Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Lob des Kopierers

| 28 Lesermeinungen

Schluss mit dem Geschummel: Richtig studieren geht nur analog. Sollten die digitalen „Lernplattformen“ vieler Universitäten dank eines neuen Rahmenvertrages mit der VG Wort bald kaum noch genutzt werden, wäre das ein Segen.

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ARCHIV - Der Physiker und Patentanwalt Chester Carlson sitzt an seinem "Kopierer" (undatierte Archivaufnahme). Vor genau 75 Jahren, am 22. Oktober 1938, präsentierte Carlson ein Verfahren, mit dem sich weltweit erstmals Schriftzeichen auf elektrostatischem Weg kopieren ließen. Die Technologie, die er "Elektrophotografie" nannte und die später als "Xerografie" bekannt wurde, bildet heute die Basis jedes Digitaldruckers, Kopierers oder Faxgerätes. Foto: Xerox Deutschland GmbH dpa (zu dpa-KORR "Der Kopierer wird 75" - ACHTUNG: Verwendung nur für redaktionelle Zwecke im Zusammenhang mit der Berichterstattung zum Thema "Kopierer" vom 19.10.2013) | Verwendung weltweit© dpaDass so die Führungsetage der VG Wort aussieht, können nur Ahnungslose behaupten – dies ist der Erfinder des Kopierers, Chester Carlson.

Mal wieder ist das Abendland in größter Gefahr, seine Werte, seine Errungenschaften. Doch geht es diesmal nicht um Billigfleisch oder Einhornschokolade; diesmal steht die wahre Holy Cow des Standorts Deutschland auf dem Spiel – der Universitätsbetrieb.

Diesen Eindruck zumindest gewinnt, wer die Untergangsprophezeiungen der Unis angesichts eines neuen Abrechnungsverfahrens, das dem Rahmenvertrag zwischen Kultusministerkonferenz und Verwertungsgesellschaft Wort folgt, liest. Demnach müssen Dozierende ab 2017, wenn sie ihren Studierenden über die Uni-internen digitalen Plattformen Texte zur Verfügung stellen wollen, jeden davon einzeln melden; anstelle einer pauschalen Vergütung tritt die aufwändige Prüfung jedes einzelnen Textes auf Rechte, Lizenzen und Honorare.

Der „Deutschlandfunk“ zitiert unter dem Stichwort „Ärger an Universitäten“ die Befürchtung der Prorektorin für Lehre an der Uni Bielefeld, Claudia Riemer, die da lautet: „eine deutliche Verschlechterung der Situation für die Lehrenden und für die Studierenden bedeutet, was die Zurverfügungstellung und damit natürlich auch Nutzung von digitalen Lehrmaterialien anbelangt.”

Die wahre Lektüre

Klar: Kein Mensch wird das neue, komplizierte Verfahren der VG Wort zur digitalen Bereitstellung von Texten nutzen; die dafür entwickelten Infrastrukturen werden überflüssig. Die Schlagzeile „Schluss mit digitalen Semesterunterlagen?“ ist also berechtigt, allein das Fragezeichen überflüssig. Aber was ist an diesem Umstand eigentlich so schlimm?

Ein Kopierer steht am 21.04.2016 an der Universität in Tübingen (Baden-Württemberg) in einem Seminarraum. Foto: Philip Schwarz/dpa | Verwendung weltweit© dpaStudenten haben die Sprache von Kopierern heute fast verlernt, aber so drücken sie ihre Bereitschaft aus.

Die schöne neue PDF-Kultur macht die Studierenden faul, manche von ihnen glauben allen Ernstes, nervöses Wischen auf dem Tablet könne den ruhigen und konzentrierten Vorgang intensiver Papierlektüre schwieriger bis schwierigster Texte adäquat ersetzen. Dozierende, die da nicht mitmachen, gelten als rückschrittlich.

Freilich noch schlimmer sind gebundene Reader und (am besten noch von der freien Wirtschaft mit Werbung gesponserte) Skripte, die man fertig ausgedruckt wie H&M-Oberteile im Copyshop kaufen kann. Viele Dozierende haben denen die Aufgabe des Kopierens, Bündels und Verkaufens von Seminartexten übertragen und lassen sie damit Business machen. Und auch die „Lernplattformen“, von denen Studierende die hochgeladenen Texte zumindest noch selbst ausdrucken oder runterladen müssen, sind nur ihr Prototyp.

Gemein ist den vorgefertigten Textsammlungen, dass sie den kritischen Umgang mit Literatur erschweren. Ein solcher Umgang hat seinen Dreh- und Angelpunkt in den Universitätsbibliotheken, die früher mal Horte des Wissens und der Tiefenlektüre waren, und unterdessen zu Lern- und Büffelorten verkommen sind.  Die adäquate Lektüre beginnt mit der Suche nach der Literatur – oder zumindest des (analogen) Semesterapparates. Diese Suche bringt die ersten Leseanregungen hervor. Der Prozess vor dem eigentlichen Lesen setzt sich fort in der interpretierenden Auslegung ihrer häufig verworrenen Nutzungs- und Ordnungsriten, dem Finden von etwas, das man gar nicht gesucht hat, dem Schauen nach links und rechts im Regal. Er endet, zumindest vorläufig, beim gesuchten Buch, das man nun aufgeregt durchblättert; man beginnt, die anderen Aufsätze zu lesen, wundert sich, wie der Einband denn überhaupt noch hält, und wuchtet es behutsam auf den Kopierer.

Wer sich hingegen den Strukturen der gegenwärtigen Wissenschaftslehre fügt, der braucht nur ein paar Klicks zu tun, und schon hält er ein fertig geschnürtes Bündel Texte in der Hand, keine Seite zu viel, keine zu wenig, und oh, alles so schön unvergilbt.

Die Kopien werden immer besser

Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer., Royalty free: Bei werblicher Verwendung Preis auf Anfrage.© dpaWer kopiert hier wen?

Aber weil Texte nun mal keine Konsumgüter sind, folgen wir lieber dem Weg des Kopierers im Angesicht des Kopierers. Wer kopiert hier wen?

Zumindest nach den Vervielfältigungsmarathons, die die Mahner des Marktkonformen und Effizienten an die Wände malen, scheint diese Frage für das von Ruß und Staub und undefinierbaren Nanopartikeln benebelte Hirn des Kopierers nicht mehr so klar zu beantworten. Das klingt jetzt natürlich total ungesund – aber gab es je Kopierertote? Vielmehr deduziert das unterdessen wieder klare Hirn des routinierten Kopiermaschinenbedieners, dass die festeren der Bestandteile von Druckerluft, ähnlich wie eine Bauernhofkindheit mit Würmern und Scheiße den Körper fit gegen Autoimmunerkrankungen macht, den menschlichen Kopierer nicht umbringen, sondern härter machen, da können sich an den ehemals jungen und hoffnungsfrohen Peripherien der Uni-nahen Bezirke noch so viele „Krank durch Toner“-Gruppen gründen.

Bücherschleppen und Kopieren macht fit und gesund. Den stoischen Gleichmut, den die ja angeblich so aufmerksamkeitsarme junge Erwachsenenschaft sich dabei draufschafft – er bereitet bestmöglich vor auf das, was nach dem Studium kommt, die Langeweile des Lebens nämlich, in der es ja nicht mal mehr Kopierer gibt.

ILLUSTRATION - Ein Mann kopiert am 21.04.2016 in Berlin eine Seite aus einem Buch. Die Verwertungsgesellschaft (VG) Wort darf nach einem BGH-Urteil keine Einnahmen aus Urheberrechten mehr an die Verlage ausschütten. Die VG Wort macht seit 1958 zentral Vergütungsansprüche aus Urheberrechten geltend und bittet zum Beispiel Copyshops und Bibliotheken zur Kasse. Foto: Wolfram Kastl/dpa (zu dpa «VG-Wort-Urteil: Börsenverein fordert Politik zum Handeln auf» vom 21.04.2016) | Verwendung weltweitZum Kopieren braucht man Mut, ästhetisches Empfinden – und vor allem starke Oberarme.

Ein weiterer Höhepunkt beim Kopieren besteht darin, seine Sonderfunktionen zu entdecken, wobei dieses Wort die Geräte keineswegs diskriminieren soll. Man lernt, diese Sonderfunktionen wertzuschätzen. Die Kopien werden immer besser. Der menschliche Kopierer, er schläft in Papier und träumt von Tinte. Die ohnehin langen Kopiersessions werden immer länger, hören zunehmend nie mehr auf, denn man will einfach immer mehr. Druckerschwärze, es geht nie vorüber. Endlich kommt der Tag, an dem man die benutzerdefinierten Formate entdeckt, und man fragt sich, wie man jemals vorher ohne sie leben konnte.

Man hält seine Abschlussarbeit in der Hand und bemängelt die Dicke. Es braucht ein paar Sekundenbruchteile, bis der Gedanke sich den Weg freischießt durchs Hirn, der Gedanke, der dann kommt: Ich gründe einen Copyshop.

Der Standort Deutschland ist gerettet.


28 Lesermeinungen

  1. Dietger Lather sagt:

    Zeit und Geld - wer zahlt
    Analog zu studieren hat sicherlich seine Reize…gehabt. Und wer Zeit hat, für den ist es sicherlich auch heute noch reizvoll. Digitales spart Zeit und eröffnet viel mehr Möglichkeiten als Analoges studieren, das quasi zur Ergänzung des Digitalen mutiert ist.
    Mich wundert, dass niemand über die finanziellen Konsequenzen nachdenkt. Wer also bezahlt die berechtigten Forderungen der Autoren nach angemessener urheberrechllicher Vergütung? Es werden die Studenten sein. Die Lehrenden werden zukünftig auch daran gemessen werden, wieviel Geld sie für digital bereitgestellte Texte ausgeben. Ausgabenlisten werden aufgestellt werden. Fragen werden gestellt, ob denn dieser Text es wirklich Wert ist, digital bereit gestellt zu werden. Und man will es sich ja auch nicht mit der Institutsleitung verderben, deren Budget nicht besonders komfortable ausgestattet ist. Zähneknirschend geht also DozentIn oder SektretärIn zum Kopierer und stellt EINMAL eine Kopie bereit. Das ist für das Institut deutlich billiger!!!! Und dann kopieren alle Seminarteilnehmer auf IHRE Kosten. Das könnte zwei Auswirkungen haben: Erstens werden der VG Wort viel weniger Finanzen überwiesen als zuvor mit der Pauschale. Damit wird die Idee, Autoren sachgerecht zu vergüten, an der sprichwörtlichen finanziellen Notlage der Universitäten scheitern. Zweitens werden die Studenten irgendwann erkennen und, wenn noch ein Funke revolutionären Geistes glimmt, dagegen revoltieren, dass durch die Hintertür wieder Studiengebühren eingeführt worden sind. Herzlichen Glückwunsch zum Rahmenvertrag.

  2. Marion Näser-Lather sagt:

    Das Lob der "guten alten Zeit"
    In der heutigen Zeit, wo viele Studierende durch Bologna und Nebenjobs doppelbelastet sind, werden sie garantiert auch noch Muße für mäandernde Entdeckungsreisen in der Bibliothek haben. Nein – häufig läuft es so chaotisch und unproduktiv ab, wie schon in anderen Leser*innenkommentaren beschrieben: fehlende Seiten, fehlende Seminarapparate, weil ein anderer Kommilitone schneller war, oder gar – alles schon erlebt! – nur der Text für die nächste Sitzung fehlt dauerhaft, weil jemand so unsozial und faul war, ihn nicht zu kopieren, sondern einfach aus dem Ordner zu entwenden. Eine ungeheure Zeitverschwendung. Leuten, die lieber digital arbeiten, ein geringeres Textverständnis zu unterstellen, ist zudem dreist. Für einige ist es nun einmal angenehmer, Texte am Bildschirm zu lesen und Kommentare im PDF an den Rand zu schreiben – man kann sie anschließend wenigstens noch lesen, und ist nicht durch den physisch am Rand zur Verfügung stehenden Platz eingeschränkt. Alles in Allem ein gewaltiger Rückschritt, von den Folgen für die Umwelt gar nicht zu reden.

  3. Marcel C. sagt:

    Unverständnis Nr. 2
    Wie der andere Kommentator suche ich vergeblich die erkennbare Ironie hinter Argumenten wie dem in Bezug auf die H&M-Oberteile. Ich habe sehr erfolgreich Mathematik studiert und kann Ihnen versichern, meine ausreichende Dosis an “schwierigsten” Texten gehabt zu haben. Ich war froh, meine Zeit dem eigentlichen Studium der Mathematik widmen zu können statt mir jede Information mit einem 1-2-stündigen Ausflug in die Bibliothek erkämpfen zu müssen. Abgesehen davon, dass ich von der Existenz der meisten Quellen bzw. der meisten Inhalte in diesen Quellen niemals erfahren hätte, ohne jemals eine Volltextsuche benutzen zu können.

  4. Student XYZ sagt:

    Eine zweifelhafte Idee, die die Studenten über den Rand des Machbaren hinaustreibt
    Ich sitze seit 7:00 in der Bib. Schreibe an meiner Masterarbeit.
    Noch ist es mitten im Semester, aber spätestens nach Weihnachten wird ein pünktliches erscheinen um 7:00 kaum mehr ausreichen um noch einen Platz zu bekommen. Warum?

    Die Studierenden (zumindest meine Kommilitonen) benötigen sowieso schon den kompletten Tag (häufig 50h+ /Woche, oft zus. Wochenende) um das Lernpensum noch ansatzweise zu bewältigen.
    Bei der Menge an Wissen die während des Prüfungszeitraums abgefragt wird, würde eine, ich nenne es mal “analoge” und ineffiziente Literaturrecherche den zeitlichen Rahmen absolut sprengen.

    Klar wäre es wünschenswert, dass sich die Studierenden tiefgründig und eingehend mit der Materie beschäftigen und sich echtes Wissen, statt einfacher Informationen anhäufen. Die oben beschriebene Methodik wäre dem auch sicherlich zuträglich. Aber damit das geschehen kann müssen Rahmenbedingungen existieren, die dies auch zulassen. Und das ist faktisch nicht der Fall.

  5. Erstsemester sagt:

    Kopieren
    geht über studieren.

  6. Sebastian sagt:

    Unverständnis
    Möglicherweise verstehe ich die tiefe Ironie nicht, die hinter diesem Text steht, aber was ist das denn für ein Unsinn?
    Nicht sicher wann und ob der Autor dieses Textes studiert hat, aber als Student im 3. Semester kann ich nur sagen, diese Regelung ist großer Schwachsinn.

    Ich selber mag ausgedruckte Skripte zum lernen viel mehr als digital. Aber das darf ja wohl jeder selber entscheiden.
    Die Online-Plattformen der Uni sind ein Segen, um für jeden bequem und flexibel Texte, Skripte, Bilder, Listen und Information bereit zu stellen. Bibliotheken sind nach wie vor vorhanden, wer möchte kann sich dort jederzeit bedienen.

    Aber diese unnötige Bürokratisierung und Regulierung, gigantischer Rückschritt.

  7. Maike sagt:

    Gema-like
    Was bei Musik gilt, muss doch bei Wort nicht falsch sein?! Die #Gema kassiert selbst bei privaten Anlässen und Vereinsfesten ab und Urheber des Wortes sollen leer ausgehen? Da müssen Regelungen gefunden werden.

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