestärken.
Was kann man sinnvollerweise tun?
Im Endeffekt kann es für etwas wie „Hate Speech“ keine rein technischen Lösungen geben weil wir es mit kulturellen Problemen zu tun haben und für diese gibt es keine einfachen Lösungen. Es ist mehr als alles andere eine Frage der Bildung. Wir sind in Schwierigkeiten aufgrund tief verwurzelter kultureller Vorurteile,und zu wenig Vielfalt in der Online- und Medienlandschaft. Das hat uns hierher gebracht, und hierüber nachzudenken, wird das Einzige sein, was uns aus dieser Lage wieder herausholt. Leider gibt es dafür keinen Knopf.
Die Fragen stellte Felix Simon.
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Whitney M. Phillips, PhD, ist Assitant Professor of Literary Studies and Writing an der Mercer University in Macon, Georgia. Sie studierte Philosophie, kreatives Schreiben und Digitale Kultur an der Humboldt State University, Emerson College und der University of Oregon. Sie gilt als eine der führenden Expertinnen für Webkultur und Trolle, ihr Buch „This is Why We Can’t Have Nice Things: Mapping the Relationship between Online Trolling and Mainstream Culture“ (MIT Press 2015) gilt als Standardwerk. Zuletzt ist von ihr erschienen: „The Ambivalent Internet: Mischief, Oddity, and Antagonism Online“ (Wiley, 2017, mit Ryan M. Milner).
Emotionale Argumente
Es werden wieder alle Triggerwörter bedient. (mangelnde) Diversität, Rechte, Trolle, Männer, Medien…
Wer soll sowas noch für voll nehmen? Nein, Diversität ist nicht die Antwort. Forcierte Vielfalt ist ein erheblicher Teil des Problems. Das ist mittlerweile auch durch Studien belegt. Ich empfehle dazu die Studie von Robert D. Putnam, “Diversity and trust within communities”. Und auch “Bildung” wird hier nur als Kampfbegriff genutzt. Wohin “emotionale Argumente” führen, sieht man gerade eindrucksvoll in Amerika. Dort herrscht jetzt auf politischer Ebene eine Dauerhysterie, die die amerikanische Gesellschaft immer weiter fragmentiert und unter anderem das Verhältnis zwischen den Rassen in ein Langzeittief gestürzt hat. Das hat erst mit Obama und der konsequenten Einführung des “emotionalen Arguments” als Imperativ richtig an Fahrt aufgenommen. Auch in Deutschland hat dieser Prozess bereits begonnen und wird auch unsere Gesellschaft nachhaltig schwächen und fragmentieren.
Wer fordert denn in diesem Interview die Durchsetzung “emotionaler Argumente”? Und was verstehen Sie eigentlich genau darunter – gerade in Bezug auf Obama und den vermeintlichen Prozess in Deutschland. Beispiele wären gut, dann könnte man das Ganze mal diskutieren.
Lasst die Trolle trollen
Es erstaunt immer wieder, dass sich das Narrativ „Kritik oder Respektlosigkeit = Hass“ so problemlos transportieren lässt. Auch berechtigt jedwede Attacke auf eine Person diese nicht sofort zum Rückzug in eine Opferrolle. Wenn man eine Meinung vertritt und dabei Gegenwind bekommt, muss man sich dieser zunächst einmal stellen. Die ganze Trolldiskussion und ihre Erhebung zur Wissenschaft bleibt für mich deshalb künstlich und letztlich durch politische Interessen gesteuert.
tolle Zeiten für Trolle
Der Kampf gegen Hatespeech wird Trolle nicht behindern, im Gegenteil. Er wird sie mächtiger machen.
Beim Trolling geht es darum emotionale Reaktionen beim Ziel auszulösen. Neudeutsch könnte man es wohl triggern nennen.
Eine solche Reaktion könnte sein das der Troll von seinem Ziel beschimpft wird – was dem Troll die Macht gibt das Ziel wegen Hatespeech zu melden.
Der Kampf gegen Hatespeech erlaubt es auch das Trolling als solche zu maskieren. Anomynous Aktionen gegen Scientology war nicht anderes als Trolling gegen ein Ziel das keinerlei Sympathien hatte.
Die einzige Person, die für die Tat verantwortlich ist, ist der Täter!
Und dieser Täter hat üblicherweise ein eigenes großes Problem, unter dem er aber andere dann auch noch leiden lässt. – Die Lösung kann nur in Selbsterkenntnis und Umkehr liegen und eben nicht darin, andere für die eingebildeten (oder tatsächlichen) eigenen Frustrationen büßen zu lassen: “Mein Lieber, nimm nicht das Böse zum Vorbild, sondern das Gute. Wer Gutes tut, der ist von Gott; wer Böses tut, der hat Gott nicht gesehen.” (Johannes schreibt an Gaius)
Küchenpsychologie...
… sollte lieber in der Küche bleiben. Leute, die Schnurrbärte auf Wahlplakate malen, sind schließlich auch nicht Gegenstand von Hobby-Forensik.
Titel eingeben
Als konservativer Amerikaner (der sogar Fremdsprachen beherrscht) kann ich mich sehr gut an die Zeit erinnern als manch ein linker Kommentator behauptete die sozialen Medien seien eine ideale Waffe im Arsenal der Linken. Mit Computern umgehen, das beduerfe eines gewissen Niveaus an Intelligenz, und die Linken seien sowieso von Natur aus intelligenter als die Konservativen. Nun ist es aber nicht so gekommen, und jetzt muss man auf die altbewaehrte linke Taktik zurueckgreifen und die freie Meinungsaeusserung beschneiden.
Politischer Kampf
Genau das stört mich auch am Artikel: Er ist weniger Bericht über den Stand der Forschung, welcher selbst nicht besonders beeindruckend ist, sondern vielmehr politisches Manifest der New Left in ihrer aktuellen SJW-Form, indem das eigentliche Thema, der “Troll” nur zu einem Argument für Gesinnungs- und Meinungskontrolle verkommt.
Warum sollen Wissenschaftler immer nur berichten dürfen?
Inflation der Trolle
Zuerst einmal, kann man sich im Netz sehr gut bewegen, ohne auf Trolle oder Beleidigungen zu stoßen. Das liegt an der Struktur des Internets. Es ist auch voll gefüllt mit Pornos – aber wer sich dafür nicht interessiert, kann jahrelang surfen ohne auf XXX Bilder zu stoßen
Suche ich jedoch die wüstesten Bereiche des Netzes auf und folge den polemischsten Kommentatoren, scheint es mir absurd, sich später über den rauen Ton der “Trolle” zu beschweren.
Anders mag das bei Celebs sein, die von irgendwelchen Leute im Netz verfolgt werden – das ist aber ein sehr kleine Gruppe.
Und zum Troll – im wenig toleranten Klima der liberalen BRD gelten doch vor allem die als “Trolle” die politisch eine andere Meinung als Mainstream vertreten. Das konnte man zuerst an dem Hetzbegriff Putin-Troll erkennen – heute wird sogar von angeblichen Trump Troll Armeen fabuliert.
Auch im Interview kann man ja deutlich die politische Schlagseite der objektiven Forschung erkennen