Bevölkerungswachstum und Klimawandel verursachen zunehmend Nahrungsmittelknappheit. Alternative Nahrungsquellen werden immer wichtiger. Eine Reise zum vielseitigen Mikroorganismus Spirulina Platensis.
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Während der diesjährigen Semesterferien verschlug es mich nach Afrika. Nach einiger Zeit in Äthiopien ging die Reise weiter gen Süden, nach Kenia. Wir waren zu zweit unterwegs. Caleb, ein guter Freund aus Neuseeland, war mein aufmunternder Begleiter. Es ging vom abessinischen Hochland, durchs Rift Valley und schließlich, nach der äthiopisch-kenianischen Grenze, durch eine karge Steinwüste, die von zahlreichen Kamelen und einigen Vogelsträußen bewohnt wird. Einer unserer ersten Zwischenstopps war Nanyuki, eine kleine quirlige Stadt am Fuß des zweithöchsten Bergs Afrikas, des Mount Kenia. Wir lassen uns durch den kleinen Ort treiben, reden an jeder Ecke mit Einheimischen und genießen frische Früchte. Schließlich kreuzt sich unser Weg mit dem anderer Reisender und wir kommen ins Gespräch. Am Abend lernen wir Matthieu aus Frankreich und seine Freundin Cathrine aus den Niederlanden kennen und erfahren von ihrem Engagement in Kenia. Die beiden arbeiten auf einer Farm im Süden der kenianischen Küste, wo “Spirulina” produziert werde. Meine Stirn runzelt sich, da ich mir unter „Spirulina“ nicht wirklich etwas vorstellen kann. Neugierig folgen wir der freundlichen Einladung der beiden und reisen weiter zur tropischen Ozeanküste Kenias.
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Der Van rattert über die unbefestigte und staubige Landstraße südlich der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Zahlreiche Schlaglöcher lassen das Fahrzeug und seine Insassen hin und her schwanken. Die untergehende Sonne schickt ihre letzten Strahlen zwischen den Büschen und Mangobäumen hindurch. Palmen wiegen sich leicht im Wind und strecken sich mit ihrem langen Stamm dem tiefroten Himmel entgegen. Vor Lehmhütten sitzen Familien, die uns mit neugierigen Blicken verfolgen. Kleine Kinder schrecken erfreut auf, kommen hinter den Büschen hervor und laufen uns hinterher. Sie rudern mit den Armen und rufen uns lachend „Masungo!“ hinterher, was in Kiswahili soviel wie „weißer, fremder Mensch“ bedeutet. Wir winken freundlich zurück und fühlen uns sogleich angenehm willkommen geheißen. Eine Gruppe kleiner Jungen weist uns den Weg zum dicht bewachsenen Rand des kräftig grünen Kaya Waldes, bald darauf kommt unser Wagen vor dem Eingangstor der „Kugawana Spirulina“-Farm zum Stehen.

Spirulina Platensis ist eine nur unter dem Mikroskop sichtbare, einzellige Alge, die in tropischen und subtropischen Salz- und Süßwasserseen wächst. Der Mikroorganismus gehört zu den ältesten Lebensformen auf unserem Planeten. Es wird angenommen, dass diese Algen schon seit Jahrtausenden als Nahrungsmittel Verwendung finden (vgl. Ramaraj et.al. 2017: 710). Doch erst in der Neuzeit rückte der Mikroorganismus in den Wahrnehmungshorizont der westlichen Welt. Im 16. Jahrhundert berichtete der spanische Konquistador Hernàn Cortès über die Verwendung einer sonderbaren Alge im Reich der Azteken. In den 1940er Jahren werden französische Kolonialtruppen in der Gegend um den Tschadsee auf ein eigenartiges Nahrungsmittel aufmerksam. Die Menschen schöpften hier von der Oberfläche des Sees eine dickflüssige Masse ab, ließen sie in der Sonne trocknen und pressten sie zu Blöcken. Noch heute ist unter dem dort ansässigen Stamm der Kanebou Spirulina unter dem Namen Dihè bekannt und wird als Bestandteil von Soßen in Verbindung mit traditionellen Hirsegerichten verzehrt (vgl. Ciferri 1983: 551ff.). NGOs wie die Kugawana Spirulina-Farm sehen ihre Aufgabe nun darin, an dieses alte, lokale Wissen zu erinnern und es wieder zu beleben, um so den Menschen ein Mittel für eine unabhängige, selbsterzeugte und vitaminreiche Ernährung an die Hand zu geben.

Die gut verdauliche Alge soll zu meinem Erstaunen dem Körper ausreichend Nährstoffe für ein hungerfreies Leben und eine gesunde Entwicklung liefern. Sie ist reich an Vitaminen, Mineralien, Carotinoiden und Protein. Der hohe Proteingehalt von etwa 70 Prozent ist bemerkenswert, die Bestandteile Eisen und Vitamin A machen die Alge zu einer Art Wundermittel gegen Unterernährung.
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Im Morgengrauen beginnen Kasim und Phillip mit der Arbeit. Die Sonne kündigt langsam den Tag an und der letzte Moskito sirrt an meinem Kopf vorbei. Phillip ist ein hochgewachsener Mann von Anfang 50 und Vater von vier Kindern. Er war schon Taxifahrer und Gemüseverkäufer, immer lebte er mit saisonalen und wirtschaftlichen Schwankungen und ist nun überaus glücklich über seine Festanstellung auf der Kugawana-Farm. Kasim ist 26 Jahre alt, hat vier Geschwister und ist erst seit ein paar Monaten auf der Farm. Seine schulische Ausbildung endete nach der Grundschule, da seine Eltern nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügten. So war Kasim schon früh gezwungen zu arbeiten und für sich selbst zu sorgen. Er war immer mal wieder arbeitslos und ergriff jeden Gelegenheitsjob. Letztes Jahr ist seine Mutter verstorben, was ihn lange Zeit stark belastete. Kasim und Phillip wohnen in einem der umliegenden Dörfer. Beobachtet man sie bei der Arbeit, sieht man ein gut eingespieltes Team, selbständig, ruhig und zuverlässig die Arbeit verrichten.
Matthieu, den alle Matt nennen, erklärt uns während einer kleinen Führung über die Farm jeden einzelnen Produktionsschritt. Schnell sind wir mit der Arbeitspraktik vertraut und gehen Phillip und Kasim zur Hand. Zu Beginn des Arbeitsprozesses wird die Spirulinadichte im Wasser gemessen, um herauszufinden, ob „geerntet“ werden kann. Um Spirulina Platensis herzustellen, müssen die Konditionen eines Sees künstlich erzeugt werden. Auf der Kugawana Spirulina-Farm stehen dazu vier Pools zur Verfügung. Täglich wird in das seichte Wasser ein Cocktail von Speisenatron, Kaliumnitrat- und Sulfat, von Harnstoff, Magnesiumsulfat und Eisen gegeben. Um das Wasser in Bewegung zu halten, rotieren darin jeweils zwei kleine Schaufelräder. Mit einem Schlauch wird das algenhaltige Wasser dann aus dem Pool gepumpt. Die grüne Brühe gelangt in einen Behälter, der mit einem feinen Filter ausgestattet ist.

Kasim beschleunigt den Filterungsprozess, indem er mit einer kleinen Schaufel das Wasser durch Rühren in Bewegung hält. Das gefilterte Wasser fließt zurück in den Pool, im Behälter bleibt eine dickflüssige Spirulinamasse zurück. Diese wird in ein feines Tuch gegeben und mit Hilfe einer Presse vom restlichen Wasser getrennt. Zurück bleibt ein dunkelgrünes Erzeugnis, das in seinem Aussehen stark an Kinderknete erinnert. Mit einer Dichtungspistole wird die Masse jetzt zu feinen Spaghetti geformt. Abschließend kommen die dünnen Spirulinanudeln in einen heißen Raum zum Trocknen, wo sie sich nach etwa 24 Stunden ihrer letzten Flüssigkeit entledigt haben. Das Algenprodukt ist damit essfertig und mindestens drei Jahre lang haltbar.
Das Team der Kugawana-Farm verteilt nun die zerkleinerten Spirulina-Spagetti in Dörfern, in denen Hunger und Unterernährung vorherrschen. Um diese humanitäre Aktion zu finanzieren, wird ein Teil der Spirulina-Ernte zu Pulver verarbeitet und an Supermärkte und Großhändler verkauft. Als Nahrungsergänzungsmittel ist es in der gebildeten und wohlhabenden Gesellschaftsschicht Kenias sehr beliebt.
Im Kern ist die Kugawana Spirulina-Farm aber eine humanitäre NGO. Das Wort „Kugawana“ stammt aus dem Kiswahili und bedeutet „teilen“. Ziel der Organisation ist es, Unterernährung auf natürliche Weise zu bekämpfen und gleichzeitig den betroffenen Menschen das Wissen zu vermitteln, selbst Spirulina zu produzieren, damit sie ein selbstbestimmtes und autonomes Leben führen können. Das Projekt wurde im Jahr 2008 von Cats Eltern in Frankreich ins Leben gerufen. Bereits 2009 folgte eine weitere Farm in Burkina Faso, seit 2016 wird auch in Kenia Spirulina hergestellt. Seit etwa einem Jahr unterstützen Matt und Cat das Projekt als Vollzeitkräfte. Unbefriedigt von der kapitalistischen Konsumgesellschaft wurde ihnen ihre Arbeit als Ingenieur und Marketingberaterin immer fragwürdiger. Beide sehnten sich nach einer in ihren Augen sinnvolleren Beschäftigung. Schließlich kündigten sie ihre Jobs, flogen nach Kenia und kümmern sich seither um die Produktion und Distribution des kleinen essbaren Mikroorganismus.

Die angenehme Atmosphäre auf der Farm, die traumhafte und ruhige Lage am Waldrand lässt uns hier für fünf Tage verweilen und jeden Tag dieselben Arbeitsschritte begleiten. In der westlichen Welt erfährt die Alge übrigens gegenwärtig einen regelrechten Hype, sie soll unzählige Krankheiten heilen und wird als Superfood gepriesen. Diese Wunderwirkungen werden aber wohl etwas überzogen vermarktet. Auch regional vorkommendes Obst und Gemüse ist ja vitaminreiches „Superfood“.
Ich stopfe meinen Rucksack voll und werfe ihn mir über. Vor der Farm läuft bereits der Motor eines Pickups, der Fahrer ruft schon nach uns. Wir verabschieden uns von Phillip, Kasim, Matt, Cat und anderen Farmmitarbeitern, die gerade ein Baumhaus bauen. In den wenigen Tagen sind wir fest mit dem Team verschmolzen. Jeder hier ist überaus glücklich mit seiner Tätigkeit, wird überdurchschnittlich entlohnt und verbringt auch gerne mal seinen freien Tag in einem schattigen Plätzchen an diesem Ort. In dieser Hinsicht erscheint mir die Farm als ein volles Erfolgsprojekt. Es stärkt die wirtschaftliche Selbstständigkeit einheimischer Menschen und verfolgt das Vorhaben, Unterernährung einzudämmen. Vor kurzem wurde sogar ein Sponsoringprogramm für die naheliegende weiterführende Schule ins Leben gerufen.
Das einzige, was mich anfangs störte, war das hierarchische Gefüge, das mich an vergangene koloniale Verhältnisse erinnerte, in denen Afrikaner für die wohlhabenden Europäer schufteten. Doch meine Bedenken kösten sich auf, als ich erlebte, das hier auf Augenhöhe miteinander umgegangen wird.
Ich winke mit einem großen Grinsen und ein wenig Wehmut in mir dem Team der Farm zu. Der Pickup setzt sich langsam in Bewegung und wir verschwinden zwischen aufgewirbeltem Staub und Palmen. Ich sinne den vergangenen Tagen nach und kann mir durchaus vorstellen, dass Spirulina noch im Kommen ist.
Homepage der Kugawana Spirulina-Farm: www.secteur10.fr
Literatur:
Capelli, Bob; Cyseweski; Gerald R. (2010): Potential health benefits of spirulina microalgae. A review of the existing literature. G.R. Nutrafoods. Volume 9. Issue 2. P.19-26.
Ciferri, Orio (1983): Spirulina, the Edible Microorganism. In: Microbiological Reviews. Vol. 47, No.4. American Society for Microbiology. P.551-578.
Ramaraj, Sathasivam; Ramalingam, Radhakrihnan; Abeer, Hashem; Elsayed F., Abd_Allah (2017): Microalgae metabolites: A rich source for food and medicine. Saudi Journal of Biological Sciences 26 (2019). P.709-722.
Sehr geehrter Herr Huf
Vielen Dank für den interessanten Bericht. Grundsätzlich ist das ein sinnvolles Projekt, um die lokale Bevölkerung vor Unterernährung zu schützen. Wichtig ist aber das Qualitätsmanagement, weil die Gefahr einer ungewünschten Kontamination, die lebensgefährliche Toxine produzieren können, in solchen offenen Systemen sehr gross ist.
Noch zwei Korrekturen:
Spirulina platensis ist keine Alge, sondern ein Cyanobacterium.
Paradigmenwechsel
Solche neuartige Lebensmittelproduktionen sowie das Ableben älterer, grauhaariger Herren wird dafür sorgen, dass sich die Ernährungsweise der Menschheit in den nächsten Jahrzehnten grundlegend wandelt.
Mit Entsetzen wird man auf die Grausamkeiten gegenüber Tieren zurückblicken, gedankenlos ins Leben gezwungen, versklavt, vergast, abgestochen, in Einzelteile zerhackt und schließlich verpackt mit schönem Bildchen versehen im Supermarkt zum Kauf angeboten.
Soylent Green
ist irgendwie das Erste was mir dazu einfällt. Das Zweite was mir dazu einfällt ist Asimovs “Caves of Steel”, wo die Menschheit in riesigen, von der Außenwelt angeschlossenen Städten lebt und sich von Hefeextrakt ernährt. Soll das Fortschritt sein oder erleben wir jetzt schon einen Vorgriff auf Rationierungsmaßnahmen?
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Hallo Andreas,
danke für dein Kommentar. Die Kontamination kommt vorallem auf großen, industriellen Farmen in Asien vor. Hier steht Quantität vor Qualität. Doch natürlich besteht die Gefahr überall.
Danke auch für deine Berichtigung!
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https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/spirulina-viel-gruen-und-wenig-dahinter-21053
Lieber Robert
Der von der Verbraucherzentrale kritische Review über Spirulina sollte man auch hinterfragen.
Als Mikrobiologe nervt mich hier wieder die Verwechslung von Algen und Cyanobakterien. Das ist etwa so, als würden Sie einen Pilz mit einem Hund verwechseln.
Ausserdem wird Spirulina durch die Verbraucherzentrale als reines Nahrungsergänzungsmittel bewertet, während viele Leute in Kenia sie offensichtlich als Nahrungsmittel verspeisen, also grössere Mengen davon essen. Und damit stellt das Cyanobakterium tatsächlich eine signifikante Quelle an Eiweiss, Carotinoiden, Eisen und Vitaminen dar.
Der Hinweis, dass Spirulina bei Phenylketonurie nicht geeignet ist, ist zwar richtig, trifft aber für die meisten anderen Eiweissquellen wie z.B. Fleisch oder Milch auch zu, weil die alle Phenylalanin enthalten. Phenlyalanin ist sogar eine essentielle Aminosäure, die der Mensch mit der Nahrung aufnehmen muss, weil der menschliche Körper sie nicht selber herstellen kann.
Wie ich in meinem anderen Kommentar schon erwähnt habe, muss bei Anzucht in offenen Systemen allerdings peinlichst genau auf die Qualität geachtet werden, so dass keine Kontaminationen (pathogene und/oder Toxin-produzierende Mikroorganismen, Vogelkot, Schwermetalle etc.) auftreten können. Wenn das gewährleistet ist, spricht nichts gegen die Anzucht und den Verzehr von Spirulina, speziell in Afrika, wo viele Leute an Unter- oder Fehlernährung leiden.
Übrigens: Der Begriff Superfood ist meiner Meinung nach ein reiner Marketingbegriff, der so gut wie garnichts aussagt, ausser dass das entsprechende Produkt in der Regel überteuert ist.