Schluss mit dem Geschummel: Richtig studieren geht nur analog. Sollten die digitalen „Lernplattformen“ vieler Universitäten dank eines neuen Rahmenvertrages mit der VG Wort bald kaum noch genutzt werden, wäre das ein Segen.
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Mal wieder ist das Abendland in größter Gefahr, seine Werte, seine Errungenschaften. Doch geht es diesmal nicht um Billigfleisch oder Einhornschokolade; diesmal steht die wahre Holy Cow des Standorts Deutschland auf dem Spiel – der Universitätsbetrieb.
Diesen Eindruck zumindest gewinnt, wer die Untergangsprophezeiungen der Unis angesichts eines neuen Abrechnungsverfahrens, das dem Rahmenvertrag zwischen Kultusministerkonferenz und Verwertungsgesellschaft Wort folgt, liest. Demnach müssen Dozierende ab 2017, wenn sie ihren Studierenden über die Uni-internen digitalen Plattformen Texte zur Verfügung stellen wollen, jeden davon einzeln melden; anstelle einer pauschalen Vergütung tritt die aufwändige Prüfung jedes einzelnen Textes auf Rechte, Lizenzen und Honorare.
Der „Deutschlandfunk“ zitiert unter dem Stichwort „Ärger an Universitäten“ die Befürchtung der Prorektorin für Lehre an der Uni Bielefeld, Claudia Riemer, die da lautet: „eine deutliche Verschlechterung der Situation für die Lehrenden und für die Studierenden bedeutet, was die Zurverfügungstellung und damit natürlich auch Nutzung von digitalen Lehrmaterialien anbelangt.”
Die wahre Lektüre
Klar: Kein Mensch wird das neue, komplizierte Verfahren der VG Wort zur digitalen Bereitstellung von Texten nutzen; die dafür entwickelten Infrastrukturen werden überflüssig. Die Schlagzeile „Schluss mit digitalen Semesterunterlagen?“ ist also berechtigt, allein das Fragezeichen überflüssig. Aber was ist an diesem Umstand eigentlich so schlimm?

Die schöne neue PDF-Kultur macht die Studierenden faul, manche von ihnen glauben allen Ernstes, nervöses Wischen auf dem Tablet könne den ruhigen und konzentrierten Vorgang intensiver Papierlektüre schwieriger bis schwierigster Texte adäquat ersetzen. Dozierende, die da nicht mitmachen, gelten als rückschrittlich.
Freilich noch schlimmer sind gebundene Reader und (am besten noch von der freien Wirtschaft mit Werbung gesponserte) Skripte, die man fertig ausgedruckt wie H&M-Oberteile im Copyshop kaufen kann. Viele Dozierende haben denen die Aufgabe des Kopierens, Bündels und Verkaufens von Seminartexten übertragen und lassen sie damit Business machen. Und auch die „Lernplattformen“, von denen Studierende die hochgeladenen Texte zumindest noch selbst ausdrucken oder runterladen müssen, sind nur ihr Prototyp.
Gemein ist den vorgefertigten Textsammlungen, dass sie den kritischen Umgang mit Literatur erschweren. Ein solcher Umgang hat seinen Dreh- und Angelpunkt in den Universitätsbibliotheken, die früher mal Horte des Wissens und der Tiefenlektüre waren, und unterdessen zu Lern- und Büffelorten verkommen sind. Die adäquate Lektüre beginnt mit der Suche nach der Literatur – oder zumindest des (analogen) Semesterapparates. Diese Suche bringt die ersten Leseanregungen hervor. Der Prozess vor dem eigentlichen Lesen setzt sich fort in der interpretierenden Auslegung ihrer häufig verworrenen Nutzungs- und Ordnungsriten, dem Finden von etwas, das man gar nicht gesucht hat, dem Schauen nach links und rechts im Regal. Er endet, zumindest vorläufig, beim gesuchten Buch, das man nun aufgeregt durchblättert; man beginnt, die anderen Aufsätze zu lesen, wundert sich, wie der Einband denn überhaupt noch hält, und wuchtet es behutsam auf den Kopierer.
Wer sich hingegen den Strukturen der gegenwärtigen Wissenschaftslehre fügt, der braucht nur ein paar Klicks zu tun, und schon hält er ein fertig geschnürtes Bündel Texte in der Hand, keine Seite zu viel, keine zu wenig, und oh, alles so schön unvergilbt.
Die Kopien werden immer besser

Aber weil Texte nun mal keine Konsumgüter sind, folgen wir lieber dem Weg des Kopierers im Angesicht des Kopierers. Wer kopiert hier wen?
Zumindest nach den Vervielfältigungsmarathons, die die Mahner des Marktkonformen und Effizienten an die Wände malen, scheint diese Frage für das von Ruß und Staub und undefinierbaren Nanopartikeln benebelte Hirn des Kopierers nicht mehr so klar zu beantworten. Das klingt jetzt natürlich total ungesund – aber gab es je Kopierertote? Vielmehr deduziert das unterdessen wieder klare Hirn des routinierten Kopiermaschinenbedieners, dass die festeren der Bestandteile von Druckerluft, ähnlich wie eine Bauernhofkindheit mit Würmern und Scheiße den Körper fit gegen Autoimmunerkrankungen macht, den menschlichen Kopierer nicht umbringen, sondern härter machen, da können sich an den ehemals jungen und hoffnungsfrohen Peripherien der Uni-nahen Bezirke noch so viele „Krank durch Toner“-Gruppen gründen.
Bücherschleppen und Kopieren macht fit und gesund. Den stoischen Gleichmut, den die ja angeblich so aufmerksamkeitsarme junge Erwachsenenschaft sich dabei draufschafft – er bereitet bestmöglich vor auf das, was nach dem Studium kommt, die Langeweile des Lebens nämlich, in der es ja nicht mal mehr Kopierer gibt.

Ein weiterer Höhepunkt beim Kopieren besteht darin, seine Sonderfunktionen zu entdecken, wobei dieses Wort die Geräte keineswegs diskriminieren soll. Man lernt, diese Sonderfunktionen wertzuschätzen. Die Kopien werden immer besser. Der menschliche Kopierer, er schläft in Papier und träumt von Tinte. Die ohnehin langen Kopiersessions werden immer länger, hören zunehmend nie mehr auf, denn man will einfach immer mehr. Druckerschwärze, es geht nie vorüber. Endlich kommt der Tag, an dem man die benutzerdefinierten Formate entdeckt, und man fragt sich, wie man jemals vorher ohne sie leben konnte.
Man hält seine Abschlussarbeit in der Hand und bemängelt die Dicke. Es braucht ein paar Sekundenbruchteile, bis der Gedanke sich den Weg freischießt durchs Hirn, der Gedanke, der dann kommt: Ich gründe einen Copyshop.
Der Standort Deutschland ist gerettet.
Ja, also wirklich...
…als wir alle noch auswendig gelernt haben, was uns erzählt wurde, ging es uns viel besser!
*Au Mann*
Gute Satire
Gute Satire.
Satire?
Hm, heutzutage weiß man leider nicht immer, wann etwas ironisch gemeint ist und wann ernst. So geht es mir auch mit diesem Text, zumal ich die anderen Beiträge aus dieser Reihe nicht kenne und deshalb nicht weiß, wie der Autor sonst so schreibt. Aus diesem Grund nehme ich den Text einfach mal ernst:
Ich weiß nicht, wann der Autor das letzte Mal als Student an einer Uni war, aber es muss schon eine Weile her sein. Ich habe Mitte Oktober ein Studium begonnen und wäre ohne digitale Semesterapparate ziemlich aufgeschmissen. Die Zeit- und Papierersparnis will ich garantiert nicht vermissen:
“Die schöne neue PDF-Kultur macht die Studierenden faul, manche von ihnen glauben allen Ernstes, nervöses Wischen auf dem Tablet könne den ruhigen und konzentrierten Vorgang intensiver Papierlektüre schwieriger bis schwierigster Texte adäquat ersetzen.”
Das Medium, auf dem ein Text dargestellt wird, entscheidet nicht darüber, wie konzentriert der Text gelesen wird. Man kann auch Texte von Max Weber online lesen UND verstehen. Genau so, wie man Bücher nur grob überfliegen kann.
“Und auch die „Lernplattformen“, von denen Studierende die hochgeladenen Texte zumindest noch selbst ausdrucken oder runterladen müssen, sind nur ihr Prototyp.
Diese Lernplattformen sind auch für die Universitäten selbst ein großer Fortschritt, denn so kann man bspw. 200 Studenten gleichzeitig bestimmte Texte zur Verfügung stellen. Stellen Sie sich mal vor, die würden alle gleichzeitig das gleiche Buch ausleihen wollen! Dazu kommt, dass der Zugang zu den texten wesentlich leichter ist: Ich kann mir den text auch daheim runterladen und lesen (eventuell sogar ausgedruckt). Manche Studenten wohnen weit weg von der Uni (-> Wohnungsmangel), die haben es so leichter.
Und jetzt der Hauptkritikpunkt – den Schluss mit den Sonderfunktionen lass ich jetzt mal weg:
“Gemein ist den vorgefertigten Textsammlungen, dass sie den kritischen Umgang mit Literatur erschweren. […] dem Schauen nach links und rechts im Regal.”
Die angesprochene “Tiefenlektüre” und das “nach Links und Rechts schauen” ist heute zeitlich nur noch schwer möglich. Wenn man jede Woche mindestens fünf Vorlesungen hat und für jede davon 30 bis 80 Seiten lesen muss (jede Woche), dann ist man als Student froh, wen man das überhaupt von der Zeit her schafft. Zusätzlich noch weitere Beiträge / Artikel / Essays / etc. zu einem Thema zu lesen ist dann zwar je nach Thema immer noch interessant – allein, es fehlen die Zeit und die Nerven, z.B. nach gefühlten 50 Seiten Max Weber.
Wenn man das alles bedenkt, bin ich schon sehr froh, dass ich zumindest schnell und einfach an die Texte komme, die ich wirklich lesen _muss_.
Viele Grüße,
Firefly05
P.S.: Ich habe gerade gesehen, dass der Autor auch Student ist. Dann wird’s wohl Satire sein.^^ Naja, dann ist mein Kommentar eben die ernsthafte Variante davon. :-P
Lehrmittelfreiheit ist demokratisch und gerecht!
“Die Langeweile des Lebens”??? Armer Autor…
Streitbar Aussage
Die Meinung des Autors teile ich nicht, als Student eines technischen Faches sind die digitalen Skripte etc. ein Segen, evtl. sieht das aber für geisteswissenschaftliche Studiengänge anders aus.
Das Grauen
sind nicht die Kopierer (weder die menschlichen noch die maschinellen), sondern die “Kultusministerkonferenz” und die “Verwertungsgesellschaft WORT”. Wenn sich diese beiden Ungetüme miteinander verbünden, wird es Jahre dauern bis die wieder entflochten sind (s. GEMA und Youtube). Ein Blick in die gewiss nicht copyright-feindlichen USA hätte genügt, um hier pragmatische Modelle zu übernehmen. Der Autor hat den angehenden Geisteswissenschaftler im Blick. Die Reader sind jedoch gerade in den Naturwissenschaften wie der Medizin unabdingbar. Dass jetzt jede einzelne kopierte Buchseite darin auf ihr “Copyright” überprüft werden soll, kann man nur als echten deutschen Kontrollwahnsinn bezeichnen, hinter dem ein Millionenheer schlecht ausgebildeter und noch schlechter bezahlter Juristen steht. Die totale Überbürokratisierung aller, auch der einfachsten Lebensbereiche, ist längst zu einer Alltäglichkeit geworden, aus der, und da muss ich dem Autor recht geben, vielleicht wirklich nur noch das altväterliche analoge Sammeln, Lesen und Nachdenken heruasführt.
Mani Spitzer weiss...
Richtig konzentriert geht nur mit Keilschrift. Was sagt die VG Wort eigentlich zu Tontaefelchen?
Sie prügeln die Falschen
Polemik gegen die VG Wort ist fehl am Platz. Sie vertritt die Autoren, sie will also, dass gelesen wird (je mehr, desto besser) – und dass die Unis dafür eine Vergütung bezahlen, wie es im Gesetz steht. Wer die schwierige Situation verstehen will, die entstanden ist, muss sich schon etwas gründlicher mit der Materie auseinandersetzen. Es geht um einen fairen Interessenausgleich zwischen Urhebern, Dozenten, Studenten, Verlagen und Bibliotheken/Unis. Um die Probleme zu lösen, werden sich die Beteiligten zusammenraufen müssen. Das kann dauern, aber es ist machbar.
Am besten ...
… wir verbieten auch Computer an den Unis. Denn nur das handschriftliche Schreiben fördert innovatives und geistreiches Denken. Weit weg von so einer Implikation liest sich der Tenor dieses Artikels nicht.
His Worship Colonel KCMG (Kindly Call Me God)
Gibt da nur ein Problem. Wenn alles nur auf Papier zu haben ist, muss ich alles mühsam in einem zweiten Schritt digitalisieren um von der flachen Papierlektüre zur weit intensiveren Detailanalyse auf dem Tablet, mit Annotationsfunktion und digitalem Zettelkasten zu kommen. Bei der Lektüre habe ich auch gelernt, das trotz Papiernostalgie und Druckerschwärzefetischismus (ich habe im Studierzimmer auch noch so einen schönen alten Aktenschrank) die Lektüre auf Bildschirm doch den intensiveren Lernerfolg bringt.
Wer wird denn dann noch Texte lesen?
Wer wie ich eine Geisteswissenschaft studiert, weiß, wie wichtig die Lernplattformen sind. Falls das die großen Bildungsverfechter noch nicht mitbekommen haben sollten: Auch wir, die wir am ehesten noch längere Texte lesen, wenn auch das leider immer seltener verpflichtend, wurden dem Bologna-System unterworfen und sind damit auch Sklaven der Zeit. Vorbei sind die Zeiten, in denen Studenten als Herren ihrer Zeit sich die Zeit nehmen konnten, sich in den langen Schlangen vor den Kopierern (die es beide noch wirklich gibt: die Kopierer und ihre Schlangen davor) die Zeit zu vertreiben, die ihre Nachfolger nun in einengenden Modullehrplänen verbringen. Wenn die Texte nicht mehr zur Verfügung gestellt würden, läse die Texte zur Vorbereitung auf das Seminar kein Schwein mehr, geschweige denn ein Student, der möglicherweise auf seine Work-Life-Balance beharrt und nur bereit ist, für Craft Beer und Bio-Tees Geld auszugeben, aber niemals für Bücher.
Pragmatischer: Wenn die Universitätsbibliothek selbst wichtige Bücher nur noch ein Mal besitzt und das einzige Exemplar entliehen ist, der Text vom Dozenten aber für die nächste Sitzung des Seminars vorausgesetzt wird – was sollen die Studenten dann tun? Ich bin ehrlich: Wäre ich der erste, ich entliehe das Buch und ließe die anderen blank zurück. Nicht zuletzt: Einmaliges Scannen und anschließendes Ruhen schont die wertvollen Bestände. Und außerdem: Inzwischen erscheinen so viele Fachbücher, dass selbst große Bibliotheken nicht mehr alles haben. Nicht selten scannen Dozenten Bestände aus ihren Privatbibliotheken, die uns sonst nicht offenstünden.
Wer sich im lateinischen Ursprungswortsinn um sein Fach bemüht, also studiert, blättert freiwillig in Büchern und kopiert sich an den Aufsätzen die Finger wund. (In Mode ist – jedenfalls im grünen Tübingen – übrigens ohnehin das umwelfreundliche Scannen, allem Charme des Papiers zum Trotz.) Die Lust darauf, die Muse dafür vergeht aber, sobald man gezwungen ist, sich auch die Pflichtlektüre auf diese Weise zu besorgen. Dann steht zu befürchten, dass auch die letzten Buch- und Kopiergläubigen eine gewisse Allergie, eine Antipathie dem Kopiergerät gegenüber empfinden werden.