Zwischen Tourismusattraktion, Mystifikation und Politikum: Die zerfurchten Externsteine haben einiges zu bieten. Im Teutoburger Wald gelegen, erregen sie die Phantasie ins Extreme. Eine Wanderung zum Ursprung eines Streitfalls.
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Wie ein stummer Riese steht die Felsformation im ostwestfälischen Teutoburger Wald: „ein imponierender phantastischer Anblick“, möchte man den Dichtern Levin Schücking und Ferdinand Freiligrath zustimmen. Mitte des 19. Jahrhunderts haben sie das „malerische und romantische Westphalen“ bereist und ihre Eindrücke gesammelt. Noch heute lockt der Ort viele Menschen an. Hier finden sich Sonntagsspaziergänger ebenso ein wie kraftsuchende Esoteriker, ausgelassene Walpurgisnacht-Fans oder Rechtsradikale. Das markige Natur- und Kulturdenkmal zählt jährlich rund eine halbe Million Besucher und ist doch mehr als eine touristische Attraktion von internationalem Rang – das Schweigen der Externsteine kann auch leicht zur Verführung werden.
Vom anliegenden Parkplatz aus sind nur wenige Minuten zu gehen. Wer mag, kann sich noch flott mit Souvenirs, Snacks und Getränken eindecken oder ein paar Auskünfte im Info-Center einholen: Auf einer imposanten Fläche von rund 125 Hektar, die schon seit 1926 unter Naturschutz steht, liegen die insgesamt 13 Felsen. Doch vor allem die fünf Hauptfelsen sind das begehrte Ausflugsziel, das seinen Namen wohl vom mittelniederdeutschen „Egesterensteine“ hernimmt – scharfe, kantige, spitze Steine. Das passt! Noch kurz eine Cola besorgen und dann geht’s hinein in den Teuto.
Was soll es bedeuten?
Nach ein paar hundert Metern Waldweg sind sie dann erreicht und es ist ein bisschen so, als betrete man eine andere Welt. Am Wegrand stimmt ein Flötenspieler mittelalterliche Töne an, die zum Felsensemble hinüberschwingen. Die in Stein gearbeiteten Treppen führen hoch über das umliegende Grün hinaus. Auf den Felsen gibt es einiges zu entdecken: Mehrere Grotten, eine kleine Kapelle und ein düsteres Felsengrab mit Gruseleffekt verweisen auf eine weit zurückreichende Zeit. Seit Jahrhunderten ist das Ursprungsmysterium der Externsteine Faszinosum und Kontroverse zugleich. Wer kann schon genau sagen, welche Kultur an diesem Ort ihre Spuren ausgelegt hat? Die Wissenschaft jedenfalls ist sich unsicher. Waren es Kelten, Christen, Germanen oder doch eine ganz andere Gruppe, die von hier oben den hübschen Blick über Ostwestfalen suchte?
Gegen den blauen Himmel in der Ferne sticht der Osning-Sandstein ab, dem die Formation ihren düsteren Teint verdankt. „Echt finster“, bemerkt eine Besucherin erstaunt. Und tatsächlich, wer hier über die Felsen wandelt, dem kann schnell auch ein bisschen unheimlich werden. Aus dem Wald hört man noch die Vögel rufen, langsam senkt sich die Sonne hinter ein paar Wolken und taucht alles in einen kühlen Mantel. „Was liegt hier verborgen?“, fragt man sich und kneift die Augen fest zusammen: Schon seit unvorstellbarer Zeit trägt die Natur nun schon ihre Handschrift ins Gestein. Das Verwitterte, Abgeriebene, Verwaschene verleiht ein unbestimmtes Gefühl und fast könnte man meinen, die Vorzeit selbst teilte sich an dieser Stelle mit. „Dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein“ geben, so beschrieb Novalis einmal das Romantisieren. Eine letztgültige Antwort mag man sich herbeisehnen, einen höheren Sinn erahnen, doch zuletzt bleibt die Krakelschrift dieser naturbelassenen Eigentlichkeitsprosa unlesbar. Man nippt kurz an der braunen Brause, lässt den Sprudel durch die Zähne zischen und fühlt sich für einen Moment an Heines Lied von der Loreley erinnert:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten
dass ich so traurig bin
Ein Märchen aus alten Zeiten
Das geht mir nicht aus dem Sinn
Gefährliche Tiefe
Auch die Externsteine haben eine traurige Geschichte zu erzählen. Einen Boom erleben sie im 19. Jahrhundert, als die wissenschaftliche Perspektive auf die deutsche Vor- und Frühgeschichte das Interesse für germanische Mythologie weckte. Fachpublikationen, Tourismus und archäologischer Ausgrabungseifer waren die Folgen. Vorlauf eines großen Unheils, denn die Nationalsozialisten erklärten die Felsen zum germanischen Herkunftsort und argumentierten damit für ihre gefährlichen Rassenideen. Im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckt man die Romantik für die deutsche Nationalidentität neu. Es finden sich Positionen, die das Romantische auf seine totalitätsdenkende Seite reduzieren, zu einem Wert von metaphysischer Ewigkeit erheben und auf konkrete Orte beziehen.
So können auch die Externsteine mit einer Bedeutung vom „urdeutschen Geheimnis“ aufgeladen werden: „In den gewaltigen Eichenwäldern, den geheimnisvollen Schluchten und dem dunklen Tann des Teutoburger Waldes raunt die deutsche Urgeschichte“, verlautbarte Siegfried Bergengruen 1933. In der Tiefe liegt der Grund, so hat es die deutsche Kulturgeschichte immer wieder behauptet. Auch die Nationalsozialisten wollten die Wahrheit ausbuddeln und ließen zur Schaufel greifen. Die Propaganda nutzte die Archäologie für ihre Zwecke und gab ihr auf, Beweise für den germanischen Ursprung des deutschen Volks bei den Externsteinen zu liefern. Die bestellten Nachweise folgten prompt. Nun war also endlich alles klar und so verwandelte sich das Unergründliche zum Wahrzeichen, die Externsteine in eine nationalistisch verklärte Kultstätte.
Beim Schlendern entlang der Felsen entdeckt man am westlichen Teil das berühmte, etwas beschädigte Kreuzabnahmerelief am „Grottenstein“, das heute noch für Gottesdienste Verwendung findet. Die Entstehungszeit wird von einigen auf das neunte Jahrhundert geschätzt, aber auch diesmal bleibt die Wahrheit im Dunkeln. Das Relief ist in weichen Kalk-Sandstein eingearbeitet und in drei Teile gegliedert: Im unteren Bereich umschlingt ein drachenartiges Wesen zwei unterschiedlich gedeutete Figuren, oben ist das Relief präziser gearbeitet und zeigt womöglich den Gott-Vater mit Siegesfahne. Im Mittelteil sieht man unter anderem Nikodemus, der Jesus Christus vom Kreuz abnimmt. Unter ihm ein Gegenstand, der einer gebogenen Palme ähnelt und zum großen Streitfall werden sollte. Vor allem im 20. Jahrhundert entbrannte ein Kampf um Deutungshoheit: Der völkische Laienforscher Wilhelm Teudt hatte in seinem Buch „Germanische Heiligtümer“ von 1929 das Symbol unterhalb des beinlosen Nikodemus als Irminsul interpretiert, was auch Heinrich Himmler gefiel, der den Ort im April 1934 besuchte. Die Irminsul soll als frühmittelalterliches Heiligtum der Sachsen durch den fränkischen König Karl den Großen im Verlauf der Christianisierung zerstört worden sein und wurde nun als Gegensymbol zum Kreuz des Christentums in Stellung gebracht.
Die hohe Aktualität der ideologischen Belastung beweisen Vorfälle auch nach der Zeit des Nationalsozialismus. 1955 etwa haben Vandalierer das Relief mit schwarzer Farbe verunstaltet und die vermeintliche Irminsul versilbert – die Parole: „Deutschland erwache.“ Derselbe Gedanke dürfte im Jahr 2017 eine andere Pilgergruppe angetrieben haben. Sie bepinselte das Symbol in den Farben des Deutschen Reiches und plazierte es auf der Felsspitze, um dem Ort die eigene Deutung aufzudrücken. Die Trauergeschichte geht also weiter, sie ist noch immer nicht auserzählt.
Nach Hause
Im Jahr 1817 besuchte auch Wilhelm Grimm die Externsteine, wie man im Info-Center erfährt. Er fand es hier sehr gemütlich, schließlich könne man „in aller Bequemlichkeit die Gegend überschauen“. Es fällt nicht schwer, sich bildlich vorzustellen, wie der touristische Märchensammler seine Runden drehte, das idyllische Feeling und auch die unheimliche Note genoss. Im Grünen treffen sich heute noch Hase und Igel, und man kann sich den Froschkönig gut im anliegenden Wiembecketeich vorstellen.
So bunt wie die Märchenwelten ist das Publikum, das sich um die Felsen tummelt. Hier findet jeder, wonach er sucht – ob bedeutungsschweren Tiefsinn, historische Informationen oder einfach gute Luft. Denn, na klar, auch ohne Mystik sind die Externsteine eine Reise wert.
Am Abend zieht dann allmählich die Dunkelheit ein. Die Sonne ist schon hinter den Bäumen des Teutoburger Waldes verschwunden. Ein Kind zupft unruhig am Ärmel der Mutter: „Mir ist langweilig! Wann gehen wir denn endlich?“ Die meisten Besucher haben schon den Rückweg angetreten. Hier ein letztes Foto, dort noch ein Gähnen. Ein letzter Schluck Cola, aber es prickelt nicht mehr. Auf einmal ist das ganze zauberhafte Pathos wie verflogen. Was es bedeuten soll, ist noch immer nicht klar – doch das ist in Ordnung. Die Besucher nehmen gemächlich den Waldweg in Richtung Parkplatz. Zurück bleiben nur die einsamen Steine und blinzeln den Leuten müde nach.