Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Nachts in der UB

| 16 Lesermeinungen

Die Freiburger Universitätsbibliothek wird gehasst oder geliebt, auf jeden Fall ist sie rund um die Uhr geöffnet. Unsere Autorin hat dort eine Nacht durchgemacht – und nach der Wahrheit gesucht.

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Was musste die Freiburger Universitätsbibliothek (UB) schon alles über sich ergehen lassen seit der Neueröffnung im Sommer 2015. Eigentlich schon vorher. Zu teuer (über 50 Millionen hat sie gekostet); zu modern, um ins Stadtbild zu passen; blendet wochenlang die Autofahrer, wenn im Frühjahr die schiefe Glasfassade die Sonne spiegelt. Und warum nimmt der Staat für das lausige Studentenpack überhaupt so viel Geld in die Hand?

Seit sie geöffnet ist, reißt der Nörgelstrom nicht ab. Zu wenige Arbeitsplätze (na ja, der frühe Vogel fängt den Wurm). Kaputte Bodenplatte (jetzt repariert). Die Tür zum Café eine Fehlkonstruktion, weil sie sich nicht öffnen lässt (das stimmt wohl). Die Drehtür am Haupteingang dreht sich nicht schnell genug und bleibt zu oft hängen (weil zu viele Leute mit zu vielen anderen zu schnell durchgehen wollen …). Die Pausenuhren nerven (sind aber eigentlich eine gute Idee, um die Arbeitsplätze auszulasten). Achtung, stundenlanger Stau am Aufzug, weil die Treppe gesperrt ist! Ja, okay, es ist nicht alles perfekt, aber insgesamt wird auf ziemlich hohem Niveau gejammert.

In einem Beitrag der NDR-Satire-Sendung extra3 über die „drei irrsten Universitätsbibliotheken Deutschlands“ landete die Freiburger UB auf Platz drei. Und auf Platz zwei. Und auf Platz eins. Sehr witzig das Ganze.

An der UB scheiden sich die Geister. Manche verabscheuen sie und verpassen es nicht, Nachrichten über das erneute Versagen des Gebäudes zu verbreiten. Andere finden den kolossalen Bau, seine bequemen Sessel und endlosen Bücherreihen, seine Geschäftigkeit und Lebendigkeit liebenswert. Sie finden es gut, dass die Uni, die sonst über die ganze Stadt verstreut ist, wieder einen Mittelpunkt hat – der auch noch 24 Stunden am Tag offen steht, sieben Tage in der Woche. Zu letzteren gehöre ich.

Die ein oder andere Hausarbeit und Teile meiner Masterarbeit sind nachts im „Todesstern“ (einer der vielen Spitznamen der UB) entstanden, und zwischen hektischem Lesen und Tippen ist mir immer wieder aufgefallen, wie besonders die Atmosphäre hier ist, ein helles Leuchten mitten in der dunklen Stadt. Also entschloss ich mich, einmal eine Nacht ohne Zeitdruck in der UB zu verbringen.

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Halb Sechs.

Draußen dämmert es. Der Himmel ist wolkenverhangen, es nieselt ein bisschen. Die UB ist noch gut gefüllt, aber nicht mehr so voll, dass man verzweifelt den letzten freien Platz suchen müsste. Ich finde einen schönen im dritten Stock am Fenster, mit Blick auf das Kollegiengebäude, fast auf Augenhöhe mit dem Schriftzug „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Er mutet etwas seltsam und großspurig an, trotzdem bringt er mich in die richtige Stimmung für die bevorstehende Nacht.

In der Einleitung zu ihrer 2015 erschienen Aufsatzsammlung „The Meaning oft he Library: A Cultural History“ beschreibt Alice Crawford das Bestreben der Menschheit, immer wieder Bücher zu sammeln und Gebäude zu errichten, um sie zu bewahren, als vergeblichen aber umso entschlosseneren Versuch, all dieses Material (all die ‚Wahrheit‘) in einem geordneten Raum zu vereinen. Das erscheint mir ziemlich passend.

Halb sieben.

Die erste Stunde ist fast rum, draußen ist es inzwischen komplett dunkel. Als ich aus dem Lesesaal, der ein Stockwerk tiefer liegt, ein Buch hole, fällt mir auf, dass die UB schon halb leer ist. Auf eine seltsame Art ist es ein erhabenes Gefühl, zu wissen, dass die meisten bald gehen und ich gerade erst gekommen bin. Noch steht die Bibliothek allen offen, ab acht Uhr haben nur noch Studenten mit Unicard Zutritt zum Gebäude.

Dass Bibliotheken überhaupt für die breite Öffentlichkeit zugänglich sind, ist ja ein Phänomen der Neuzeit. Im Mittelalter gehörten die meisten Bibliotheken zu Klöstern, in denen Mönche wichtige Dokumente handschriftlich vervielfältigten – Umberto Eco schildert das in seinem Roman „Der Name der Rose“ sehr eindringlich. Mit fortschreitender Säkularisierung gingen die Büchersammlungen der Klöster in den Besitz weltlicher Herrscher und oftmals auch neugegründeter Universitäten über. Die ersten öffentlichen Lesesäle gab es im 17. Jahrhundert in der Bodleian Library in Oxford und der Biblioteca Ambrosiana in Mailand. Das älteste Buch der UB Freiburg ist übrigens ein vom Freiburger Buchbinder Caspar Reppich gefertigter Lederband, der einige mittelalterliche Bruchstücke enthält, die auf das 9. Jahrhundert datiert werden.

Halb zehn.

Es ist merklich leerer geworden. Und stiller. Ich merke, wie ich in den letzten Stunden in einen unbeschwerten Fluss gekommen bin. Mein Handy habe ich schon länger nicht mehr beachtet. Dafür grüßt man sich jetzt. Man lächelt, wenn man an anderen Studenten vorbeigeht, nickt sich zu und wünscht sich so gegenseitig Durchhaltevermögen bei was auch immer. Wer jetzt noch hier ist, meint es ernst.

Es sind keine einfachen Zeiten für Bibliotheken, die Digitalisierung hat viele Fragen aufgeworfen. Aber solange die Stadtverwaltung von McAllen, Texas, es für richtig hält, eine riesige Walmart-Filiale aufzukaufen und für 24 Millionen Dollar in eine Bibliothek zu verwandeln, und solange es in den Vereinigten Staaten insgesamt mehr öffentliche Bibliotheken (knapp 17.000) als McDonalds-Filialen (etwas mehr als 14.000) gibt, besteht Hoffnung.

Und sollte es überall anders den Bach runtergehen, bleibt dem Buchliebhaber immer noch die Emigration nach Norwegen: Dort kann man Bibliotheksbücher in jeder beliebigen Bücherei zurückgeben, egal, wo man sie ausgeliehen hat. Der Staat kauft dort 1000 Exemplare jedes original norwegischen Buches und verteilt sie in den öffentlichen Büchereien.

Eins.

Mehr als die Hälfte der Nacht ist rum. Gerade war ich beim Uni-Döner. Der Dönermann ist halb schockiert, halb erfreut über einen nüchternen Gast. Es regnet draußen, mäßig, aber beständig. Sie sieht schwerelos und elegant aus, wie sie mit ihren Leuchtröhren im Dunkel daliegt, die UB.

Die Sicherheitsleute wollen mich mit meinem Yufka nicht zurück nach drinnen lassen. Ich ertrage es mit Würde und lächle freundlich, als ich nach dem Essen wieder reingehe und zurück in den dritten Stock steige. Wir sind dort jetzt noch zu dritt. Ein großer Blonder mit Anatomiebüchern. Ein kleiner Brillenträger, der wild rechnet. Und ich, ich lese, denke und schaue die endlosen Bücherreihen entlang, die im Halbdunkel liegen, weil das Licht ausgeht, wenn lange niemand durchgelaufen ist. Wie viele Bücher hier wohl ungelesen bleiben?

Zwei.

Ich fühle mich irgendwie unbesorgt und leicht. Bisher bin ich immer hergekommen, weil mich eine Deadline getrieben hat. Diesmal bin ich aus völlig freien Stücken hier und habe wirklich Zeit, mich in etwas zu vertiefen. Irgendwie ergibt der Schriftzug auf dem Gebäude gegenüber, der von der Wahrheit, die einen freimacht, plötzlich Sinn. So muss Studieren sein, denke ich.

Kurz vor drei.

Es regnet in Strömen. Ich merke, wie ich langsam ein bisschen müde werde, wie ich Zeilen zweimal lesen muss, wie die Seiten sich langsamer wenden. Zeit für einen Kaffee. Zu dieser Stunde bleibt nur der Kaffeeautomat im verlassenen Erdgeschoss. Das Zischen und Plätscherns des Kaffees in die Tasse (ja, auch nachts steht ein Vorrat an Tassen zur Verfügung, damit niemand Pappbecher verwenden muss) scheint für einen Moment das einzige Geräusch im ganzen Gebäude zu sein.

Vier.

Stille. Kein Stühlerücken, kein Flüstern, kein schlurfendes Laufen, kein Verkehr draußen, kein Regen, kein Papiergeraschel, kein Tastaturklappern. Nur das Kratzen meines Kugelschreibers auf Papier. Ich weiß nicht, wann es zuletzt so still war. Nach dem Kaffee habe ich aufgehört zu arbeiten, die Bücher zur Seite gelegt und eine Weile einfach dagesessen und die Stille aufgesogen. Dann sind Gedanken gekommen, die sonst untergehen. In der Tiefe der Nacht finden sie ihren Platz, und ich verstehe, was Jorge Luis Borges wohl meinte, als er schrieb: „Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“ “Paradies” ist vielleicht ein großes Wort, aber ein außerweltlicher Zufluchtsort, das kommt schon hin.

Halb sechs.

Nach zwölf Stunden Nachtwache beschließe ich, Schluss zu machen. Ich packe meine Sachen zusammen und gehe nach Hause. Die Stadt ist ruhig. In der Straßenbahn treffe ich eine seltsame Mischung von Leuten. Die letzten, die nach einer durchfeierten Nacht nach Hause schlurfen, mit verwischtem Mascara und durchschwitzten T-Shirts und die ersten, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Ich bin müde, aber nicht völlig erschöpft. Über das, was ich in dieser Nacht gelesen, gedacht und geschrieben habe, werde ich wohl noch ein paar Tage weiterbrüten.

Eine Bibliothek ist mehr als nur eine Sammlung von Büchern, das schreibt auch Alice Crawford in ihrer Kulturgeschichte der Bibliotheken: „Die Bibliothek ist ein Zentrum der Wissenschaft, ein universelles Gedächtnis, ein Labyrinth, … ein Archiv für Geschichten, eine Festung, ein Ort der Transzendenz, … eine Zeitmaschine, ein Tempel eine Utopie, … ein Heilmittel gegen Fanatismus … ein Ort für das Streben nach Wahrheit.“ Und selbst wenn man den Begriff einer ultimativen Wahrheit für fragwürdig hält, so ist die UB auf jeden Fall ein Ort, an dem man viele Wahrheiten finden kann, und das macht vielleicht noch freier als die eine allumfassende.

Nachts, wenn der Trubel, die Hektik und die Touristen verschwunden sind, wenn es wirklich still ist und man Platz hat, sich und seine Gedanken auszubreiten, dann kommt all das, was eine Bibliothek sein kann, zum Vorschein. Alles scheint gedanklich möglich, nachts in der UB.


16 Lesermeinungen

  1. […] ganz Interessierte möchte ich noch auf den FAZ-Blogbeitrag ‚Nachts in der UB‚ hinweisen und die beiden Posts der Stadtbibliothek Salzgitter teilen. Einer der dortigen […]

  2. Gast sagt:

    zweifelhaft
    Man kann die UB also nur lieben oder hassen? Ich finde es ganz wunderbar, dass man jetzt nicht mehr zur Stadthalle pendeln muss, dass sie zentral und permanent zugänglich ist, dass die Seminarsbibliotheken nicht mehr so überfüllt sind. Aber hätte es dazu wirklich ein Prestigeobjekt wie dieses gebraucht? Wäre die Hälfte der 5000€-teuren Vitra-Designsessel nicht genauso ausreichend? Wären mehr Arbeitsplätze für eine zentrale, öffentliche Bibliothek in der Studenten sämtlicher Fakultäten lernen nicht angebracht?
    Dank der neuen UB ist meine Seminarsbibliothek jetzt an Wochenenden geschlossen. Die meisten der Bücher dort sind in der UB nicht vorhanden und ausleihen kann man sie auch nicht. Geographen und Juristen haben derzeit kein eigenes Seminar, sind also auf die Plätze dort angewiesen.
    Natürlich sollte man froh sein, eine solche Bibliothek zur Verfügung zu haben, aber das bedeutet ja nicht, dass man keine Kritik an der Umsetzung üben kann.

  3. UBler sagt:

    Titel eingeben
    “Der frühe Vogel fängt den Wurm”
    Wenn ich so etwas lese…
    1. Manche kriegen Arbeitsaufträge und können erst dann zur UB.
    2. Allein das jur. Seminar hatte mehr Plätze als die neue UB, wie soll das dann passen? Darauf wurde auch hinlänglich vor dem Bau hingewiesen…

    Und abgesehen davon: Ein Eimer hinter der Säule im 3. Stock, weil die UB bei Regen nicht dicht hält? Bei einem Neubau? Also allerspätestens da hörts doch wohl auf…

  4. Sue sagt:

    Sehr schön
    Wow, ich weiß nicht wie ich auf deinen Blog gestoßen bin. Aber der UB-Eintrag ist toll geschrieben. Spannend geschrieben, Danke dir und gute Nacht!

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