Im Zuge der Bologna-Reformen findet die Lektüre von Klassikern an den Universitäten immer weniger Platz. Wo bleibt die Politische Theorie in politisierten Zeiten?
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Populismus, Klimawandel, Bürgerkrieg – sobald sich die Krisen häufen, trägt die Öffentlichkeit dringliche Fragen an die Politikwissenschaft heran. Sie soll ergiebige Antworten liefern, einen ungetrübten Blick auf den Gesamtzusammenhang des politischen Geschehens richten und einen begrifflichen Rahmen bereitstellen, mit dessen Hilfe die Probleme der Gegenwart gelöst werden können. Eine große Aufgabe für ein verhältnismäßig kleines Fach. Besonders, wenn dessen Teilbereich, der sich mit grundsätzlichen theoretischen Fragen auseinandersetzt, in der universitären Lehre seit Jahren Einbußen hinnehmen muss.
Die Politische Theorie, Politische Philosophie oder Ideengeschichte, wie der Teilbereich mancherorts genannt wird, ist eigentlich eine Besonderheit im Kanon der Politikwissenschaft. Die benachbarten Fachrichtungen, von den Internationalen Beziehungen, über die Vergleichende Regierungslehre bis zur Politischen Soziologie, teilen ein eher sozialwissenschaftliches Selbstverständnis. Sie beschäftigen sich auf der Grundlage von Umfragen, Fallstudien oder Interviews etwa mit der internationalen Zusammenarbeit der Staaten, mit den Institutionen liberaler Demokratien oder dem Wahlverhalten einfacher Bürger. Die Politische Theorie hingegen schließt eher an eine geisteswissenschaftliche oder philosophische Tradition an, um weitreichendere Fragen zu beantworten. Politische Theoretiker untersuchen beispielsweise die ideengeschichtliche Herkunft des modernen Sozialstaatsverständnisses oder reflektieren die Bedingungen demokratischer Willensbildung im Zeitalter der Globalisierung.
Fachhistorisch gesehen ist die Politische Theorie die älteste Ausprägung politikwissenschaftlichen Denkens. Schon bei Solon finden sich dichterische, bei Platon und Aristoteles philosophische Gedanken über die Bedingungen einer gerechten und guten Ordnung der Polis, der „Eunomie“. An den mittelalterlichen Universitäten war das Nachdenken über Politik Anhängsel der praktischen Philosophie, bis sich in der frühen Neuzeit unter dem Eindruck der Reformation das Fach erweiterte und an Bedeutung gewann. Neben normativ-abstrakten Werken zur politischen Theorie entstand eine Vielzahl praktischer Untersuchungen, die dem Ziel dienten, den Fürsten Ratschläge etwa zur Vermeidung von Aufständen oder zur Geheimhaltung von Herrschaftswissen zu erteilen.
Ein Gespür für die Gegenwart
Als der Absolutismus blühte, profitierte dieser Teil der Politikwissenschaft besonders. Die Kameral- und Policeywissenschaften traten auf, um mit vergleichenden, statistischen und historischen Methoden zur Organisation des modernen Territorialstaates beizutragen. Nachdem die Aufklärer am Ende des 18. Jahrhunderts die Vielregiererei und den Utilitarismus der dazugehörigen Wissenschaften angeprangert hatten, verlor die Politikwissenschaft ihre überragende Bedeutung. Zuerst schmolz sie auf die bedeutende liberal-bürgerliche Verfassungslehre zusammen, bis sie zum Ende des 19. Jahrhunderts fast ausnahmslos aus den Universitäten verschwand.

Vorsichtige Neugründungsversuche gab es von liberal gesinnten Wissenschaftlern in der Weimarer Republik. Zu einem demokratischen Staat sollte auch eine demokratische Erziehung der politischen Elite gehören. Aus dieser Einsicht ging etwa die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin hervor, bis sie unter den Nationalsozialisten als „Auslandswissenschaftliche Fakultät“ in die Berliner Universität integriert wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg gelang der Neugründungsversuch dann endgültig: besonders die Amerikaner drangen im Rahmen der „Reeducation“ auf die Etablierung einer normativ anspruchsvollen „Demokratiewissenschaft“, wie das Fach offiziell hieß. Die Deutschen sollten demokratisiert werden – praktisch, institutionell aber auch geistig. Diesem Ziel verschrieb sich die Politikwissenschaft der ersten Jahre der Bundesrepublik.
Spätestens in den 1980er Jahren rückte das Fach von diesem Gründungsimpuls stückweise ab. Die Politikwissenschaftler verstanden sich immer mehr als Vertreter einer „modernen Sozialwissenschaft“, die sich methodisch eher an den Naturwissenschaften orientierte als an philosophischen Traditionen des Fachs. Neben den Institutionen und Prozessen der Politik rückten vor allem einzelne Gebiete, wie etwa die Arbeitsmarkt-, Bildungs-, oder Gesundheitspolitik in den Mittelpunkt. Die Politikwissenschaft wurde dadurch professioneller, aber sie verlor ein Stück weit auch das Gespür für die kritische Beschäftigung mit der Gegenwart. Die Sicherung und Vermittlung demokratischen Denkens stand nicht mehr im Mittelpunkt der Bemühungen.
Gefahr der Hybridisierung
Der Politischen Theorie kam in dieser Lage die Aufgabe zu, die sich verstärkende empirisch-analytische Ausrichtung des Fachs auszugleichen, indem sie die Traditionsbestände politischen Denkens pflegt und zur Begriffsbildung beiträgt. Während sich weite Teile des Fachs spezialisierten, einzelne Segmente der Gesetzgebung untersuchten oder versuchten, das Wahlverhalten vorherzusagen, bemühte sich die Politische Theorie darum, nach den ideellen Grundlagen des Gemeinwesens zu fragen. Auf diese Art konnte sie auch die empirische Forschung inspirieren, indem sie etwa dazu aufforderte, die veränderten Bedingungen der Willensbildung in Zeiten von Massenmedien zu untersuchen. So gehörte es weitgehend zum Konsens der Vertreter des Fachs, dass die Politische Theorie einen legitimen und notwendigen Platz im Kanon der Politikwissenschaft einnimmt – sowohl in der Forschung als auch in der Lehre.
Doch diesen Konsens sehen einige inzwischen angegriffen. Franz Decker, Professor an der Universität Bonn, und der Extremismusforscher Eckhard Jesse beklagten etwa 2016 in dieser Zeitung eine „Amerikanisierung“ und „Versozialwissenschaftlichung“ des Fachs sowie die Dominanz quantitativ-statistischer Methoden. Politische Interaktionen würden nicht mehr „gedanklich-argumentativ rekonstruiert“, sondern „gemessen“ werden. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie bemängelte anlässlich des Kongresses der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft im September 2018, dass die Politologie „vor lauter empiristischen Datenbäumen den Wald nicht mehr“ sehe. Der verstehende Blick auf die Probleme der Gegenwart, vom Populismus bis zur Zunahme autokratischer Regime, sei dabei auf der Strecke geblieben. Andere Wissenschaftler halten dagegen. Thomas König, Professor für Politikwissenschaft in Mannheim, wies die Vorwürfe als unhaltbar zurück. Eine Mehrheit der deutschen Politikwissenschaftler unterliege keinen Amerikanisierungstendenzen beschäftige sich durchaus mit gesellschaftlich relevanten Fragen.

Zumindest in der Forschung hat sich der Streit inzwischen wieder beruhigt. Viele Differenzen bleiben, aber sie werden für überbrückbar gehalten. „Es gibt beispielsweise eine enge Zusammenarbeit der Politischen Theorie und der Internationalen Beziehungen in Fragen der Legitimität im Staatensystem“, betont Rainer Schmalz-Bruns, Professor für Ideengeschichte und Theorien der Politik in Hannover. Wann können Völker legitimerweise einen eigenen Staat für sich beanspruchen? Worauf kommt es an, wenn sie von anderen Staaten akzeptiert werden wollen? Diese Fragen sind zum Beispiel im Hinblick auf die Situation der Kurden in der Türkei aktuell – und sie zeichnen sich dadurch aus, dass theoretische und empirische Erwägungen eng verflochten werden müssen. Auch wenn die Kooperationsbedingungen aufgrund des Publikationszwangs und der Abnahme des allgemein-ideengeschichtlichen Bildungshorizonts härter geworden seien, so Schmalz-Bruns, bemühe man sich gerade in Sonderforschungsbereichen und Exzellenzclustern um gegenseitigen Austausch. „Die Warnung vor einem methodologischem Schisma, wie es in der Soziologie zu beobachten ist“, sei für die Politikwissenschaft „überzogen“. Dort hatte sich jener Teil des Fachs abgespalten, der eher auf quantitative Forschung setzt und eine eigene Organisation, die Akademie für Soziologie, gegründet.
Wie sieht es nun in der politikwissenschaftlichen Lehre aus? Immer mehr Jugendliche drängen, auch unter dem Eindruck der politisierten Gegenwart, an die Universitäten, um sich einem Studium der Politikwissenschaft zu widmen. Ungefähr 1600 mehr Studenten des Fachs gab es 2018 im Vergleich zum Vorjahr – ein prozentual höherer Zuwachs als bei der deutschen Gesamtstudentenzahl. Wie reagiert die Lehre auf diesen Aufschwung?
Jenseits der eigenen Scheuklappen
Die größere Nachfrage nach normativen und gegenwartsrelevanten Fragestellungen hallt im universitären Lehrbetrieb nur sehr bedingt wider. Nicht mal ein Fünftel aller politikwissenschaftlichen Professuren an deutschen Universitäten widmen sich Politischer Theorie oder Ideengeschichte. An der Universität Mannheim, die in deutschen Rankings regelmäßig als eine der besten im Bereich Politikwissenschaft abschneidet, existiert nicht mal ein Lehrstuhl für Politische Theorie. Hinzu kommt, dass nicht wenige Neubesetzungen an ehemals geisteswissenschaftlich ausgerichteten Lehrstühlen einer „Hybridisierung“ unterliegen, also mit anderen Teilbereichen der empirischen Politikwissenschaft vermischt werden. So trägt etwa der entsprechende Lehrstuhl an der Technischen Universität Dortmund den Namen „Politische Theorie und Internationale Beziehungen“ und an der Universität Konstanz „Policy-Analyse und politische Theorie“.
Die Bedeutungseinbußen der eher geisteswissenschaftlichen Traditionsbestände des Fachs haben auch institutionelle Ursachen: Seit den Bologna-Reformen haben sich die Universitäten vermehrt darauf konzentriert, auf zukünftige Berufe vorzubereiten und hierfür praktische Fähigkeiten wie den Umgang mit Statistikprogrammen zu vermitteln. „Die praktische Neuausrichtung der universitären Lehre trifft die Politische Theorie besonders“, beklagt Marcus Llanque, Professor für Politische Theorie in Augsburg. Für breite philosophische Diskussionen und ausführliche Lektüre von Klassikern bleibt immer weniger Platz, denn sie lassen sich nur bedingt in standardisierten Multiple-Choice-Klausuren abfragen. Außerdem, so Llaqnue, hätte die „Vermischung der Disziplinen in den Seminaren“ stark abgenommen. Früher hätte die Politische Theorie stärker davon profitiert, dass Politikwissenschaftsstudenten mit Philosophie-, Soziologie-, oder Geschichtsstudenten gemeinsam in vielen Lehrveranstaltungen gesessen hätten, weil sich die Themen überschnitten haben. Das sei heute kaum mehr der Fall.

Hinzu kommt, dass die Verkürzung des Abiturs und der Regelstudienzeit eine viel breitere Einführung in ideengeschichtliche Kontexte notwendig gemacht haben, um die Studenten überhaupt an die Teildisziplin der Politikwissenschaft heranzuführen. Gegenwärtig, so Professor Schmalz-Bruns, führe das „Zusammenschrumpfen der Zeit“ dazu, dass die anderen Teilgebiete, wie etwa Internationale Beziehungen oder Vergleichende Regierungslehre, den Studenten „leichter zugänglich“ erschienen, weil sie nur wenige Vorerfahrungen im Umgang mit geisteswissenschaftlichen und philosophischen Methoden und Begriffen gesammelt hätten.
Aber welche praktischen Probleme ergeben sich für die Studenten, wenn der Anteil der polittheoretischern Bildung in den Bachelor- und Mastercurricula weiter zurückgeht? Immerhin arbeitet ein Großteil von ihnen nach dem Studium für Ministerien, Nichtregierungsorganisationen, Parteien oder Beratungsunternehmen – wozu kann dort eine intime Kenntnis der politischen Philosophie Platons dienen? „Gerade in den heutigen Zeiten“, sagt Llanque, komme es darauf an, ein „theoretisches Interesse jenseits der eigenen Scheuklappen“ zu entwickeln. Wie filtern wir Informationen, wie kommen wir zu verlässlichem Wissen, welche Gefahr stellt das Aufkommen des Populismus für die republikanische Ordnung dar? In Zeiten von „Fake News“, der Manipulation von Debatten im Netz und einer grassierenden Unzufriedenheit mit demokratischen Institutionen sind diese Fragen hochaktuell – und nicht ohne ausführliche Begriffsarbeit zu beantworten. Noch so eine aktuelle Frage: Unter welchen institutionellen Bedingungen kann eine transnationale Demokratie wie die Europäische Union besser gelingen?
Um die drängenden Fragen der Gegenwart zu beantworten, scheint neben der Vermittlung empirischer Forschung auch eine ausführliche Neulektüre der Klassiker des politischen Denkens unabdingbar. So kann man etwa in der platonischen „Politeia“ eine Theorie der Demagogie finden, die erstaunlich nahe an der, kürzlich in der F.A.Z. veröffentlichten, Populismusanalyse des Politikwissenschaftlers Torben Lütjen liegt. Beide schildern plausibel, wie die Ablehnung jedweder Autorität und ein überzogener Geltungsanspruch zur Bedrohung für die Demokratie werden kann. Platon als dialektischer Theoretiker des Populismus? – Darauf kann man nur kommen, wenn man ihn im Studium denn gelesen hat. Eine empirisch vereinseitigte Wissenschaft „macht sich unnötig dumm“, sagt Schmalz-Bruns. Diese Gefahr gilt auch für die Lehre, wenn sie die geisteswissenschaftliche Tradition des Fachs weiter in den Hintergrund rücken lässt.
Ein schöner Artikel
Herzlichen Dank, lesenswert und informativ.
Beste Grüße
Alexander Wuttke (auch Universität Mannheim)
Autor
Lieber Herr Wuttke,
wie schön, dass der Text auch dort gelesen wird, wo ich studiere!
Vielen Dank und viele Grüße
Oliver Weber
tschüss platon
Hallo liebe herrenrunde. Danke, lieber autor, auch ich finde die politische Theorie ist wichtig und ehrlich gesagt der spannendste teil eines politik- oder Philosophiestudiums. Na und dann sieht man was dagegen spricht: in der kommentarspalte wird die humanistische bildung gepriesen und diskutiert ob platon oder Aristoteles besser geeignet ist… Ganz ehrlich: platons idee des gerechten staates können wir vergessen. Hobbes &locke- haben ihre theorien mit hilfe von konstrukten erdacht, die für demokratische Legitimation 2019 einfach unterkomplex sind. State of nature- really? Die politische Theorie muss endlich flexibler werden und ihre Ideengeschichte kritisch beleuchten. Platons denken ist geprägt von einer Hierarchiersierung des menschlichen Geistes und der Gesellschaft, die sehr rigide und bizarr erscheint. Rousseau erträumte sich eine demokratische gesellschaft, die in einem fiktiven legitimationsprozess das Jawort gibt. Klar kann man das gerne an der Uni lesen- aber bitte nicht mit bibeltreuer haltung. Die westliche Ideengeschichte muss sich selbst hinterfragen um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen- und sich weiterzuentwickeln.
Autor
Hallo lady bag,
vielen Dank für deine Einwände. Schön, dass wir darin übereinkommen, dass die Politische Theorie einen zentralen Platz innerhalb der Politikwissenschaft einnehmen sollte – das war das Hauptanliegen dieses Textes.
Bezüglich Platon kann ich Ihnen nicht zustimmen. In dessen Philosophie sehe ich weder eine »Hierarchiersierung des menschlichen Geistes und der Gesellschaft«. Dass wir die Ideengeschichte kritisch betreiben sollten, da stimme ich mit Ihnen überein – aber gerade angesichts dieses Anspruchs scheint es mir vermessen, Doxographien zum Maßstab eines so vielschichtigen, klugen und interpretationsbedürftigen Autors wie Platon zu erheben.
Vielen Dank und viele Grüße
Oliver Weber
Die politische Theorie der Aufklärung
Auch wenn ick, als ehemaliger Student der Phiolosophie (mit Schwerpunkten MEthyphysik/Ontologie, sowie politische Philosophie), mich ebenso mit Platon und Aristoteles beschäftigt habe (meist, wie die bei den folgenden Autoren auch, außerhalb des Studienangebots), ist mir doch vor allem die Aktualität der politischen Theorien der Aufklärung, allen voran Rousseau, Montesqiueu, Kant in Bezug auf die aktuellen Entwicklungen der liberalen Demokratien hin zu den sogenannten illiberalen Demokratien. Hätten Studierende wie Dozierende Zeit sich unabhängig (ideologisch, temporär, monetär) mit diesen Autoren zu beschäftigen und dabei nicht nur darauf zu achten, was die einzelnen Autoren Wort für Wort geschrieben, sondern im großen Kontext gedacht haben, hätten wir heute viel mehr Lösungsvorschläge für die politischen Probleme, vor denen wir stehen.
Generell erscheint mir die heutige Politikwissenschaft viel zu sehr an der Gegenwart orientiert, d.h. sie scheint “vergangene” Theorien (Bsp. Gewaltenteilung) nicht weiter zu entwickeln, sondern viel mehr immer wieder neue, von alten Theorien unabhängige, Lösungen zu entwickeln. Dabei wird aber die Fähigkeit der Politikwissenschaft, bzw. Politischen Philosophie, politische Systeme für längere Zeiträume zu entwickeln (als zu entwickelnde Systeme seien hier eine internationale Ordnung, die über die bestehenden Strukturen der UNO hinausgeht, oder generell eine Überarbeitung/-prüfung der liberalen Demokratien des letzten Jahrhunderts genannt).
Grundsätzlich scheint der positive Blick in die Zukunft in diesem Fachgebiet zu fehlen, wobei aus den Fehlern der Vergangenheit (praktische wie theoretische) gelernt wird, wie er besonders im Zeitalter der Aufklärung vorhanden war.
Veritas
Ein sehr schöner und wahrer Artikel. Neben der Philosophie ist die Politikwissenschaft das einzige Studienfach, in dem die Weisheiten der Griechen bis heute erhalten bleiben. Während sich die Philosophie gerne mal in Ontologie oder Logik verästelt, geht es in der Politische Philosophie um Fragen von Mensch und Gesellschaft. Wer sich einmal darauf eingelassen hat, hat eine moralische Grundlage seines Handelns. Der Mangel an ökonomischer Nützlichkeit und (unmittelbar) fehlender Nachprüfbarkeit ist aber leider gegen den Zeitgeist. Die Folge? Die politische Theorie wandert ab in die Philosophie. Bestes Beispiel: Der brillante Julian Nida-Rümelin war früher an der Münchner LMU Professor für Politische Theorie, seit einigen Jahren ist er aber am Institut der Philosophie. Mit der im Artikel beschriebenen Entwicklung verliert die Politikwissenschaft viele Menschen die über Grundlagen nachdenken, schade!
Die einzigen Studienfächer?
Auch die – übrigens von Platon sehr geschätzte – Mathematik stützt sich bis heute sehr gerne auf die “Weisheiten der Griechen”. Namen wie Thales, Pythagoras, Euklid und Archimedes sollten einigen noch aus der Schule bekannt sein.
Bekannter Niedergang in einer Welt ohne nenneswerte Wertesysteme ausser der Gier nach Geld und Macht
Treffender Beitrag! Naja, das humanistische Bildungsideal ist schon lange tot. Vor Hitler hats uns nicht bewahrt. Also: weg damit. Es lebe die Empirie! Aber: Ohne normative Peilung ist alles und nichts. Naturzustand als Normalzustand. Empirische Studien sind besser, da so schön wertfrei, mit ein paar statistischen Kennzahlen und Berechnungen per Software ist man schnell fertig. Wieder ein Artefakt. Mathe ist schön, da so wertfrei, man diskutiert “Methodik”. Wer sich den seichten Kram bei den Volksvertretern anhört, findet den allgemeinen Niedergang von Bildung und Geisteswissenschaften bestätigt – geistloses Gelaber.
Gegenfrage
Wie viele Politikwisschaftler braucht Deutschland? IMHO sollte jeder, der auf Kosten der Allgemeinheit (Bafög, Studentenwohnheime etc) studieren will jedes Semester darlegen, wie er später seinen Lebensunterhalt bestreiten will. Wenn man nicht gerade zu den top X Prozent in einem wirtschafts-irrelevanten Fach gehört, die eine Aussicht auf eine Professorenstelle haben und nicht auf Lehramt studiert, dann schadet man nicht nur sich selber, sondern auch der arbeitenden Bevölkerung, die einen finanziert.
Viele Studenten wählen ihr Studium einfach nur weil sie in der Schule in einem Fach gut waren oder sich dafür interessiert haben. Dann haben sie jahrelang einen Tunnelblick und ignorieren die Realität, jedenfalls solange das Bafög-Amt oder die Eltern zahlen. Und dann kommt die harte Realität.
Allgemeinbildung gehört in die Schule, aber Studium sollte immer zielorientiert sein.
Platon-Büsten werden es nicht richten.
Die “Politeia” ist in der Tat ein derart komplexes Gebilde, daß es kaum möglich scheint, den Text mit einem Seminar im Lauf eines Semesters zu erarbeiten; für diesen Betrieb ist das Buch nicht gemacht. Zudem ist es nicht einfach, die Frage zu beantworten, was der Raum, in dem sich heute die politischen Fragen stellen, mit dem Erfahrungshorizont Platons und vor allem mit dem Projektionshoriizont der in diesem “klassischen” Text als wünschenswert vorgestellten Fragen zu tun haben mag.
Deutlich besser geeignet als Einführung in die klassische Tradition politischen Denkens in Europa – und auch inhaltlich noch weniger verzichtbar als die “Politeia” – erscheint mir die aristotelische “Politik”. Nicht nur ist die analytische Matrix der Herrschaftsformen (Monarchie bzw. Tyrannis, Aristokratie bzw. Oligarchie, Demokratie und “gemischte Verfassung”) sowie die Theorie des geschichtlichen Wandels bzw. Umschlags der einen in die andere hier besser ausgearbeitet als bei Platon, sondern Aristoteles entwickelt auch grundlegende anthropologische und gesellschaftstheeoretische Überlegungen über Formen des Zusammenlebens und Kriterien für die insbesondere als “politisch” zu bezeichnenden Verhältnisse. – Und man muß ihn kennen, um zu verstehen, was Hobbes damit meinte, als er schrieb, Aristoteles sei bereits im Ansatz verfehlt…
Was aber die nächste Generation der Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler, die in Deutschland gerade ausgebildet wird, angesichts der auf sie zukommenden politischen Herausforderungen – nicht statt Kenntnissen in der Tradition “abendländischen” politischen Denkens, doch neben ihr – auf jeden Fall auch brauchen wird, ist ein Wissen mindestens von Konfuzius und der chinesischen Tradition der Regierungslehre und möglichst auch von Ibn Chaldun und islamischer politischer Philosophie, und zwar nicht nur vom Hörensagen, sondern aus eigener intensiver Auseinandersetzung.
Dies ist erstmal nicht mehr als eine unmaßgebliche Meinung eines Fachfremden, der “Politische Philosophie” nicht im Rahmen von politikwissenschaftlichen Studiengängen unterrichtet hat, wohl aber für Studierende der Philosophie und anderer geistes- und sozialwissenschaftlicher Studiengänge.
Selbstverständlich liegt es an den Fachvertretern, selbst festzulegen, was ihrer Ansicht nach unverzichtbar ist und in die Modulhandbücher geschrieben wird. Aber vielleicht gibt es ja eine Diskussion im Fach. Zu wünschen wäre es den Studierenden – und uns allen, die wir mit den Absolventen dieser Studiengänge in der einen oder anderen Position noch eine Weile werden auskommen müssen.