Freiheit von Sorgen bedeutet Freiheit zum Studium. Daher die vielen Beratungsangebote an den Hochschulen. Doch zunehmend scheint sich hier eine einseitige, fast wissenschaftsfeindliche Rhetorik breit zu machen.
***

An den Universitäten stößt man mittlerweile immer öfter auf ein umfassendes, überfachliches Beratungsangebot. Wer studiert, promoviert oder noch darüber hinaus seinen Platz an der Sonne des Wissens sucht, findet hier eine Anlaufstelle, um sich zum Beispiel über die Studienbedingungen vor Ort zu informieren. Oder auch über rechtliche Fragen (etwa das Wissenschaftszeitvertragsgesetz). Oder sich beraten zu lassen mit Blick auf das bestmögliche Arrangement von akademischen und familiären Verpflichtungen, ob es nun um das eigene Kind oder die Pflege von Angehörigen geht. Die weitgehende Freiheit von alltäglichen Sorgen gilt seit dem Beginn einer institutionell organisierten Wissenschaft mit Platon und Aristoteles als deren Voraussetzung.
Beratungsprogramme sind an sich ein wichtiger Beitrag zur Verwirklichung dieser Freiheit – und en passant auch zur Erfüllung des inklusiven Anspruchs, dass auch unter widrigen Bedingungen ein Zugang zu höherer Bildung möglich sein muss. Orientierungswissen ist schließlich auch ein Gut, das allgemein zugänglich sein und nicht nur wie durch „Stille Post“ weitergegeben werden soll. Freiheit von Sorgen bedeutet Freiheit zum Studium. Und es würde auf einen unangenehmen Paternalismus hinauslaufen, wenn die Freiheit von Sorgen ohne die Beteiligung des Studierenden selbst, nur durch strukturelle „Maßnahmen“ erreicht werden sollte.
Es fällt nun aber auf, dass sich im Kontext der Beratung an Universitäten – besonders von Promovierenden und solchen, die es werden wollen – eine einseitige Rhetorik entwickelt hat. Eine Rhetorik, wie sie eher von den Career Services bekannt ist, durch die Universitäten ihren Absolventen „Karriereaussichten“ eröffnen, sie mit „Schlüsselqualifikationen“ ausrüsten und schließlich auf „den Arbeitsmarkt“ katapultieren wollen, wo viele attraktive Stellenangebote schon verlockend präsentiert werden. Ob das eine Aufgabe der Universität ist, darüber lässt sich streiten. Jedenfalls weist die sogenannte „Karriereberatung“ immer schon über die Universität hinaus. Auch und gerade dann, wenn von einer „erfolgreichen wissenschaftlichen Karriere“ die Rede ist. Im Ineinanderfließen von Karriereberatung und allgemeinerer Studien- und Wissenschaftsberatung liegt das Problem, mit dem die folgenden Überlegungen sich beschäftigen.
Das Wegtreten der anderen
Die Rhetorik solcher Beratung ist einseitig, indem sie subjektive Interessen und Bedürfnisse – oder was für diese ausgegeben wird – in den Mittelpunkt stellt, und dabei die allgemeine Perspektive auf den Sinn wissenschaftlicher Tätigkeit bewusst oder unbewusst ausklammert. Damit werden an die Wissenschaft gestellte Sinnfragen jedoch auf technische Fragen reduziert. Der Beratungsjargon hält so schließlich auch Einzug ins Selbstverständnis des Studiums (d.h. der Studierenden), der Promotion (der Promovierenden) und schließlich der Wissenschaft (der Universität als Institution).
Diese Einseitigkeit scheint nun allerdings im Wesen der Beratung zu liegen. Beraten wird schließlich immer dieser besondere Student oder jene besondere Studentin – mit ihren je besonderen Bedürfnissen und Interessen. Beratung, als Dienstleistung verstanden, gibt sich immer besonders flexibel und anpassungsfreudig. In diesem Verständnis liegen zwei moralische, also die subjektive Einstellung betreffende, Tendenzen: die eines blindkonservativen Opportunismus oder Fatalismus, und die des Karrierismus.
Zum Ersten: Um dem Einzelnen so bestmöglich dabei zu helfen, seine eigenen Ziele innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu erreichen, muss eine solche Beratung die vorhandenen Strukturen und Abläufe des Wissenschaftsbetriebs als gegeben hinnehmen. Statt von objektiven „Hindernissen“ wird dann vorrangig von subjektiven „Herausforderungen“ gesprochen. Eine der wenigen unbefristeten Forschungs- beziehungsweise Lehrstellen zu ergattern, ist zum Beispiel so eine Herausforderung. In den Hintergrund treten dabei die nach wie vor reformbedürftigen Beschäftigungsverhältnisse an den deutschen Universitäten. Diese verhindern gerade eine wissenschaftliche Tätigkeit ohne die vielfältigen Sorgen eines prekären Lebens zwischen Lehrtätigkeit, Lohnarbeit und Familie. Es ist nicht so, dass in diesem Kontext nicht auch hier und dort davon die Rede wäre. Und es ist auch richtig, dass das Promovieren de facto immer einen gewissen Opportunismus voraussetzt. Das Problematische liegt darin, dass die Überzeugung nahegelegt wird, es sei gut so. Als Gretchenfrage und Entscheidungshilfe vor der Promotion wird dann in einer Info-Broschüre des Frankfurter „Qualitätszentrums Promotion“ unter anderem gefragt: „Sind jahrelange prekäre Beschäftigungsverhältnisse und unsichere Karrierechancen für mich ein Problem?“ Das Wegtreten der anderen ins akademische Lumpenproletariat als Schicksal des glücklich Auserwählten.
„Weil es mich glücklich macht“
Zum Zweiten: „Herausforderungen“ ergeben sich mit begrifflicher Notwendigkeit erst, wenn ein bestimmtes Interesse schon gegeben ist. Worin dieses Interesse besteht, wird häufig schon vorweggenommen, indem von „der Karriere“ die Rede ist, und zwar im singulare tantum: die Karriere ist immer meine Karriere. Unter Karriere wird dann eine Reihe von zeitlich beschränkten „Projekten“ verstanden. Die Promotion gilt als eines davon. Diese soll – wie jedes Projekt – vor allem „erfolgreich“ zu Ende gebracht werden und wird so zum Gegenstand der „Strategie“ und des „Managements“. Eine Promotion aus subjektivem Wissensdurst wird zwar auch als Motivation anerkannt, erscheint aber im Licht des karrieristischen Pragmatismus nur noch als nebensächliches psychologisches Phänomen, vielleicht gerade noch als quasi evolutionärer Vorteil „intrinsischer Motivation“ – jedenfalls nicht mehr als existenzielles menschliches Bedürfnis, von dem die Wissenschaft lebt. Vielmehr wird gerade von einer solchen Arbeit auch gesagt, sie beeinträchtige möglicherweise die Karrierechancen, wenn sie etwa ein im aktuellen Diskurs randständiges Thema behandelt – das ist vielleicht in vielen Fällen faktisch richtig, aber soll es so sein?
Um für den Hürdenlauf des „Großprojekts“ Promotion angemessen zu trainieren, werden nicht nur von den genannten Career Services, sondern auch von Graduiertenakademien oder -kollegs verschiedenste „Workshops“ angeboten. Beliebt scheint etwa die „Schlüsselqualifikation“ „cultural awareness“. In der Heidelberger Veranstaltungsreihe „Primers for Predocs“ (Sommersemester 2019) beispielsweise soll diese „Kompetenz“ genauso vermittelt werden wie auch ein „mindset of thinking in projects“. Wie selbstverständlich wird dann auch das „critical thinking“ nahegelegt. Bezeichnenderweise, und das ist nicht persönlich zu nehmen, werden die Vorträge zum angeblich ach so kritischen Denken gehalten von zwei „Coaches“, einer Neurowissenschaftlerin und einer „Trainerin“. „Indeed we manage and carry out more projects every day than most of us can imagine“, wie es in einer Ankündigung zu einer anderen Veranstaltung der Reihe heißt.
So wie die Promotion als ein Moment wissenschaftlicher Arbeit zum „Großprojekt“ entleert wird, so wird dann bald auch die eigene Familie zum Gegenstand vorausschauenden „Managements“. Spätestens hier zeigt sich, wie der formale Duktus der Karriereberatung sich aufbläst zu einer das ganze Leben umfassenden Deutungsmacht. Die Karriere erscheint als letztes Ziel, dem alle anderen Tätigkeiten, auch die wissenschaftliche, untergeordnet werden. Die wissenschaftliche Arbeit, vorzugsweise die Promotion, wird zum Mittel dieses höchsten Zwecks, also des eigenen Glücks. Dem entspricht die bornierte Antwort auf alle ebenso bornierten Fragen nach dem Recht der Beschäftigung mit „brotloser Kunst“, die nichts hervorbringt, was man nutzen kann: „Weil es mich glücklich macht.“ Wenn Germanistik oder theoretische Physik schon kein Medikament gegen Krebs hervorbringen können, dann leisten sie doch immerhin das.
Interessen und Machtansprüche
Dieses Phänomen ist nun kein neues. Etwa 1915 übte Walter Benjamin in seinem frühen Aufsatz „Das Leben der Studenten“ radikale Kritik an einem Selbstverständnis des Studiums, nach dem die Wissenschaft nur Mittel zu einem subjektiven Zweck sei: „für die allermeisten Studenten [ist] die Wissenschaft Berufsschule“. Man meint, sie „müsse X und Y zum Berufe verhelfen“. Die „Idee des Wissens“ sei für die meisten „ein Geheimnis, wenn nicht eine Fiktion geworden“. Dass Benjamin dabei ein anderes beschränktes Selbstverständnis der Universität – nämlich als Ausbildungsanstalt für Staatsbeamte – vor Augen hatte, ändert nichts an der fortwährenden Gültigkeit dieser Beobachtung. „Die heimliche Herrschaft der Berufsidee“ ist in der karrieristischen Rhetorik ganz dieselbe.
Vielleicht wird man dagegenhalten, dass Studierende und Wissenschaftler sich eben ihren eigenen Reim auf den Sinn ihrer Tätigkeit machen sollen. Damit wird aber verkannt, dass gerade eine mit der Universität assoziierte Wissenschaftsberatung so oder so eine mögliche Sinnquelle darstellt, wenn Studierende oder angehende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sich fragen, was sie hier eigentlich machen, so im Großen und Ganzen. Doch darauf wird bestenfalls noch in der Selbstdarstellung der Universitäten eine Antwort gegeben, wenn man sich da nicht gerade wieder darum bemüht, die an ihr beheimatete Forschung vor dem „öffentlichen Interesse“ zu rechtfertigen. Keine Antwort als die oben geschilderte erhält man aber, mehr oder weniger implizit, im Kontext der wissenschaftlichen Karriereberatung: der Sinn der wissenschaftlichen Arbeit liege in der Verwirklichung meiner besonderen Lebensziele.
So droht die das Eigene transzendierende Perspektive auf Wissen und Wahrheit verloren zu gehen. Die Wissenschaft selbst gerät in den Strudel der Subjektivität, und wird dann gemäß der neoliberalen Theologie des Eigeninteresses als ein weiteres Mittel der Befriedigung je meiner Bedürfnisse gedeutet. Die Überbetonung der „Herausforderung“ und der eigenen „Karriere“ sind Ausformungen dieser Tendenz. Wissenschaft als solche gilt dann nur noch als ein beliebiges Berufs- oder auch „Selbstverwirklichungsfeld“ unter anderen, wenn nicht als Magd irgendwelcher universitätsfremden Interessensgruppen. Man muss einsehen, dass auch die Rede von der wissenschaftlichen Karriere zumindest mittelbar und in ihrer Tendenz eine möglichst unbefangene Forschung gefährdet. Eine Forschung, deren Ergebnisse nicht direkt oder indirekt durch private Interessen und Machtansprüche verfälscht werden. Eine Ahnung davon, was das bedeutet, gab jüngst und gibt immer noch der Heidelberger „Bluttest-Skandal“.
Ein zutiefst narzisstisches Missverständnis
Wissenschaftsberatung an der Universität darf eben nicht nur Hilfestellung zur Verwirklichung der eigenen Ziele sein, sondern sollte darüber hinausgehend einen allgemeinen Begriff von Wissenschaft vermitteln. Gerade auch, weil sonst dafür so wenig Platz ist jenseits der philosophischen Seminare. Benjamin schreibt, die Universität müsse „indem sie auf den Beruf hinlenkt, notwendig das unmittelbare Schaffen als Form der Gemeinschaft verfehlen“. Die Universität sei aber – aus ihrer Geschichte verstanden – „Erzeugerin und Hüterin der philosophischen Gemeinschaftsform“. Von einer „wahrhaft ernst gesinnten Gemeinschaft“ von Lehrern und Lernenden spricht Benjamin, mit impliziter Referenz auf Hegels Berliner Antrittsvorlesung von 1818, die das ambivalente Selbstverständnis der Universität des 19. Jahrhunderts eindrücklich zum Ausdruck bringt.
Schlüsselkompetenzen
machen noch keinen guten Wissenschaftler. Da hilft auch der pflichtschuldige
Hinweis auf eine hier und da beschworene Wissenschaftsethik nichts, die sich
auf Plagiatsprävention, Datenschutz und gewissenhaftes Experimentieren beschränkt.
Vielmehr müsste – gerade und vor allem im Kontext der Beratung derer, die sich
der Wissenschaft widmen wollen – vom Geist gesprochen werden, aus dem heraus
die Universität lebt. Dazu würde auch gehören, dass die Promotion als
wissenschaftsimmanente Arbeit verstanden und nicht länger als Kompetenznachweis
missbraucht wird – wozu machen denn Mediziner und Juristen ihre Staatsexamina? Der
Geist der Wissenschaft beansprucht vor allem und zuerst eine eigenständige
Existenz für sich. Zu meinen, dass die Alma Mater ihren Kindern zu Willen sein
müsste, ist ein zutiefst narzisstisches Missverständnis.
Unter Lumpenproletariern
Ein sehr schöner Text. Besoders interessant ist die Gegenüberstellung von Staatsrekrutierungsanstalt damals und Wirtschaftsausbildungsbetrieb heute. Vielleicht ist es noch immer möglich, die Einrichtung gegen sich selbst zu kehren und die Ressourcen, die sie bereitstellt, gegen ihre Gründungsabsicht einzusetzen. Vielleicht rekrutiert sich aus dem akademischen “Lumpenproletariat”, von dem der Autor so treffend spricht, die kommende messianische Klasse. Man müsste schauen, ob man Giorgio Agambens Idee der “höchsten Armut” nicht auch so verstehen kann.
'Elite' bedeutet bekanntlich Auswahl
Elite ist mithin das genaue Gegenteil des sozialistischen Massenbetriebs. Wenn sich also jetzt in deutschen Unis ein wissenschaftsfeindlicher Geist verbreitet, so ist dies nur das folgerichtige Produkt eben dieses Massenbetriebs.
"Herausforderungen" statt "Hindernisse"
die mittlerweile üblich gewordene Sprachverschleierung.
Dazu passt, sarkastisch:
“There are no problems, just challenges and every challenge is an opportunity for a new desaster” ….