Wem es auf Facebook mittlerweile zu wenig Mittagessen gibt, der ist bei Jodel genau richtig. Perfide belohnt diese App für Studenten vor allem eins: Mittelmäßigkeit. Ist das ihr Erfolgsgeheimnis?
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Wie crazy dieses Studentenleben doch ist. Da wird Montagmittag im Pyjama in Jogginghosenhausen auf der Couch gesessen, gechillt, überlegt welche Pizza man zum Frühstück essen will und ob der Basilikum auf dem Fensterbrett in der Küche noch oder schon wieder lebt. Für diese und alle Fragen, für die das hauseigene Facebookprofil mittlerweile zu schade geworden ist, will die sich gezielt an Studenten wendende Social-Media-App Jodel Abhilfe schaffen.
Für ein paar Tage habe ich mich nun auch einmal in die Tiefen des studentischen Gejodels begeben und bin abgetaucht in eine Welt des Nonsens. Das Prinzip ist simpel. Die User sind es leider auch. Wem es auf Facebook mittlerweile zu wenig Mittagessen gibt, der ist bei Jodel genau richtig.
Pizzaberatung zum Frühstück
„Sende einen Jodel an alle Studenten im Umkreis von 10km“ fordert dich die App freundlich auf. Hierfür ist noch nicht einmal eine Anmeldung und auch kein lästiges Profilerstellen mehr notwendig, denn im Gegensatz zu herkömmlichen Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter, setzt Jodel auf völlige Anonymität. Appstore aufrufen, App downloaden und schon können Kurztexte und Bildchen mit Kommentaren an alle sich im Umkreis befindenden studentischen Mitjodler gesendet werden. Diese können den eben verfassten Post wie gewohnt kommentieren, liken und durch das Setzen von Pins über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgen. Anders als auf bereits bewährten Plattformen legt Jodel keine accountbasierte Individualchronik an, sondern generiert aus den Standortdaten eine für alle sich im Umkreis befindenden User einsehbare Kollektivchronik.
Ebenfalls nicht ganz so gewohnt ist das Verfahren, nach dem die verfassten Beiträge auf Jodel geliked und auch geunliked werden können, denn via Klick auf einen Pfeil nach oben oder unten können die Beiträge up- and down-geratet werden. Und noch etwas unterscheidet das Jodelvoting hinsichtlich des Downvotings, das man in seiner Reinform bereits schon von Youtube oder Reddit her kennt, denn der Clou an dem Spiel, das Jodel da treibt, ist: wenn ein Post einen Gesamtstand von -5 Votes erreicht hat, wird er gelöscht und verschwindet endgültig im Orkus der Bedeutungslosigkeit.
Wo etablierte Social-Media-Plattformen auf Algorithmen zurückgreifen, die errechnen sollen, welchen der geteilten Beiträge deiner Freunde, Bekannten und gelikten Seiten du wohl gerade lesen möchtest, verzichtet Jodel zwar auf mühseliges Datenauswerten, zumindest bei der Chronik, agiert dennoch nicht minder perfide, denn was die geringe Mehrheit von fünf Usern nicht sehen möchte, fliegt raus. Man könnte es auch als kollektives Beitragstinder bezeichnen, und ob man es nun will oder nicht, eine ganze Online-Community steckt sich ihre Finger in die Ohren, kneift die Augen fest zusammen und macht einmal laut „Flülülülülülülü“.
Kaum habe ich die Frage, ob ich lieber die Pizza Funghi oder die Speziale, die in meinem Kühlfach um meine Aufmerksamkeit buhlen, frühstücken soll, in den Umkreis gejodelt, springen schon ein Dutzend Mitjodler zu Hilfe und auf meinem Display entflammt eine hitzige Diskussion über die Vorzüge und Nachteile der beiden Pizza-Sorten. Bei meiner Entscheidung komme ich zwar keinen Schritt weiter, weiß nun aber, dass es hier in nächster Nähe wohl Leute gibt, die Pizza Funghi auf den Tod nicht ausstehen können, und dass, wenn schon Funghi, ich auf die von Ristorante zurückgreifen solle.
Karmapunkte der Mittelmäßigkeit
Soweit so bekannt – ein Internetszenario, über das wir auch anderswo gerne einmal herüberscrollen könnten. Nur drängt sich mir beim Durchforsten meiner Jodelchronik, ganz gleich ob in Hildesheim, Frankfurt a.M. oder Hamburg, die Frage auf, wo sich hinter all den verpassten Gelegenheiten „diesen süßen Typen im Bus anzusprechen“ und Hilferufen verzweifelter Ersties, in welchem Raum Seminar XY denn nun sei, wohl die echten Inhalte und Diskurse verstecken.
Auffällig ist, dass meine Suche nach den im Internet sonst so beliebten Verbalausbrüchen, von ein paar Schenkelklopfern abgesehen, regelrecht ins Leere läuft. Nicht etwa, dass, wie man annehmen möchte, die Internetluft im anonymen Orbit dünner, der angeschlagene Ton rauher und die geführten Diskurse kruder werden, sondern das Gegenteil ist die Regel. Es scheint fast so, als habe man sich auf einen Knigge des Schweigens geeinigt, und jedes Aufkeimen möglicher Kontroversen oder bad vibrations wird teils schneller erstickt als mancher eine Antwort formulieren kann.
Wo andernorts noch darüber diskutiert wird, wie mit Hassbotschaften, Hetze, Fakenews und Spam umzugehen ist, überlässt Jodel die Kuration seiner Plattform den Usern selbst und schafft, ob freiwillig oder nicht, ein sich selbst regulierendes System. Einen inhaltlichen Nichtraum. Ob dies von den Machern der App durch Verwenden des Löschverfahrens impliziert beziehungsweise explizit gedacht war, bleibt offen. Dass sich die Macher über solche Fragen zumindest Gedanken gemacht zu haben scheinen, wird spätestens dann deutlich, wenn man auf die Karmapunkte verweist, die jeder Jodler erhalten und verlieren kann. Verliert ein Jodel an Likes und Zustimmung, verliert der Jodler an Karmapunkten und umgekehrt. Je höher dein Karma, kann man sagen, umso weiter bist du auf deinem Weg zur Mittelmäßigkeit vorangeschritten.
Tiefschlaf der Schwarmintelligenz
Auf meine Frage hin, warum denn nun gejodelt wird, schreibt ein User in für Jodel doch eher ungewohnt harschem Ton: „Weil Kim Kardashian einfach interessanter ist als Menschenleben in Syrien. Willkommen in unserer oberflächlichen Gesellschaft.“ Ein anderer User formuliert ähnliches, wenn auch nicht ganz so kritisch und ohne störenden Zeigefinger und schreibt: „Es ist eine Gemeinschaft trotz Anonymität, es macht Spaß Erlebnisse, lustige Sprüche oder Gegebenheiten mit anderen jungen Menschen meiner Stadt zu teilen und zu shakern!“ Die meisten jedoch entblößen sich als einfallslose, offenbar sexuell unbefriedigte Spaßkanonen, denen es nach eigenen Angaben darum geht, “den Lörres reinzuhämmern“.
In dem bereits 2010 erschienenen Buch „Gadget – Warum die Zukunft uns noch braucht“ schreibt einer der Pioniere der Digitalen Revolution und der Erfinder des Begriffes der „virtuellen Realität“, Jaron Lanier: „In der gerade erst aufblühenden Welt der digitalen Kultur lautete damals eine verbreitete Rationalisierung, wir träten in eine Phase vorübergehender Stille, bevor ein kreativer Orkan losbräche – oder wir befänden uns bereits im Auge solch eines Sturms. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass wir keineswegs in eine Phase zeitweiliger Stille vor einem Orkan eintraten, sondern in eine Zeit anhaltender Schläfrigkeit, und inzwischen glaube ich, wir werden dem nur entkommen, wenn wir der Schwarmintelligenz den Garaus machen.“
In welchen Tiefschlaf wir mittlerweile versunken zu sein scheinen und wie treffsicher die Prognose Laniers letztendlich war, lässt sich rund sechs Jahre später am Beispiel von Jodel nur schwer leugnen.
23:27:
Das also war der Jodel des Tages – kann man ihn irgendwie noch schönreden?
Stimm völlig!
Stimmt leider alles genau so…
Danke für den Beitrag! Musste sehr lachen.