Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Plädoyer für die Scholastik in Zeiten der Online-Lehre

Bei Gruppendiskussionen in digitalen Seminaren geht es an Universitäten derzeit oft drunter und drüber. Wie gut, dass schon vor tausend Jahren eine Methode entwickelt wurde, um die aktuellen Probleme zu lösen.

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Studenten im mittelalterlichen Paris – Farbdruck aus dem Jahr 1934

Das digitale Sommersemester 2020 ist und bleibt ein Härtetest für viele Universitäten. Dozenten und Studenten müssen sich nicht nur mit Videokonferenz-Tools vertraut machen, sondern sich auch neue Konzepte für die digitale Lehre ausdenken. Doch obgleich die Umstellung vom analogen zu virtuellen Unterricht weitgehend reibungslos verlaufen ist, hat der Corona-bedingte Ausnahmezustand eines ganz klar gezeigt: Moderne Seminarkonzepte sind für die digitale Lehre völlig ungeeignet.

Abgesehen von nervenaufreibenden technischen Komplikationen werden Referate von Kommilitonen, die länger als 15 Minuten dauern, rasch ermüdend, ganz zu schweigen von einem 90-minütigen Monolog eines Dozenten, der eigentlich in eine Vorlesung gehören würde. Kommt es zu einer Seminardiskussionen, geht es oft drunter und drüber, weil alle durcheinander reden oder sich im Gegenteil fast niemand zu Wort meldet. Auch der Versuch mancher Dozenten, Seminare durch Live-Chats zu ersetzen, ist zum Scheitern verurteilt, weil diese keine richtige Diskussion ermöglichen. Die Lage ist derzeit also alles andere als ideal. Was tun?

Glücklicherweise gibt es seit fast tausend Jahren Regeln für die Lehre, die Diskussionen nach einem strengen, systematischen Ablauf leiten: die scholastische Methode. Vereinfacht gesagt, ist die Scholastik der Vorläufer unserer modernen Wissenschaft und beschreibt einen Weg, auf dem Philosophen und Theologen im Mittelalter versuchten, ein allumfassendes Verständnis der Welt zu entwickeln. Dazu stützten sie sich zum einen auf theologische Schriften und zum anderen auf überlieferte Werke der Antike, vor allem auf die Schriften des Aristoteles und die Bibel.

Eine Art Schiedsrichter der Diskussion

Das Ziel der Methode ist es, nach einem genau festgelegten Schema und mithilfe von logisch gültiger Beweisführung eine klar formulierte Ja-Nein-Frage oder eine These zu erörtern und schließlich eine begründete Antwort darauf zu finden. Dieses Vorgehen wurde beim Verfassen von Lehrbüchern und anderen Schriften gewählt und auch im Unterricht angewendet, so zum Beispiel in Klosterschulen und an der im 12. Jahrhundert gegründeten Universität von Paris. Die scholastische Methode entwickelte sich zunächst innerhalb der artes liberales, der sieben freien Künste (Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik), die die Grundlage jedes Studiums bildeten, behandelte inhaltlich aber nicht selten theologische Fragen.

Im scholastischen Lehrbetrieb gab es zwei wichtige Unterrichtsformen. Zunächst war da die lectio, die am ehesten unserer heutigen Vorlesung vergleichbar ist und in dem Vortrag eines Lehrenden bestand, der einen Text erklärte und erläuterte. Daran schloss sich die disputatio an, ein argumentatives Streitgespräch, das mit unseren heutigen Seminaren vergleichbar ist. Die disputatio hatte einen klaren Aufbau, der vom Dozenten moderiert wurde und sich in mehreren Schritten systematisch vollzog:

Vor der disputatio wurde eine Behauptung aufgestellt oder eine strittige Frage, eine sogenannte quaestio, formuliert, die sich mit Ja oder Nein beantworten ließ, zum Beispiel: Ist die Erde eine Kugel? Die Studenten wussten über diese These oder Frage vorab Bescheid und mussten sich entsprechend auf eine Diskussion vorbereiten: Entweder sollten sie Pro- oder Kontra-Argumente sammeln. Diese wurden innerhalb der disputatio nacheinander vorgebracht, zunächst die Argumente für die eine Seite, dann die für die andere. Der Lehrende legte fest, welcher Student zu welchem Zeitpunkt sprechen durfte und prüfte die logische Gültigkeit der vorgebrachten Argumente, er fungierte also als eine Art Schiedsrichter der Diskussion.

Die Hälfte ist unvorbereitet

Im Gegensatz zu unserer gegenwärtigen Kultur des Debattierens war es jedoch nicht das Ziel der Studenten, auf einer Position zu beharren. Vielmehr ging es darum, gemeinsam herauszufinden, welche Argumente logisch schlüssig waren und ob die Pro- oder die Contra-Seite überzeugender war, die quaestio also letztlich bejaht oder verneint werden musste.

Die Studenten übten sich unter der strengen Gesprächsleitung des Dozenten darin, logisch gültige Argumente zu entwickeln und anzuführen. Dabei konnte entweder ein Student im Dialog mit dem Dozenten diskutieren, oder mehrere Kommilitonen sammelten und trugen gemeinsam Pro- oder Contra-Argumente vor. So konnte eine gute, systematisch angeleitete Diskussion gelingen, die mithilfe der Logik einen klaren qualitativen Maßstab für die Argumentation hatte und stets in der Beantwortung der zu Beginn gestellten Frage resultierte.

Betrachtet man im Vergleich zu den mittelalterlichen disputationes den Ablauf unserer heutigen Seminare, fallen diese oft zurück. So kann es vorkommen, dass in einem Kurs mit 30 Studenten etwa die Hälfte unvorbereitet ist und sich selbst von den Vorbereiteten nur ein Bruchteil angesprochen fühlt, wenn der Dozent eine Frage stellt. Dadurch diskutieren immer dieselben Kommilitonen, und die Seminardiskussion wird von wenigen Stimmen dominiert. Wenn es ab und zu dann doch zu einer lebhafteren Diskussion kommt, an der sich mehr Studenten beteiligen, werden Einzelne oft unterbrochen, schweifen vom Thema ab oder kommen gar nicht erst zu Wort. Zusätzlich animieren Dozenten ihre Studenten teilweise nicht einmal zum Diskutieren, sondern wollen lediglich von „Sichtweisen“ oder „Lesarten“ der Seminarteilnehmer hören, wodurch eine Diskussion unterbunden wird.

Und gerade in Online-Seminaren kommen weitere Schwierigkeiten hinzu: So fehlt oft eine Gesprächsdynamik, die normalerweise entsteht, wenn im Seminarraum mit Kommilitonen und Dozenten Blickkontakt aufgenommen oder Körpersprache gedeutet werden kann. Zudem neigen viele Studenten vor dem eigenen Computerbildschirm schneller dazu, abgelenkt zu werden, wenn eine Diskussion nicht richtig funktioniert.

Gegen all diese Probleme kann mit der scholastischen Methode vorgegangen werden.

Denn gerade für digitale Lehrveranstaltungen bietet sie großes Potential: Gute und intensive Einarbeitung in ein Thema sowie eine klare Fragestellung, an der sich die Seminardiskussion abarbeiten soll, können dafür sorgen, dass die 90 Minuten auch tatsächlich zur Diskussion genutzt werden. Zusätzlich kann vor der Sitzung geregelt werden, welche Studenten für die Pro- und welche für die Contra-Seite argumentieren sollen. Moderiert der Dozent aktiv die Diskussion, kann er entscheiden, welcher Student wann zu Wort kommt und so vermeiden, dass Einzelne sich nicht einbringen oder aber die ganze Zeit reden.

Die Zahl der Diskutierenden kann klein gehalten oder etwa in Diskussionsgruppen aufgeteilt werden, sodass die Studenten sich im Laufe des Semesters abwechseln. Mithilfe der scholastischen Methode würden Studenten zudem wichtige Fähigkeiten erwerben, die nicht nur für das Diskutieren im Gespräch hilfreich sein können, sondern auch für das Verfassen von Hausarbeiten oder, nach dem Studium im Job, wenn es darum geht, einen Standpunkt überzeugend zu verteidigen. Studenten könnten lernen, logisch schlüssige Argumente zu entwickeln und die Argumente Anderer auf ihre logische Gültigkeit zu prüfen, rasch auf Aussagen zu reagieren, Gegenargumente zu einer eigenen Argumentation zu bedenken und sich bei alledem präzise und nachvollziehbar auszudrücken.

Fungiert der Dozent als Moderator, der durch eine Seminardiskussion führt und die Sprecherrollen unter den Studenten klar verteilt, kann jedes Seminar, können besonders aber Online-Seminare, erheblich an Qualität und Lebendigkeit gewinnen. 

Somit wäre es eine gute Idee, sich auf der Suche nach Lösungen für aktuelle Probleme mit digitalen Seminaren auf die Denkanstöße der scholastischen Methode zu besinnen und diese anzuwenden und weiterzuentwickeln.