Einst hat ein Reisestipendium sein Leben verändert. Dreißig Jahre später fährt Karsten Drath mit dem Fahrrad von Heidelberg nach Verona, um Geld für künftige Stipendiaten zu sammeln. Was treibt ihn?
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Der Reifen ist platt. Das Fahrrad steht auf Sattel und Lenker, die fünfzehn Kilo Gepäck liegen drum herum verstreut. So treffe ich Karsten Drath neben einer Landstraße, vierzig Kilometer entfernt von Freiburg. Ein älterer Herr mit Mountain-E-Bike hält an und fragt, ob er helfen kann. Karsten Drath dankt, der Schlauch ist schon gewechselt. Reifen wieder ans Rad, Bremsen einhängen, aufpumpen. Dann kann es weitergehen. Karsten und sein Kumpel Michl, der ihn für zwei Tage begleitet, haben heute schon um die hundert Kilometer in den Beinen. Ich bin für das letzte Stück hinzugestoßen.
„In meinem Leben“, sagt Karsten Drath, „war ‘Zis’ total zentral. Ich kam aus einer schwierigen Familiensituation, meine Mutter war auf Medikament-Entzug, ich hatte überhaupt kein Selbstbewusstsein, ich war ein Niemand. Und das Stipendium hat mir eine Möglichkeit gegeben, herauszufinden, was ich alles schaffen kann.“ Das „Zis“, von dem er spricht, steht für „Zusammenarbeit Internationale Studienreisestipendien“, wobei die Idee nach Deutschland importiert wurde. Der damalige Schulleiter des Internats in Salem war beeindruckt von der französischen Organisation Zellidja und hat deren Grundsätze 1956 in eine eigene übertragen. Die ersten dreißig Jahre entwickelten sich finanziell schwierig. Die Internatsschule Salem, die Studienstiftung des Deutschen Volkes (für die Zis heute Stipendiaten vorschlagen kann) und ehemalige Reisende mussten die Stiftung mehrfach retten. Heute finanziert Zis die Stipendien im Wesentlichen aus den Zinsen des Stiftungsvermögens, den Beiträgen eines Freundeskreises und sonstigen Spenden, jedes Jahr werden rund fünfzig Stipendien vergeben.
Die Schwelle zu “krass” verschiebt sich.
Alles, was man zur Bewerbung braucht, ist eine gute Idee und etwas Mut. Bewerben können sich alle zwischen 16 und 20 mit einem Thema, dem sie während einer mindestens vierwöchigen Reise im Ausland auf den Grund gehen wollen. Dabei dürfen die Stipendiaten nicht fliegen oder im eigenen Auto fahren. Sie bekommen 600 Euro, verpflichten sich, mit dieser Summe die gesamte Reise zu bestreiten, ziehen los, und schreiben nach der Rückkehr einen Bericht.
Während Karsten seine Reise vor mehr als dreißig Jahren angetreten hat, liegt meine acht Jahre zurück. Ich bin damals mit der Tour de France durch Frankreich gefahren, Karsten zu Fischern in Schottland. Später hat er dann vom Preisgeld, das er für den Bericht über die erste bekommen hat, noch eine zweite Reise nach Island gemacht, um den Walfang dort zu untersuchen. Jetzt ist Karsten unterwegs von seiner Heimat nahe Heidelberg nach Verona. Zehn Tage, tausend Kilometer, 10.000 Höhenmeter, so steht es auf seinem Trikot. Mit dem Projekt will er Geld für zwanzig Zis-Stipendien sammeln. Verwaltungskosten eingerechnet kostet ein einzelnes Stipendium 900 Euro.
Lange hatte er Zis aus den Augen verloren, sagt Karsten. Im vergangenen Frühjahr war er dann mal wieder bei einem Maitreffen in der Internatsschule Salem, wo die “Stiftung für Studienreisen” ihr Büro hat. Kürzlich gereiste und künftige Stipendiaten kommen hier zusammen, tauschen sich aus, stöbern in den Berichten und Reisetagebüchern der anderen. Alumni sind auch stets eingeladen. „Da ist das irgendwie alles zurückgekommen“, sagt Karsten, „ich hatte vergessen, wie wichtig diese Reisen damals für mich waren, und rückblickend wurde mir klar, wie viel diese Reisen mit meinem ganzen Leben zu tun haben.“ Als kürzlich gereiste Stipendiaten ihre Abenteuer vorstellten, hat er sich darin wiedergefunden. Jede Reise ist anders, und doch sind sie sich im Kern oft ähnlich.
Karsten Drath ist damals 1700 Kilometer mit dem Fahrrad nach und durch Schottland gefahren. Auf der zweiten Reise, der nach Island, war er drei Tage lang seekrank und wollte einfach nur sterben, wie er sagt. Doch er kam lebendig an, wurde fast abgeschoben und konnte schließlich doch fünf Wochen lang jeden befragen, der etwas zum Thema “Walkampf” zu sagen hatte – unter anderem die damalige isländische Staatspräsidentin Vigdís Finbogadóttir. Vieles, was zunächst unmöglich erscheint, wird auf so einer Reise plötzlich greifbar. Karsten sagt: „Die Schwelle zu ‚krass‘ verschiebt sich.“
Wir fahren weiter auf Freiburg zu und reden über vergangene Abenteuer. Auf der Oberfläche ist, was auf solch einer Reise passiert, einfach zu verstehen: Man lernt, auf Leute zuzugehen, von Fremden Hilfe anzunehmen. Man wird offener, selbstbewusster, selbstbestimmter. Auf eine bestimmte Art hat jede Reise diesen Effekt, und die erste, die man als ‚Erwachsener‘ unternimmt sowieso. Zis allerdings fordert seine Stipendiaten mit den gesteckten Rahmenbedingungen auf besondere Weise heraus. Doch trotz der Widrigkeiten machen fast alle Teilnehmer die gleiche positive Erfahrung: Alleine zu reisen ist zwar härter als eine Interrail-Tour mit Freunden, bringt einen aber schneller in Kontakt mit anderen, zumal man durch das begrenzte Budget auf Hilfe einfach angewiesen ist. Man merkt, wie bereitwillig sie oft gegeben wird, und wird sensibilisiert dafür, auch anderen zu helfen, weit über diese eine Reise hinaus.
Man muss kein Held sein
Während meiner Reise vor acht Jahren dachte ich oft, jetzt geht es nicht weiter. Ich weiß nicht, auf wie vielen Bordsteinkanten in Frankreich ich mich hingesetzt habe, um einfach kurz zu heulen. Und dann bin ich doch wieder aufgestanden und hinter der nächsten Straßenecke hat etwas Gutes auf mich gewartet. Ein freundliches Wort, eine helfende Hand, Erlebnisse, die auf den Maitreffen dann „Glück“ genannt werden.
Auf der einen Seite machen es die Reisebedingungen den Stipendiaten besonders schwer, gleichzeitig geben sie ihnen aber etwas Anderes mit auf den Weg, das hilft nicht aufzugeben: ein Reisethema, eine Mission, einen Sinn. Das macht es einfacher durchzuhalten. Es fördert die Widerstandsfähigkeit.
Karsten Drath nennt das „Resilienz“. Wahrscheinlich hat das mit seinem Job zu tun. Er ist von Haus aus Ingenieur, schnell in die Management-Riegen diverser Firmen aufgestiegen, nebenher Marathon und Ironman, immer höher, schneller, weiter. „Das war die zweite Phase nach der ohne Selbstwertgefühl“, sagt er rückblickend, „ich habe gemerkt, dass ich für Leistung Anerkennung bekomme, also wollte ich immer mehr leisten.“ Irgendwann kommt der Crash: Hörsturz, Ehekrise, Entlassung – und Neuorientierung. Inzwischen arbeitet er als Coach und beschäftigt sich viel damit, wie Menschen in Führungspositionen „resilienter“ werden können. Widerstandsfähiger. Nicht zwingend härter, eben nicht immer nur höher, schneller, weiter. Stattdessen geht es um Achtsamkeit und Sinn. Über seine Radtour sagt er: „Ich mache das, weil mir das wichtig ist, nicht, weil ich irgendwie ein Held sein muss. Wenn ich einen Tag Pause machen muss, dann ist das halt so. Ob ich jetzt zehn oder elf oder zwölf Tage brauche, ist nicht wichtig.“
Als wir durch March fahren, den letzten Ort vor Freiburg, werden die Beine bei Karsten so richtig müde. „Das ist jetzt wie bei Kilometer 37 beim Marathon“, sagt er. Als wir ankommen, postet Karsten ein Live-Video auf Facebook – für seine Follower, für potentielle Spender. Dann warten Sauna und Essen, bevor es weitergeht, noch ein ganzes Stück weiter.
Eine Woche nach unserer gemeinsamen Etappe kommt Karsten in Verona an. Das Ende der Radtour erweist sich als Etappenziel seines Projekts, denn bei seiner Fundraising-Kampagne fehlt noch ein knappes Drittel, um die zwanzig Reisestipendien vollzumachen – eine angemessene Herausforderung für jemanden, der tausend Kilometer und 10.000 Höhenmeter überwunden hat.
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