Der Historiker Frank Rexroth beschreibt in seinem neuen Buch die Erfindung der europäischen Universität im Mittelalter. Es ergeben sich verblüffende Bezüge zu den heutigen Bologna-Hochschulen.
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Bologna als Paradebeispiel für studentische Selbstbestimmung, Paris als Hauptstadt geistigen Freibeutertums, Oxford als „Rattenschwanz“ von Paris und Deutschland als totaler Spätzünder? Das alles entdeckt man, wenn man sich auf Spurensuche nach der Geburtsstunde der modernen Wissenschaften begibt. In dem gerade erschienenen Buch „Fröhliche Scholastik: Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters“ und im persönlichen Gespräch mit dem Autor, dem Göttinger Historiker Frank Rexroth, wird deutlich, dass das Mittelalter mehr als „dunkel“ oder „rückständig“ war; auch wenn der ein oder andere Zeitgenosse die damals gerade entstehenden Universitäten als Verschwörung, Komplott oder sogar „Geschwür am Volk“ betrachtete.
Die ersten europäischen Hochschulen entwickelten sich aus den Kloster-, Dom- und Privatschulen in Bologna, Paris und Oxford am Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts. Während in Paris eine bedeutende Kathedralschule zum besonderen Anziehungspunkt für Lehrer und Studenten wurde, waren es in Bologna vor allem die Rechtsschulen. So entstanden durch die Zuwanderung immer mehr private Schulen, bis in Paris ein „kaum noch überschaubares Wirrwarr“ herrschte, wie Frank Rexroth schreibt. Aus dem Gedanken heraus, diesem Wirrwarr institutionell Einhalt zu gebieten und auch, um den Lehrstoff zu kontrollieren, entstand die mittelalterliche Universität. Aber auch den Professoren und Studierenden war daran gelegen, sich zu einer universitas zu vereinigen: So konnten sie ihren Status und damit ihre Rechte und Privilegien besser verteidigen. Übrigens: Die mittelalterliche Universität Oxford gehört zwar zu den ältesten Universitäten Europas, wird aber in der Forschung häufig nur als „Anhängsel“ der Pariser Universität betrachtet, da ihr Wachstum vor allem durch Rückkehrer von der Universität Paris vorangetrieben wurde. Ihrem Renommee tat und tut das jedoch keinen Abbruch.
Der Begriff „studium“ wurde ursprünglich für die Schulen gebraucht, erst später entwickelte sich das „studium generale“ zum Synonym für die Hochschullehre. Genauso verhält es sich mit dem Begriff „Universität“: „universitas“ (lat. „Gemeinschaft“, „das Ganze“) bezeichnete im Mittelalter nur eine Vereinigung. War die Universität wie man sie heute kennt gemeint, so bezeichnete man sie als „universitas magistrorum et scholarium“ – die Gemeinschaft der Lehrenden und Studenten. Zu Beginn gab es vier Fakultäten: Die juristische, die medizinische, die theologische und die sogenannte „artistische“, in der die sieben Freien Künste gelehrt wurden: Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik.

Und wie entstanden die ersten Universitäten im deutschen Raum? Im Gespräch holt Frank Rexroth aus: „Die Universitäten waren früh sehr stark konzentriert auf den französischen Raum beziehungsweise den Mittelmeerraum. Das ändert sich erst mit dem sogenannten Großen Schisma oder Abendländischen Schisma ab 1378.“ Zu dieser Zeit habe es zwei Päpste gleichzeitig gegeben, eine Zeit großen politischen Drucks, den die Studenten und Lehrer spürten. Die, die es beispielsweise nach Paris gezogen hatte, um dort zu studieren, kehrten ins Heilige Römische Reich zurück und so wurde die Gründung der ersten Universitäten dort begünstigt.
Es dauerte also ungefähr 150 Jahre, bis auch in Deutschland die ersten nennenswerten Universitäten entstanden. Was war vor dem Großen Schisma in Deutschland anders als beispielsweise in Frankreich oder Italien? „Es gab in Deutschland keine Professoren für die höheren Fakultäten, das heißt die juristische, medizinische und theologische Fakultät. Aber allein mit der Artistischen Fakultät konnte sich keine Universität etablieren. Die kritische Masse kam nicht zustande“, erklärt Rexroth. Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Paris ein Anziehungspunkt für Magister und Scholaren in ganz Europa war. Trotzdem lasse sich nicht etwa sagen, dass die Deutschen schon früh eine Vorliebe für die Geisteswissenschaften gezeigt hätten, weil ihnen die Professoren für die anderen Fächer fehlten. „Der Fall ist gesamteuropäisch: Die Artistenfakultät hatte enorm viel Zulauf. Die Artistenfakultät war sozusagen das Zugangstor zu den oberen Fakultäten.“, so Rexroth.
Konkret hieß das, dass die Artisten nicht nur zahlenmäßig, sondern auch institutionell die meisten Universitäten dominierten, weil es Voraussetzung für das Studium der Theologie, Jurisprudenz oder Medizin war, ein Studium der Freien Künste abgeschlossen zu haben. Als einzige Ausnahme könne man einige italienische Universitäten sehen, wie Padua oder Bologna, in denen die Juristen die Hochschule beherrschten. Ein weiterer Faktor, der zur späteren Entwicklung beitrug, war außerdem das Pariser Monopol auf das Theologiestudium. Außer in Paris, Oxford und Cambridge wurde die Zulassung einer theologischen Fakultät bis 1360 durch die Päpste verweigert.
Professoren mussten in Bologna sogar Kaution hinterlegen
Aber woher kam eigentlich der Lehrermangel, der zur späten Entstehung der deutschen Universitäten führte – wo doch in Südeuropa die Bildungslandschaft aufblühte? Rexroth sagt: „Wenige Professoren für die Professionen-Fakultäten gab es tatsächlich, teils, weil die Rechtspraxis, die Heilkunst und die Seelsorge auf antike Texte in ungleich geringerem Maß zugriff als in Südeuropa. Paris ist kein Maßstab, weil seit circa 1100 schon ein Hotspot für intellektuelle Bewegungen und geistiges Freibeutertum von nie wieder erreichtem Ausmaß.“ Nördlich der Alpen war die antike Tradition weitestgehend abgerissen – der universitäre Unterricht war aber darauf angewiesen auf diese und andere wissenschaftliche Texte zugreifen zu können, denn nur so war die Hochschullehre denkbar. Rexroth unterstreicht, dass dieser Zustand nicht nur auf Deutschland zutraf: „Die Verhältnisse im Reich sind nicht grundsätzlich verschieden von denen in Skandinavien, Ostmitteleuropa und jenen anderen Regionen, in denen die Rezeption des antiken Wissens als etwas ungleich Fremderes erschien als in der Mediterranée.“
Es gab auch Ausnahmen – Universitäten auf deutschem Boden, die schon etwas früher entstanden – wie die Universitäten in Prag, Wien oder Pécs. „Die waren aber nicht sehr erfolgreich beziehungsweise beständig“, sagt Rexroth, „es mangelte ihnen an Durchsetzungsvermögen, an Professoren und es gab Gegenbewegungen aus der Stadt. Die Städte öffneten nicht einfach die Arme und empfingen die Universitäten; da kamen eine Menge steuer- und zollbefreite Scholaren und Magister, deren Angehörige diese Privilegien teilten.“ Die Universitäten Wien und Prag „dümpelten“ erst nur vor sich hin – bis 1384: „Dann kamen neue Leute nach Wien und es ging richtig los.“

Doch trotz der allmählichen Entstehung von Universitäten nördlich der Alpen blieben die älteren Universitäten unverändert die Zentren der universitären Lehre – auch heute gelten Oxford und Cambridge ja noch als die Spitzenuniversitäten Europas. Dazu schreibt Rexroth: „Vergessen sollte man darüber aber nicht, dass nicht alle Universitäten gleich bedeutend waren, ganz im Gegenteil. Die alt-ehrwürdigen Zentren von Paris und Orléans, Oxford, Bologna und Padua waren auch in den folgenden Jahrhunderten ungleich wichtiger als die spätmittelalterlichen Neuankömmlinge. Wer es sich leisten konnte, und insbesondere, wenn er Jurist oder Mediziner werden wollte, zog weiterhin zu den großen alten Stätten Norditaliens; und wer sich kein komplettes Kanonistikstudium in Padua leisten konnte, studierte in Greifswald oder Aberdeen bis an die Schwelle des Doktorexamens und zog dann über die Alpen, um sich dort promovieren zu lassen. Das war dann immer noch teuer genug.“ Das führte auch mal zu kuriosen Streitigkeiten, wie der Historiker in seiner Neuveröffentlichung berichtet: Bei der Auseinandersetzung zwischen einem Frankfurter Apotheker und dem Stadtarzt mokierte sich der Apotheker darüber, dass der Arzt bereits nach zwei Monaten aus Italien zurückgekommen sei – mit einem Doktortitel in Medizin.
Eine festgelegte Form oder Struktur der Universität in Form eines Gesetzes gab es europaweit nicht. Dennoch hatten nur zwei Formen der Universität Bestand: Das Modell aus Paris, bei dem die Magister für die Verwaltung zuständig waren und das Modell aus Bologna. Das Modell der deutschen Universitäten orientierte sich an dem von Paris: Die Magister stellten den Rektor und den Senat, ihnen oblag die Verwaltung, sie bestimmten die Statuten. Das Bologneser Modell kehrte diese Verhältnisse um. Dort hatten die Studenten das Sagen und sie hatten eine interessante Strategie, um für die Qualitätssicherung zu sorgen: Sie stellten die Professoren an und diese mussten sogar Kautionen hinterlegen, um für eventuelle Unterrichtsausfälle oder qualitativ minderwertigen Unterricht zu bürgen. Rexroth merkt im Gespräch zum Modell Bolognas an: „Diese Form war eine italienische Spezialität.“ Ironisch, dass die umfassendste Hochschulreform der vergangenen zwanzig Jahre, die im Gedanken an das lange Bestehen der Universität unterzeichnet wurde, ausgerechnet nach dieser Universität benannt wurde – ohne das geringste mit studentischer Selbstverwaltung zu tun zu haben.
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Quellen:
Walter Ruegg (Hrsg.): Die Geschichte der Universität in Europa. Band I: Mittelalter. München 1993.
Rexroth, Frank: Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters. München 2018.
Rexroth, Frank: Horte der Freiheit oder der Rückständigkeit? Die europäischen Universitäten der Vormoderne. In: Gerd Lüer, Horst Kern (Hrsg.): Tradition – Autonomie – Innovation: Göttinger Debatten zu universitären Standortbestimmungen. Göttingen 2013, S. 13-37.
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Insofern keine der Wissenschaften ohne einen Zugang zur Kreativität je überlebt hätte, lautet gesellschaftlich und nicht allein historisch die zentrale Frage, auf welche Weise es Universitäten noch immer schaffen, deren Quelle offen zu halten angesichts einer zu allen Zeiten gegenwärtigen Machtstruktur aus politischen Apparaten, Bürokratien und Verbänden, die keine Gelegenheit verstreichen lassen, Sperren zu errichten. Dabei ist insbesondere zu beantworten, wessen Geist am meisten von der dadurch auf breiter Front betriebenen Ausrottung bedroht ist. Mitunter treibt das seltsame Blüten: Diejenigen, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung nachweislich einen leichteren Zugang zum Urquell aller Kreativität besitzen, werden verdrängt von denjenigen, die nicht über solch einen unschätzbaren Vorteil verfügen. Die harte Gewissensprüfung, von der Max Weber in “Wissenschaft als Beruf” spricht, wenn Jahr um Jahr Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit über einen hinaussteigt, muss somit erst bestanden werden, ohne seinerseits selbst zu verbittern oder zu verderben. Interessant wäre demnach zu erfahren, weshalb vor allem in Paris oder Oxford, aber auch in Padua und Bologna die Formen illegitimer Herrschaft sich in der Vergangenheit im Nichts verloren, während sie hiesig jahrhundertelang die Gründung von Universitäten mindestens verzögerten, wenn nicht von vornherein jedwedes geistige Arbeiten bis heute unmöglich machen.
Universitäten
Recht instruktiver Beitrag zur historischen Entwicklung der Universitäten. Gerade in Zeiten, in denen sich so mancher Prof. bzw. Prof.in die Freiheit der Lehre zum Nachteil von Studenten auslegt, sollte man sich an der Kautionshinterlegung von Bologna ein Beispiel nehmen …
Ein leicht verfälschter Eindruck
Danke für diesen interessanten Text. Ich möchte ein paar Ergänzungen vornehmen: In Bologna war eine studentische Selbstverwaltung nur deshalb möglich, weil die Studenten deutlich älter waren und sich oft in den 30ern befanden. Die Artistenuniversitäten in Paris und Co bauten nicht darauf auf, denn die Artisten waren zu Studienbeginn oftmals nur 10 oder 12 Jahre alt; das Artistenstudium ist übrigens leicht mit unserem heutigen Gymnasium zu vergleichen, da die Studenten dort u.a. Schreiben und Lesen lernten, was eine Voraussetzung für die weiterführenden Fakultäten im Reich gewesen sind (Theologie, Recht, Medizin).
Der Grund, warum Prag als erste deutsche Universität gescheitert ist, lag auch vor allem daran, dass die Vier-Fakultäten-Universitäten einen Zusammenprall unterschiedlicher Stände darstellten. Jura war immer ein Adeligending, und die Ständeunterschiede waren es schließlich, die zu einer Universitätsteilung in Prag führten, die Rechtsfakultät gründete ihre eigene Universität. Der restliche Teil war dann dem Untergang geweiht, weil die Theologen um 1400 von Katharern durchsetzt waren, eine aus Sicht der kath. Kirche Sekte, weshalb ihr die Lehrberechtigung entzogen wurde. Folglich wurden wollten dort auch weniger Studenten hin. Die Gründungswelle an Universitäten im deutschen Reich war auch weniger das Resultat eines Wissensdurstes, sondern eher eine Mischung aus Notwendigkeit, denn einerseits brauchten Herrscher Verwalter, andererseits waren Universitäten ein großartiges Prestigeprojekt. Deshalb waren viele Universitätsgründungen durch Herrscher erfolgt und sind nicht wie in Bologna das Produkt langer Entwicklungen aus Personenverbänden.
Ich empfehle für eine gute Übersicht neben dem hier zitierten Werk von Ruegg noch Rainer Christoph Schwinges “Studenten und Gelehrte”.