Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Mein Mentor, der Flüchtling

| 9 Lesermeinungen

Der Verein aeWorldwide bringt Studenten und geflüchtete Wissenschaftler zusammen. Diese werden nicht als Hilfsempfänger lahmgelegt, sondern als Ratgeber eingesetzt. Ein Gespräch mit der Initiatorin.

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© Annette EtgesDer äthiopische Politologe und Wirtschaftswissenschaftler Mesgin Mulugeta hält für aeWorldwide einen Vortrag vor Studierenden.

Die Idee zu dem Verein academic experience Worldwide e.V. wurde von den beiden Freundinnen Merle Becker und Melusine Reimers bereits im Jahr 2013 entwickelt, noch zu Studienzeiten. Mittlerweile umfasst das Projekt Städte wie Frankfurt a.M., Berlin und München und zählt deutschlandweit rund 200 Mitglieder. Merle Becker, die Vorsitzende von aeWorldwide, hat ihr Studium inzwischen abgeschlossen, promoviert im Bereich internationale Beziehungen und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt.

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F.A.Z.: Euer Verein aeWorldwide engagiert sich für die Integration geflüchteter Wissenschaftler in den deutschen Wissenschaftsbetrieb. Wie viele der hier lebenden Geflüchteten haben denn einen universitären Hintergrund?

Merle Becker: Es gibt tatsächlich keine Zahlen, an denen man sehen könnte, wie viel Prozent der hier Ankommenden denn nun Abitur, schon mal studiert oder gar einen Abschluss haben. Das bedeutet aber nicht, dass all das nicht vorhanden wäre. Oft wird in der Öffentlichkeit das Bild geschaffen, dass so viele geflüchtete Menschen alphabetisiert werden müssten, dass sie nicht einmal richtig lesen und schreiben könnten. Dass sie das allerdings beispielsweise auf Arabisch oder Kyrillisch sehr wohl können, wird oftmals völlig und – ich behaupte – durchaus bewusst außer Acht gelassen. In Wahrheit ist es nämlich so, dass viele Menschen, die hier ankommen, eine gute Vorbildung haben. Es ist natürlich klar, dass, wenn jemand mit Anfang zwanzig hier ankommt und die letzten Jahre auf der Flucht war, er wahrscheinlich kein Abitur hat. Aus diesem Grund sind diese Menschen aber noch lange keine Belastung, ganz im Gegenteil, sie sind eine große Chance für uns und unsere Gesellschaft.

Wie lässt sich ein Abschluss, der beispielsweise in Syrien gemacht wurde, mit Abschlüssen in Deutschland vergleichen? 

Es gibt noch relativ wenige bis keine Regeln, wenn es zum Beispiel um Anrechnungsfragen von Studienleistungen aus anderen Ländern geht. So langsam kommt die Politik aber dahinter, dass sie sich auch um solche Fragen kümmern muss. Vielen Universitäten scheint es oft nur darum zu gehen, wie viele Semesterwochenstunden ein Seminar hatte und wie der Titel der Veranstaltung war, anstatt dass sie genau hinschauen, was denn nun wirklich an Inhalten vermittelt wurde.

© Annette EtgesMerle Becker im Gespräch mit Mohammad Almustafa und Rahwa Goitom, zwei Teilnehmern von aeWorldwide.

Was wären Alternativvorschläge deinerseits?

Eine Idee wäre, sich tatsächlich Abschlussarbeiten anzuschauen. Viele haben die sowieso in einer Cloud abgelegt, weil sie wissen, dass das wichtig ist. Auch wäre es eine Idee, gezielt den tatsächlichen Wissensstand abzufragen. Mir ist natürlich klar, dass das Zeit und auch Geld kostet. Aber die Anrechnungsthematik betrifft ja nicht nur Geflüchtete. Ich selbst habe einmal die Uni innerhalb eines Bundeslands gewechselt und nahezu nichts angerechnet bekommen. Aus diesem Grund stellen wir vom Verein aus auch immer mal wieder Abschlussarbeiten online oder stellen sie in Seminaren vor. Spannend zu sehen ist, dass oft die Reaktion kommt: „Krass, dass ist ja genauso wie bei uns!“ Allein das zeigt ja, wie viel so eine Abschlussarbeit aussagt über die wissenschaftliche Leistung von Menschen.

Wie kamt ihr auf die Idee zu eurem Verein?

Der Gedanke war, keine klassische Hilfsorganisation zu gründen, in der es einen aktiven und einen passiven Part gibt, sondern das Ganze einmal umzudrehen und zu sagen, okay, die Menschen die hier ankommen, sollen als Menschen und nicht nur als passive Hilfeempfänger wahrgenommen werden. Und da wir selbst zu Zeiten der Gründung noch studiert haben und an der Uni waren, war uns klar, dass wir diese Ressource auch nutzen wollen. Daher haben wir uns gezielt auf geflüchtete Wissenschaftler konzentriert, die in ihren Heimatländern schon Abschlüsse gemacht haben. Wir dachten uns, dass genau diese Menschen doch hervorragend als Mentoren für Studierende geeignet wären.

Wie seid ihr weiter vorgegangen?

Wir haben Tandems zwischen fertig studierten geflüchteten Menschen und Studierenden des gleichen Faches gebildet. Die Studierenden haben den Geflüchteten in bürokratischen Fragen sowie bei Sprachbarrieren geholfen und die internationalen Akademiker gaben Nachhilfe in ihren Fächern. Das war damals das erste Projekt.

Wie hat man sich ein solches Tandem genau vorzustellen?

Ein äthiopischer Biologe bildet zum Beispiel ein Tandem mit einem Biologiestudierenden. Er hilft ihm also in der Uni, aber auch bei der Karriereplanung. Natürlich lernen die Studierenden auch ganz viele Softskills wie interkulturelle Kommunikation und viel über das Asylverfahren.

© Annette EtgesEin Tandem der Anfangszeit

Wie viele solcher Tandems gibt es?

Hier in Frankfurt haben wir etwa 80 Tandems, das sind 160 Teilnehmer. In Berlin sind wir noch etwas kleiner, da gibt es bisher rund 30 Tandems, das ist derzeit unser größter Ableger.

Was organisiert ihr außer diesen Tandems?

Von Anfang an haben wir offene, regelmäßige Seminare angeboten, die dazu da sein sollten, eine breitere Begegnung zu schaffen. Zu den Seminaren kann jeder kommen, ganz gleich ob die Person Tandemteilnehmer ist oder nicht, ober er studiert, fertig studiert hat oder sogar noch nie an einer Uni war. Jeder kann dort hinkommen und sich austauschen oder gar eigene Arbeiten vorstellen. Es sollte lediglich ein Interesse an akademischen Themen mitgebracht werden. Bis heute kommen von Woche zu Woche immer mehr Menschen zu den Seminaren. Nachdem wir uns im ersten Jahr hauptsächlich auf die Tandems und die Seminare konzentriert haben, ist unser zweites Ziel vor allem eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit geworden, da wir immer wieder feststellen mussten, dass an vielen Stellen ein falsches Bild des sogenannten Flüchtlings gezeichnet wird. Hierzu veranstalten wir Informationsveranstaltungen, Vorträge oder Kamingespräche, beispielsweise zwischen Menschen aus der Wirtschaft und geflüchteten Wissenschaftlern. Vorurteilen kann man am besten entgegenwirken, indem man tatsächliche Begegnungen schafft.

Gegründet wurde die Initiative 2013, jetzt haben wir 2017. Was ist in der Zwischenzeit passiert?

Zu Beginn wurden wir ein wenig belächelt. Richtig los ging es Mitte 2015, als das Flüchtlingsthema vermehrt in den Medien auftauchte. Da sind dann auch viele auf uns aufmerksam geworden, größere Medien haben über uns berichtet und immer mehr Menschen aus ganz Deutschland haben sich bei uns gemeldet, um sich zu engagieren. In dem Jahr kam es dann auch zu den ersten größeren Kooperationen mit Universitäten in Berlin und München. So viele Studierende zu finden, die Zeit und Lust haben, sich ehrenamtlich zu engagieren, ist nicht immer leicht. Wir hätten daher nie damit gerechnet, dass das mal so wächst. Auch lässt sich beobachten, dass die Zahl der Organisationen, die sich mit Integration beschäftigen, in den vergangenen Jahren rapide zugenommen hat, was auf der einen Seite toll ist, auf der anderen leider auch dazu geführt hat, dass beispielsweise viele Universitäten aus dem Druck heraus, sich plötzlich engagieren zu müssen, ziemlich schnell pressewirksame Projekte umgesetzt haben, ohne sich tiefer mit der Materie und der Zielgruppe zu befassen. Mittlerweile fanden aber die ersten Projektevaluationen statt und die Situation bessert sich merklich.

© Parwiz RahimiVortragsreihe 2016: “Opening Academia” in der Stadtbücherei Frankfurt am Main

Wie ist aeWorldwide organisiert, ihr habt ja nicht direkt als Verein angefangen.

Nein, aeWorldwide begann 2013 als Initiative und ist erst seit 2015 ein Verein mit Hauptsitz in Frankfurt a.M. Die Ehrenamtler arbeiten in Teams: Wir haben zum Beispiel ein Team, das sich um das Tandemmatching in Frankfurt kümmert, ein anderes ist für Berlin zuständig. Auch für die Seminare gibt es in jeder Stadt Teams. Fundraising, Öffentlichkeitsarbeit, Finanzen und Co. laufen von Frankfurt aus. In jedem Team sind vier bis fünf Menschen, die zusammen arbeiten. Einige haben einen Fluchthintergrund, andere nicht. Mittlerweile sind viele schon nicht mehr Studenten, aber sie engagieren sich trotzdem weiter. Es kommen auch immer wieder neue Studierende hinzu. Auch Menschen, die schon lange nicht mehr an der Uni sind, engagieren sich. Die Mischung sorgt dafür, dass wir erfolgreich zusammen arbeiten können.

Auf eurer Homepage schreibt ihr: „Dieses Team [das Presseteam] hat es sich nicht nur zum Ziel gesetzt, aeWorldwide als Verein bekannter zu machen, sondern möchte vor allem das Negativbild ‘des Flüchtlings’ in den Medien beeinflussen.“ Wie sieht dieses Bild deiner Meinung nach aus und welches Bild möchtet ihr zeichnen?

Klar gibt es kein generalisiertes Bild, das uns sagt: „So oder so ist der Flüchtling“. Aber es gibt im allgemeinen Diskurs schon eine Tendenz, die uns die Geflüchteten oft als arme, hilflose Wesen beschreibt, die auf uns angewiesen sind. Pervers, wenn man nur den logistischen Aufwand bedenkt, den manch eine Flucht mit sich bringt und wenn man sich vergegenwärtigt, dass „Flüchtlinge“ auch ganz normale Menschen sind, die vorher ein ganz normales, produktives Leben geführt haben. Meist werden sie noch als höchst traumatisiert und seit der Silvesternacht in Köln zusätzlich als gefährlich bis hin zu sexuell übergriffig beschrieben. In der Philosophie nennt man diese Herangehensweise „othering“, Menschen werden zu Anderen gemacht. Wir möchten vor allem darauf aufmerksam machen, dass es im Grunde gar nicht möglich ist, von „dem Flüchtling“ zu sprechen. Allein wenn man die schier unendliche Liste an Herkunftsländern und damit einhergehenden Kulturen, Religionen und Sprachen anschaut, sollte das deutlich werden. Aber das wird allzu oft schlicht außer Acht gelassen.

Ist es nicht aber so, dass ihr durch eure Veranstaltungen eigentlich nur die Personen erreicht, die sich sowieso schon für das Thema interessieren und generell offen für die Integration von Flüchtlingen sind?

Das ist ja leider immer der Fall. Aus diesem Grund ist es uns besonders wichtig, auch über die Veranstaltungen und Seminare hinaus breitenwirksame Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, mit größeren Medien in Kontakt zu treten und im Radio, Fernsehen oder in Zeitungen über unsere Aktivitäten zu sprechen und eben Geschichten zu erzählen. Ebenso betreiben wir auch ein Blog auf dem wir regelmäßig Artikel veröffentlichen. In einer Veranstaltungsreihe haben wir auch völlig uni-extern öffentliche Vorträge von geflüchteten Wissenschaftlern in der Frankfurter Innenstadt veranstaltet. Spannend hier war es zu beobachten, wie erstaunt manche Zuschauer darüber waren, dass es eben nicht um Flucht ging, sondern beispielsweise um mobile Roboter.

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Video: Der erste Vortrag der Reihe “Opening Academia” von Dr. Abaza über Mobile Roboter im November 2016. Momentan läuft eine Crowdfunding-Kampagne, um die Reihe fortzusetzen.

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Abschließend: Was war deine Motivation, aeWorldwide zu gründen und bis heute dabei zu bleiben?

Vor aeWorldwide habe ich bereits in Hilfsorganisationen gearbeitet. Ich war erschrocken darüber, welches Bild von Hilfestellung dort zum Teil vermittelt wurde. Der reiche zivilisierte Mitteleuropäer bringt dem Bedürftigen Geld, Essen und Kultur. Dieses doch noch sehr hierarchische Denken wollen wir mit aeWorldwide aufbrechen.

Die Fragen stellte Tilman Döring.


9 Lesermeinungen

  1. […] 19. April 2017 von Tilman Döring | 0 Lesermeinungen […]

  2. […] +++DEUTSCHLAND Mein Mentor, der Flüchtling Der Verein aeWorldwide bringt Studenten und geflüchtete Wissenschaftler zusammen. Diese werden nicht als Hilfsempfänger lahmgelegt, sondern als Ratgeber eingesetzt. Ein Gespräch mit der Initiatorin. https://blogs.faz.net/blogseminar/mein-mentor-der-fluechtling/ […]

  3. Horst Rehmer sagt:

    Dipl. Ing
    Ja die Idee, wäre auch für München ganz spannend

  4. Dana E. sagt:

    Klasse Aktion
    Ich würde mich freuen, wenn diese Ideen auch in Hamburg umgesetzt werden würden & wäre gerne bereit mich zu engagieren!

  5. mostein sagt:

    Leider keine harten Fakten genannt
    Dem Artikel kann ich nicht entnehmen, ob es sich um denselben Aktionismus handelt, den man oft an Hochschulen erlebt, wenn es um Graduiertenkurse oder Frauenförderung geht oder ob hier wirklich etwas sinnvolles passiert.
    Wäre es nicht sinnvoller, wenn geflüchtete Akademiker ihre Landsleute in Bildungsfragen unterstützen würden? Wenn syrische Ärzte ihre Landsleute unterstützen würden?

  6. Paule sagt:

    Viel Glück
    Viel Glück , mehr kann ich Ihnen leider nicht wünschen

  7. Gast sagt:

    Danke für die Infos und den Einsatz
    Gefällt mir gut, das Engagement und die Unterstützung von Menschen, die es bis ‘zu uns’ geschafft haben! Auch viele von uns hatten in den Wirren unserer Vergangenheit Glück im Unglück.

  8. Frauke M. sagt:

    Toll!
    Toller Text! Tolle Aktion!

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