Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Kleine Typologie des WG-Castings

Das Studentenleben könnte so schön sein, wenn nicht die leidige Zimmersuche wäre. Und in den Wohngemeinschaften sitzen immer die gleichen Nervensägen. Das Auswahlverfahren überlebt man nur mit messerscharfer Analyse.

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Zimmerbörse in der Universität Jena

Semesterstart. Die Prüfungen vom letzten Semester sind überwunden, die Hausarbeiten durchstanden, die Kämpfe mit den Prüfungsämtern ausgefochten (wir haben’s schwer, wir Studenten). Man spürt, wie sich überall neues Leben dem frischen Semester entgegen regt und fast scheint es so, als sei das Studentenleben in Ordnung. Doch wehe dem, der da umziehen will. Die Jagd nach den guten Wohnungen hat schon am Ende des letzten Semesters begonnen, wenn die fertig entwickelten Erwachsenen in eine andere Stadt, in ein Berufsleben ziehen und neue Erstsemester mit ihrem naiven Frohsinn die Universitätsgebäude durchströmen wie Heuschrecken. Die große Reise nach Jerusalem ist längst im fortgeschrittenen Stadium, auch wenn man selbst eben erst bemerkt hat, dass am eigenen Stuhl gewaltig die Termiten nagen.

Verlässt man nun die Sicherheit des eigenen Nests, um sich in einer kalten, feindlich gesinnten Welt eine neue Bleibe zu suchen, so stehen zwischen einem selbst und dem perfekten neuen Zimmer nicht nur Vermieter und Verträge, sondern auch diese lästigen, zukünftigen Mitbewohner. Sie sind die Zeugen Jehovas unter dem Wohnungsmobiliar: Eine Art Spülmaschine, die zwar jeden Morgen Zeit hat, von Gott und der Welt zu schwafeln, sich aber dafür hartnäckig weigert, zu spülen. Unterhalten soll man sich jetzt mit denen, als wäre man freiwillig hier. So tun, als würde man sich für sie persönlich interessieren, als wären sie einzigartige Individuen und nicht nur anstrengend geschwätzige Inventargegenstände. Man ersetzt das Seufzen also durch ein Lächeln und erscheint zum Vorsingen beim WG-Casting, als hätte man heute sowieso vorgehabt, sich eine Hose anzuziehen. Dann macht man bei der Bandabfertigung der Bewerber/neuen besten Freunde einen guten Eindruck (oder aus Versehen einen authentischen) und trifft dabei fast unweigerlich auf eine oder mehrere dieser Kategorien. Mischformen sind, so das Mantra aller Lehrenden, die schon einmal versucht haben, ihren Studenten Idealtypen näherzubringen, wie immer möglich. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben.

© dpaDie Erfinder der Groß-WG: Heterocephalus glaber, der Nacktmull

I. Die gemeine Party-WG

Melancholisch gucke ich durch die kreisrunde Stelle eines Küchenfensters, die ich vorher mit der Hand vom Staub befreit habe. Unten vorm Haus wiegt, locker zwischen die Stangen des Geländers eingeflochten, sanft eine halbe Rolle Toilettenpapier im Wind. Der Besichtigungstermin war zwar um 14 Uhr angesetzt, wie immer bin ich aber ein bisschen später dran: Die Bahn, die Ampeln, die Unlust. Das Treppenhaus mutet zunächst noch relativ normal an, wobei es Stufe für Stufe schwerer wird, den penetranter werdenden Geruch abgestandener Energydrinks zu ignorieren. Das Buntglas der angelehnten Wohnungstür aus den Achtzigern hat einige Sprünge, die Klingel ist kaputt. Nach dem Klopfen geht die Tür knarzend einen Spalt weit auf und das Geräusch fallender Pfandflaschen besiegt die Stille. Der plötzliche Laut muss wohl die bisherigen Bewohner aufgescheucht haben. Es regt sich hie und da Leben, langsam erwacht Licht in der Dunkelheit, durch den Spalt der geöffneten Tür spähen vorsichtig drei Paar Augenringe. Verhaltenes Blinzeln, Rehe im Kegel des näher kommenden Scheinwerferlichts. Aus Mangel an Alternativen werde ich hereingebeten, man scheint sich noch nicht völlig sicher zu sein, was die unbekannte Frau vor der Wohnungstür will, mitten in der Nacht. Ich erkläre mich, allgemeines Nicken, Räuspern. „Samstags feiern wir immer ein bisschen“, flüstert mein zukünftiger Mitbewohner und gibt den halbherzigen Versuch auf, ein Gähnen zu unterdrücken. Es ist Dienstag. An der WG-eigenen Feuerstelle vorbei, gehe ich in die Küche. Rechts und links von mir: in die Wand gesunkene Schnapsleichen. Ein Relief im Zeichen der Vergänglichkeit. Die allgemeine Müdigkeit ist ansteckend, die Konversation fließt zäh wie Klebstoff.

 

I.1. Die Ersti-Party-WG

Man kann über sie nur liebevoll schmunzeln. Vor drei Tagen haben sie sich von den Tränen verhangenen Augen ihrer Eltern verabschiedet und sind hinausgezogen in die große Welt, wo eben diese Eltern erst mal beim Einzug geholfen haben. Der emotionale, zweite Abschied wurde ungeduldig herbeigesehnt und jetzt ist man frei. Unabhängig. Der Essensvorrat, den die Eltern noch fürsorglich im Kühlschrank verstauten, ist das letzte Wahrzeichen der eisernen Ketten, die man unter der Knechtschaft seiner Eltern ertragen musste. Symbolträchtig wird er entsorgt und freudig, dass nun öffentlich erlaubt ist, was früher heimliche Rebellion bleiben musste, knarzen alle Fächer des Kühlschranks bald vom Gewicht des eingelagerten Biers. Drei Wochen gibt man ihnen in seiner alt-ehrwürdigen Weisheit, die man über die letzten Semester durch Selbststudium des echten Lebens akkumulierte. In drei Tagen werden sie sich wünschen, das Bier sei der zuvor so großspurig verschmähte Essensvorrat. In einer Woche werden sie merken, dass Haushaltsutensilien keine von selbst nachwachsenden Rohstoffe sind. Nach drei Wochen wird die Wohnung zerfeiert und die Süße der Rebellion zur schalen Gewohnheit verkommen sein. Obwohl man nie sein wollte, wie seine Eltern, wird man zähneknirschend anfangen, zu putzen, Stahlschwämmchen zu kaufen, Preise zu vergleichen. Das ist ja das Fiese, so kriegen sie einen nämlich: Jenseits aller elterlichen Mahnung zur Ordnung wird man ganz von alleine erwachsener.

© dpaSchmuckes Kellerzimmer mit WLAN und Regenwasserreservoir direkt in der Innenstadt

I.2. Die Hippies

Es handelt sich hierbei um eine abgewandelte Form der Party-WG. Die Partys gehen zwar genauso lang und sind genauso laut, sie sind aber darüber hinaus für exzellente Mitternachts-Snacks und langsame, langsame Musik bekannt. Hierzu tanzt man zumeist nicht, man wiegt sich höchstens sitzend im Takt. Der zuvor erwähnte Geruch nach abgestandenen Energydrinks wird zumeist durch den Duft nach feinsten Gräsern ersetzt. Zudem leben alle Mitglieder mindestens vegan. Das weiß die potentielle neue Mitbewohnerin, weil alle bisherigen Bewohner es ihr gesagt haben. Jeder einzelne zweimal.

 

II. Die Zweck-WG

Ich klingle an der Eingangstür eines Plattenbaus, ohne zu fragen, wer da ist, werde ich hereingelassen. „Die Dritte ist da!“, ruft einer meiner zukünftigen Mitbewohner in die Wohnung hinein. Die Wohnung ist in Ordnung, wenn auch etwas lustlos aus allem zusammengestückelt, was man von den Eltern mitbekommen hat. Bad, Küche, mein zukünftiges Zimmer, alles vorhanden, was vorhanden sein muss. Das Kennenlernen, ein gegenseitiges Abtasten nach möglichen Tendenzen zum Serienkiller. Zufällig waren wir alle drei keine. Die Treppe hinunter stapfend ziehe ich ein erstes Fazit: Bei einer WG,wie auch bei witzigen Text ist Zweckmäßigkeit nur einer von vielen Faktoren, die ein stimmiges Gesamtbild ergeben.

 

III. Die gemeinen Spießer

Bei der Ankunft werde ich aus irgendeinem Grund gebeten, den Fahrstuhl nicht zu benutzen und schleppe mich Stufe für Stufe ins siebte Stockwerk. Ungeduldige Blicke an der Tür, ich bin spät dran. Die Ampeln, die Bahnen, erkläre ich verlegen. Doch vergebens: Ich habe mich der Unpünktlichkeit bereits schuldig gemacht. Ich trete ein, meine Schuhe und meine Jacke haben einen eigens für sie vorgesehenen Platz, obwohl ich noch gar nicht hier wohne. Mit Blick auf die Uhr werde ich durch die Wohnung geführt, eine Ansammlung schneeweißer Wände, makelloses Parkett. Eine von Picassos Einstrichzeichnungen, schwarz eingerahmt, schwarzes Passepartout, wirkt wie ein röhrendes Rülpsen im respektvollen Geflüster eines Wartezimmers. Die Wohnung soll noch bunter werden, versichert mir mein zukünftiger Mitbewohner, es sei ja alles noch so neu, und man habe sich noch nicht richtig auf die Stilrichtung der Deko einigen können.

Zuerst wird mir mein zukünftiges Zimmer vorgeführt: Ein weißer, staubfreier Würfel, in dessen Ecke hinten rechts verschämt ein Bettgestell steht. Danach sind Küche und Bad an der Reihe. Das Lüften nach dem Kochen und Duschen sei des Weiteren obligatorisch, erklärt mein zukünftiger Mitbewohner mit ernster Miene. Ich nicke beflissen. Jeder Bewohner, vier sind es insgesamt, habe einen Waschtag. Spontanes Waschen sei im Notfall erlaubt, wenn der rechtmäßige Wäscher die ausdrückliche Erlaubnis erteilt, sonst ereilt den Wäschenotleitenden das verdiente Schicksal: Es folgt ihm das Stigma des leicht unangenehmen Geruchs, als Zeichen seiner Unfähigkeit und seiner Schmach. Diese Regeln, so wird mir mitgeteilt und ich muss die Stirn ob des Oberlehrertones runzeln, gelten für alle und seien zum Wohle aller, zukünftig also auch zu meinem, erhoben worden. „Natürlich“, antworte ich und hole tief Luft. „Denn was steht schon zwischen der Zivilisation des Menschen und der Wildheit des gemeinen Viehs, wenn es nicht einen fein säuberlich ausgearbeiteten Katalog an Regeln gäbe. Was schützt uns vor einander und vor allem vor uns selbst, wenn wir nicht selbstauferlegte Zwänge hätten, die Selbstverständlichkeiten erschöpfend aufdröseln und regulierbar machen“, denke ich und fühle mich zu rebellisch, um den Gedanken laut zu formulieren.

Mittlerweile haben wir uns am Küchentisch niedergelassen. Mein zukünftiger Mitbewohner sitzt in seiner lockeren Art falsch herum auf seinem Stuhl. Das fetzt. Zudem, so teilt er mir mit, sei auch die Atmosphäre regulär eine freundschaftliche und das solle auch so bleiben. Man koche im Regelfall gemeinsam. Eine entsprechende Zeiteinteilung werde also auch von neuen Mitbewohnern erwartet. Die Ironie des Versuches, eine bedingungslos auf Freiwilligkeit basierende Verbindung wie Freundschaft als Anweisung zu formulieren, entzieht sich meinem zünftigen Mitbewohner. Ich fühle mich aber zu rebellisch, um ihn darauf hinzuweisen. Stattdessen folge ich mit meinem Blick gehorsam der großzügig weisenden Geste meines zukünftigen Mitbewohners: Eine perfekt gesäuberte Arbeitsplatte. In diesem Zustand, so erklärt er mit einem bedeutungsschwangeren Blick, hinterlasse er diese immer. Nach fünf Minuten Smalltalk werde ich wegen guter Führung frühzeitig entlassen. Sieben Stockwerke, dann: hupendes Verkehrschaos. Freiheit.

Die perfekte WG wird sich wohl nicht finden lassen, denn, das haben einem schon damals die Eltern als Grundsatz mitgegeben: Niemand ist perfekt, jeder hat Fehler, keine Süßigkeiten von Fremden annehmen. Die Tür der nächsten Wohnung schwingt auf; Perfektion darf nicht mein Maßstab sein. Aber es muss doch eine WG geben, in der man gerne wohnt. Hat jemand einen Hoffnungsschimmer?