Beim studentischen Theaterfestival in Dresden kommen Gruppen aus ganz Deutschland zusammen, um sich gegenseitig zuzuschauen. Wir haben uns hinter der Bühne umgehört: Warum macht ihr Theater?
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Hier und da stehen Grüppchen und prosten sich mit Sekt zu, die Gläser sind ein bunt zusammen gewürfeltes Sammelsurium. Vorne werden noch ein paar Zweige mit Allzweckklebeband am Rednerpult befestigt, und das Geräusch, das das Gaffa-Tape beim Abreißen macht, sagt: Hier ist Theater. Ein paar Scheinwerfer mit farbigen Filtern und goldene, knisternde Tischdecken verwandeln den schnöden Hörsaal irgendwie in eine Art Theaterfoyer. „Schön, dass du da bist“, steht auf einem Banner hinter dem Rednerpult im Hörsaal der TU Dresden, in den gerade nach und nach die Teilnehmer des studentischen Theaterfestivals „quergespielt“ eintrudeln. Soweit die Organisatoren sagen können, ist es das erste dieser Art in Deutschland.
Aus allen Himmelrichtungen haben die „bühnis“, wie sich die Mitglieder des Dresdner Studierendentheaters „die bühne“ nennen, Gleichgesinnte eingeladen, um fünf Tage lang darüber zu reden, was Studententheater ausmacht, warum es neben professionellem Theater eine Daseinsberechtigung hat, welche besonderen Möglichkeiten es bietet. Das Festival soll nicht nur ein Schaulaufen sein, sondern zu einem echten Dialog anregen.

„Unser Ziel ist es nicht, die ‚besten‘ Stücke zu zeigen“, sagt Viktoria Schrader, die das Event über ein Jahr hinweg federführend organisiert und vorbereitet hat, „sondern vielmehr eine Begegnung auf kooperativer Basis, auf der man voneinander lernen kann und sich mal Zeit nehmen kann, zu fragen, was eigentlich hinter dem Theater steckt.“
Deshalb ist ein Workshop-Programm das Herz des Festivals. „Wir fordern ziemlich viel von den Teilnehmern“, gesteht Viktoria ein, „und hoffen, dass sie mitziehen.“ Vormittags nähern sich die Teilnehmer in Diskussionen und mit performativen Elementen den zentralen Fragen, die das Festival in den Raum wirft: Warum brauche ich Studententheater? Warum braucht das Studententheater mich? Warum braucht die Gesellschaft Studententheater? Welche Strukturen stecken hinter dem Studententheater? Nachmittags geht es weiter in praktischen Workshops zu Stimme und Rollenfindung, zu Maske und Bühnenbild.

Dazwischen gibt es Essen und informellen Austausch, Kaffee und Kekse im Festivalzentrum, Stadtführung, Kneipentour, Quidditch im Park. Die Crew um Viktoria ist gut organisiert und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, wenn nicht alles ganz nach Plan läuft. Verena kocht für fünfzig Leute Spätzle. Johnny besorgt noch Bustickets für den nächsten Tag. Pia lost aus, wer an welchem Workshop teilnimmt. Hier wird noch dekoriert, dort schon die erste Fuhre dreckigen Geschirrs gespült. Und wenn etwas fehlt – Besteck, Bier, Klopapier – düst Tobias im Festival-Sprinter los.
Während die Teilnehmer in Workshops sitzen oder abends in den Aufführungen, ist immer irgendwo mindestens ein halbes Dutzend „bühnis“ dabei, den nächsten Programmpunkt vorzubereiten oder die Spuren des vorherigen zu beseitigen. Auch das ist eine Antwort auf die Frage „Warum braucht das Studententheater mich?“: Weil irgendjemand auch den Müll rausbringen muss.

Die Produktionen am Abend sind so vielfältig wie ein bunter Strauß Blumen und zeigen auf beeindruckende Weise, was Studententheater alles sein kann, und welche ganz unterschiedlichen Faktoren es relevant und wichtig machen. Da sind die drei Mädels aus Halle, die mit Jean Genets „Die Zofen“ ein Stück voll sich wiederholender Dialoge und Absurditäten im Setting eines Altenpflegeheims emotional greifbar machen.

Da ist die Regensburger Gruppe mut, die Bulgakows „Der Meister und Margarita“ als Tanztheater auf die Bühne bringt und sich nicht davon beirren lässt, dass in Abwesenheit einiger Ensemble-Mitglieder andere einspringen müssen. Irgendwie geht es.
Da ist die Woyzeck-Inszenierung der Chemnitzer Gruppe, bei der Studenten und Geflüchtete zusammen auf der Bühne stehen – nicht, weil ein Integrationsprojekt sie zusammengeworfen hat, sondern weil sie Freunde sind und zusammen Theater machen wollten.

Ahmed, der Andres spielt, sagt: „Ich darf hier nicht studieren. Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben darf – Asylantrag und so. Aber ich kann Theater machen. Egal, was sonst ist im Leben … das macht Spaß.“ Studententheater öffnet Möglichkeiten, wo sonst keine sind – und das beinhaltet auch die Möglichkeit, dass Woyzeck an seinem Text scheitert.

Eine Gruppe hat kurzfristig abgesagt – da wundert es nicht, dass Orga-Chefin Viktoria sagt: „Das Festival ist schön, aber es ist auch ein echter Kraftakt.“ Aber Lösungen gibt es immer, und so zeigt die bühne statt wie geplant der einen eben zwei ihrer eigenen Produktionen. „Der Amateur“ setzt sich explizit mit den zentralen Themen des Festivals auseinander, in der Figur von Robert Richter, der nach vielen Jahren an der bühne mit dem Ende des Studiums vor der Frage steht: Was kommt nach dem Studententheater? Was passiert, wenn dieser Teil der Identität wegbricht, wenn der Bühnen-Robert an den Nagel gehängt wird? Um das Ende hinauszuzögern, bittet er am Ende die Zuschauer nicht zu klatschen – denn dann sei es ja noch nicht ganz zu Ende. Das Festival-Publikum ist das erste, das dieser Bitte nachkommt.

Das zweite hauseigene Stück, Jonas Hassen Khemiris „Invasion“, zeigt, wie Theater gleichsam extrem unterhaltsam und dabei sehr politisch sein kann, ohne dem Publikum eine Moralpredigt zu halten. Die vier Schauspieler – von denen jeder etwas Ureigenes, Frisches mitbringt – verkörpern fast schon klischeehaft zugespitzte Milieus, von Ghettokids über Studenten bis hin zu Geheimagenten, die alle dem Phänomen „Abulkasem“ nachgehen. Einst eine reale Person wird Abulkasem mehr und mehr zur Projektionsfläche für wirklich alles und jeden – und damit irgendwie wie eine leere Bühne, auf der nichts unvorstellbar ist.

Die Hälfte des Ensembles, Mirko Näger-Guckeisen und Lisette Holdack, ist bei quergespielt auch gemeinsam für das Workshop-Programm zuständig – wobei die beiden an ganz unterschiedlichen Punkten ihrer Karriere bei der bühne stehen. Mirko kam vor einem Jahr zum Studententheater. Bei seiner ersten Produktion wollte er „vor allem einfach bestehen neben den anderen“. Dann hat er schnell Lunte gerochen und neben dem Engagement als Schauspieler in „Invasion“ und „Nacht.Rauschen“ auch eine eigene kleinere Produktion hochgezogen. Im Kollektiv mit fünf anderen hat er amerikanische Beat-Literatur im Stück „Off-Beat“ verarbeitet. „Das waren zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen“, sagt er, „als Schauspieler gehe ich viel mehr in den Tunnel, lasse mich in einen Teil des Stücks reinfallen. Als Regisseur darf ich meinen Fokus nicht so einengen, muss das große Ganze sehen.“ Als Schauspieler, als Regisseur, als Teil des quergespielt-Orga-Teams: Das Theater ist für Mirko mehr geworden als „nur“ ein Hobby.
Für Lisette hingegen ist das mit dem Hobby bald vorbei. Ihre Bachelor-Arbeit in Maschinenbau steht noch aus, dann wird sie ihre Zelte in Dresden abbrechen und nach Berlin gehen, um dort an der Hochschule Ernst Busch Schauspiel zu studieren. „Es war schon lange klar, dass ich das machen will“, sagt sie, „seit ich Kind war, aber ich habe mich nie getraut, mich zu bewerben. Ich hatte einfach sehr große Angst vor einer Absage. Das Schauspiel bedeutet mir so viel, und es fühlt sich so gut an, und es wäre so hart gewesen, dann gesagt zu bekommen, mach besser was Anderes.“

Die Semester an der bühne waren eine wichtige Zeit für Lisette: „Ich habe hier einen sehr guten Ort gefunden, und es wäre nicht schlimm gewesen hier zu bleiben.“ Für Lisette war das Studententheater ein Sprungbrett, das ihr geholfen hat, den nächsten Schritt zu wagen – und zu schaffen, wovon viele träumen. Das quergespielt-Festival mit der Derniere von „Invasion“ ist wohl Lisettes Abschied vom Studententheater, auch wenn sie es noch „nicht so richtig begriffen“ hat. Im Gegensatz zu Robert Richter in „Der Amateur“ geht es für sie zwar weiter mit dem Schauspiel, aber eben nicht mehr im geschützten Raum des Studententheaters. Wenn das Hobby zum Beruf wird, braucht man dann ein neues Hobby, ein neues Stück ‘private’ Identität?

Wo bei dem einen etwas zu Ende geht, fängt es bei anderen gerade erst an. Wo „Invasion“ ein letztes Mal gespielt wird, feiert einen Abend später ein anderes Stück Premiere, „Die neuen Leiden der Jungen“, die freie “Werther”-Adaption einer Hamburger Sprechtheater-Gruppe. Direkt danach, beim Nachgespräch mit dem Publikum, ist Felix, einer der Darsteller, noch ganz berauscht: „Oh, es war so schön!“ Die Gruppe gibt es noch nicht lange, sie füllt ein regelrechtes Vakuum als erste deutsche Theatergruppe an der Hanse-Uni. Weil es nichts gab, beschlossen sie es einfach selber zu machen, so schwer, dachten sie, könne es ja nicht sein mit dem Theater. Doch manches ist schwer, die Gruppe muss in Seminarräumen proben, und das innerhalb der Fakultäts-Öffnungszeiten, später oder am Wochenende kostet es 30 Euro pro Stunde. Aber auf der anderen Seite bietet die fehlende Infrastruktur auch Raum für Experimente. In Hamburg gibt es eben, anders als etwa in Dresdena, keinen Verein, der Workshops organisiert oder für große Produktionen professionelle Regie von außen holt.

Und so sind Nele Zydziak und Franziska Vagts, die die Gruppe eigentlich aufgezogen haben, um auf der Bühne zu stehen, unverhofft in die Rolle von REgisseurinnen hineingerutscht. „Früher habe ich nur gespielt“, sagt Franziska, „aber jetzt habe ich das Bedürfnis gar nicht mehr. Ich finde es noch schöner, Bilder aus meinem Kopf auf die Bühne zu bringen.“ Beide studieren Erziehungswissenschaften und wollen Theater und die Arbeit mit Jugendlichen verbinden. Auch mit der “Werther”-Adaption wollen sie auf Schulen zugehen. „Ich finde einfach die Sprache so schön“, sagt Nele, „und ich glaube, dass wir sie mit Theater an Jugendliche herantragen können.“

Im Dresden haben die Hamburger viel über Strukturen und Möglichkeiten von anderswo gelernt. Umgekehrt denkt Mirko jetzt darüber nach, wie sie an der bühne bessere Möglichkeiten für Produktionen schaffen können, bei denen Stundeten selbst auch Regie führen. Matthias Spaniel nickt zu Mirkos Ausführungen über Eigenproduktionen. Irgendwo im Hinterkopf hat er sie bestimmt gespeichert, neben all den anderen Ideen darüber, wie er die bühne weiterbringen kann. Seit drei Jahren ist er hauptberuflich künstlerischer Leiter des Dresdner Studententheaters, verhandelt mit dem Kanzler, denkt darüber nach, wie man Theater und andere Bereiche der Uni besser vernetzen kann. „Ich bin immer auf der Suche nach Synergien“, sagt Matthias, auch wenn es oft ein Kampf gegen Windmühlen ist, den Bedürfnissen aller nachzukommen.

Manchmal macht der Kampf ihn müde, sagt er, aber dann gibt es immer wieder Momente, die das Studententheater ausmacht, für die sich alles andere lohnt. Wenn zum Beispiel nach Mitternacht ein Ensemble in der Teeküche noch Text streicht, während Techniker das Licht einrichten, während nebenan noch eine zweite Gruppe probt. Oder wenn bei quergespielt am letzten Abend Verena, die Köchin, und Tobias, der Fahrer, zwei Lieder aufführen, die sie in der Küche enstudiert haben und alle zuhören. Solche unbedarften, echten Momente, sagt Matthias, die finde man anderswo eben nicht.

Am Sonntagmorgen präsentieren die Workshop-Gruppen ihre Ergebnisse. Endgültige Antworten auf die großen Fragen zu geben fällt zwar schwer, aber der eine oder andere Gedanke verfestigt sich: Studententheater ist authentisch und freier als die „großen“ Häuser. Es bietet Raum für Experimente. Es gedeiht unter ganz unterschiedlichen und manchmal gar widrigen Bedingungen. Es kann “einfach nur” ein Hobby sein, oder ein bisschen mehr als das – der Weg zur Professionalität. Es kann politisch sein oder ganz persönlich. Es ist so vielfältig wie die Leute, die es machen. Und es bringt diese Leute in all ihrer Verschiedenheit zusammen. Zum ersten Mal sitzen die Teilnehmer nicht nach Gruppen sortiert an den Tischen, sondern bunt gemischt überall im ganzen Saal. Die Gesichter, die am Mittwoch noch fremd waren und hinter denen man nur vage eine geteilte Leidenschaft vermuten konnte, haben jetzt einen Namen, eine Geschichte. Franziska und Nele, erfahren wir, suchen noch einen Raum, um ihre “Werther”-Adaption auch dem Hamburger Publikum präsentieren zu können. Matthias wird noch ein bisschen weiter in Gremien sitzen und gegen die Windmühlen kämpfen, damit Mirko weiter auf der bühne und dahinter Theater machen kann. Lisette geht bald nach Berlin an die Schauspielschule. Ahmed weiß noch nicht, was in ein paar Monaten ist.

Irgendwie wäre es schön, wenn es jetzt erst so richtig losgehen würde, aber es folgen nur noch Dankesworte und Applaus. Dann tröpfeln die Teilnehmer nach und nach aus dem Festivalzentrum, nicht ohne das Versprechen, in Kontakt zu bleiben natürlich und vielleicht im nächsten Jahr wieder zusammen zu kommen. Das quergespielt-Team, ein bisschen müde und auf eine Art beseelt, auf die man es eben ist, direkt nachdem etwas zu Ende gegangen ist, bevor man es realisiert hat, faltet die goldene Knister-Tischdecke zusammen. Alles, was noch übrigbleibt, ist ein Stapel Müllsäcke im Flur, der Geruch von ausgeschüttetem Bier auf Holzboden und der Nachhall von Applaus. Wie das eben so ist, beim Theater.