Die Feldforschung ist das Alleinstellungsmerkmal der Ethnologen. Was heute unter diesem Begriff läuft, ist jedoch zum Teil absurd und zeugt von einer politischen Scheu, auf aktuelle Themen zu reagieren.
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Bronislaw Malinowski, der „Vater der Feldforschung“, würde sich im Grabe umdrehen, würde er sehen, was heute alles als solche deklariert wird. Während er noch zur Zeit des ersten Weltkrieges – wenn auch nicht ganz freiwillig – dreieinhalb Jahre lang auf den Trobriand-Inseln in der Südsee saß und die Menschen dort bis ins Detail studierte, gilt es heute bereits als „Feldforschung“, eine Weile im Tattoo-Studio des Kumpels zu sitzen und ihm beim Stechen zuzusehen oder sich in einem der neuesten Felder der Faches, der Online-Ethnologie, umzutreiben und für seine Bachelorarbeit acht Wochen lang intensive Studien auf Tinder zu betreiben. Und selbst diejenigen, die sich der Grundkompetenz der Ethnologie erinnern und ihre Forschung ins Ausland verlagern, betreiben dort zum Teil wundersame Studien: über das private und öffentliche Leben sibirischer Rentierhalter, praxistheoretische Überlegungen zum Fahrradfahren in Mexiko oder Untersuchungen über die Generationslücken vietnamesischer Buddhisten in der Schweiz.
All diese Forschungen haben innerhalb ihrer beschriebenen Kultur sicherlich ihre Relevanz und Berechtigung und liefern für die Kollegen oder Kommilitonen an der Universität einen womöglich interessanten Beitrag – doch außerhalb des zahlenmäßig eher beschaulichen ethnologischen Universums fragt man sich, was man damit anfangen soll. Nutzen und Sinn solcher Forschungen werden innerhalb der Ethnologie wenig kritisch hinterfragt – im Gegenteil, die fachinternen Diskussionen, die Forscher auslösen, welche sich in ein zu brisantes Gebiet vorgewagt und daraus ein politisches Statement abgeleitet haben, wirken eher abschreckend auf viele angehende Ethnologen.

“Feldforschung” bedeutet aus der Perspektive der deutschen Ethnologie im ursprünglichen Sinne, sich über einen längerfristigen Zeitraum hinweg (mindestens ein paar Monate) an einem zumeist außereuropäischen Ort aufzuhalten und dort auf Grundlage der exklusiv ethnologischen Methode der „teilnehmenden Beobachtung“ mit der einheimischen Bevölkerung zu leben und einer Forschungsfrage nachzugehen. Von der Untersuchung einer eher kleinen Einheit vor Ort soll bestenfalls auf größere Zusammenhänge geschlossen werden. Auch das Oxymoron der “teilnehmenden Beobachtung” geht auf Malinowski zurück und ist heute noch die Forschungs-Maxime der Ethnologie. Die „längerfristige stationäre Feldforschung außerhalb des westlichen Raums“ hingegen ruft bei vielen Studenten heute Bilder früher Forscher hervor, die von Kolonialregierungen dafür bezahlt wurden, etwas über „die Wilden“ in „ihrem“ Land herauszufinden und sich dann ihren halben Hausstand von denselben durch den Busch tragen ließen, um ein Jahr im Kongo Gin gegen Malaria zu trinken.
Durch die Veröffentlichung seiner Tagebücher, die ein ganz anderes Bild seiner Forschung zeigen als seine wissenschaftlichen Arbeiten, fiel die Autorität des Feldforschungsvaters Malinowski höchstselbst Ende der 1960er Jahre in sich zusammen und stürzte die Ethnologie in eine tiefe Krise. Selbst Ergebnisse, die in monatelangen Detailstudien vor Ort gesammelt worden waren, wurden nun mitsamt dem Konzept der Feldforschung in Frage gestellt. Von dieser Sinnkrise hat sich das Fach bis heute nicht wirklich erholen können. Kleine und kleinste Einheiten werden noch immer untersucht, aber größere Theorien oder Zusammenhänge getrauen sich die wenigsten zu entwerfen.
Bei Studien zu Rollenspielen kann man einfach weniger falsch machen

Bei all den eher abwegigen Betätigungsfeldern ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Ethnologie von sämtlichen anderen Disziplinen nach wie vor belächelt oder schief angeschaut wird. Galt sie schon früher sogar unter den Geisteswissenschaften als eher „komischer Kauz“, weiß heute kaum einer mehr genau, was Ethnologen eigentlich die ganze Zeit treiben, und auch die Lektüre von Studienergebnissen mit Titeln wie „The United Nations of Football. South-South Migration, Transnational Ties and Denationalization in the National Football Teams of Equatorial Guinea and Togo“ verschafft Nicht-Ethnologen wenig Klarheit. Dementsprechend hat sich das Fach, nachdem es in den 1960er und 1970er Jahren eine Zeitlang en vogue war, im 21. Jahrhundert eher wieder zum Orchideen-Fach zurückentwickelt. Den Bachelor beginnen einige derjenigen, die bei der Studienfachsuche nach „Irgendwas mit Kultur“ zufällig auf Ethnologie stoßen, dann ebbt die Begeisterung oft ab, bis im Master-Studium nur noch fünfzehn Leute im Seminar sitzen.
Viel mehr Plätze werden an den meisten deutschen Universitäten ohnehin nicht vergeben, denn einen Master in Ethnologie zu absolvieren bedeutet, dass man für einige Monate „ins Feld“ geschickt wird (was im Bachelor nicht an allen Instituten der Fall ist). Diese Art der Studienleistung erfordert eine umfassende Betreuung und ist auch mit nicht unerheblichen Kosten verbunden – was wohl einer der Gründe für die absurden Blüten ist, welche die Forschungen der Studenten treiben. Denn immer weniger Institute stellen das Geld für die vier Monate in Asien, Afrika oder Australien zur Verfügung. Da nicht jeder ein Auslandsstipendium erhält, ist es für viele angehende Ethnologen einfacher, auf ihre große Forschung im außereuropäischen Feld zu verzichten und hierzulande Science-Fiction-Communities oder Yoga-Studios zu untersuchen.

Das ist schade, denn es gibt durchaus Gegenbeispiele sehr inspirierender Forschungen aus der Entwicklungs-, Medizin- und Religionsethnologie oder auch der Migrationsforschung, die zeigen, dass der Grundansatz der Ethnologie – die teilnehmende Beobachtung eines nicht allzu weit gefassten Forschungsgegenstands und -ortes – neue Perspektiven auf aktuelle Probleme liefern kann. So gibt es etwa im Bereich der Migrationsforschung neben recht vielen gewinnbringenden Arbeiten im europäischen Kontext erschütternde ethnologische Studien über auf dem Weg durch die Sonora-Wüste in die Vereinigten Staaten gestorbene Migranten und die Umstände dieser Tode, oder Forschungen zu den Fluchtwegen nigerianischer Migrantinnen – auch wenn hinsichtlich der Themen Flucht und Migration schon wieder eine verschüchterte Debatte darüber im Gange ist, ob und inwiefern hier Ethnologen wirklich etwas beizutragen haben.
Während der Ebolakrise war dann zum Beispiel das Wissen von Medizinethnologen gefragt, die zwischen einheimischer Bevölkerung und westlich-medizinischem Personal vermittelten. Auch wirtschaftsethnologische Forschungen wie Studien zu Wasserressourcen in Afrika zeigen, dass die ethnologische Beschäftigung mit den richtigen Feldern zu wichtigen Ergebnisse auch in größeren, globalen Zusammenhängen führen kann.

Und dennoch kommt es auch im Zusammenhang solch vorbildlicher Forschungen selten zu wirklich greifbaren Aussagen oder gefestigten, womöglich gar politischen Statements von Seiten des Ethnologen. Ausnahmen wie David Graebers Monumental-Angriff auf den Kapitalismus bestätigen die Regel, da sie, wie in Graebers Fall, durchaus den Lehrstuhl oder das Ansehen der Kollegen kosten können. Wieso sollten also Studenten oder angehende Doktoranden die Missgunst ihrer Professoren auf sich ziehen, indem sie sich in brisante Felder wagen und ihre Forschungsergebnisse in radikalere Lösungsvorschläge oder Thesen packen? Wenn etwa bei entwicklungsethnologischen Studien erst zwei Seiten darauf verwendet werden müssen, den Begriff der „Entwicklung“ politisch korrekt zu klären, ist es wenig erstaunlich, dass sich viele Ethnologen nicht mehr trauen, eine innovative These zu formulieren, durch die sie irgendjemandem auf die Füße treten könnten. Bei Studien zu Rentieren, Kontaktanzeigen oder Rollenspielen kann man einfach weniger falsch machen.
Zum Glück haben viele Ethnologie-Studenten das immer stärker werdende Bedürfnis, ihre fachlichen Kenntnisse für aktuell relevante Probleme einzusetzen und forschen zu Racial Profiling, Menschenrechten in Südafrika oder lokalen Wirtschaften in transnationalen Zusammenhängen. Wenn sie es wagen, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in gehaltvolle Aussagen zu verpacken, ohne um ihre akademischen Karrieren fürchten zu müssen, könnte die Ethnologie endlich wieder aus ihrer selbstgewählten Abseits-Ecke herauskommen und den öffentlichen Diskurs in vielen relevanten Feldern bereichern.
Relevant ist doch die Fragestellung
Welches Erkenntnisinteresse soll befriedigt werden? Als Anthropologe favorisiere ich ultimate Fragen; Fragen nach dem evolutionären Überlebenswert, der Qualität, die genau diese Kultur unter diesen Bedingungen erfolgreich mancht(e). Solche memetischen Ansätze könnten der Ethnologie neue Impulse geben. Damit wäre auch eine theoriegeleitete anstelle der deskreptiven Forschung möglich.
Die biologische Verhaltensforschung (Ethologie) stand nach dem Scheitern des Behaviourismus vor ähnlichen Problemen, sie lieferte unterhaltsame Annekdoten aber kaum Erkenntnis. Mit der Soziobiologie konnte ein neuer Theroierahmen mit großer heuristischer Potenz geschaffen werden.
Die memetische Kulturtheorie, so lückenhaft sie bislang auch formuliert sein mag, verspricht eine vergleichbare Chance für die Ethnologie.
Die zwei Ethnologien, die eine Menschenwissenschaft
Liebe Frau Wilhelm,
ihrem Intro, dass viel relativ absurde Pseudo-Feldforschung getrieben wird, stimme ich voll zu. Allerdings kann ich diesem zweimal erwähntem Wunschbild, aus Forschungen “politische Statements” abzuleiten, wenig abgewinnen. Inwiefern verraten politische Statements eines Ethnologen, dass jemand relevanter geforscht und bessere Feldforschung gemacht hat? So wie sich die Old-School-Ethnologen wie Malinowski (angeblich) durch ihre Tagebücher diskreditiert haben (das reale Leben ist halt immer mehr “messy” als der Forschungsbericht und reale Menschen, auch Forscher, sind halt selten heiligmäßige Gestalten), so hat das die “Action Anthropology” der 60er und 70er durch ihren als Wissenschaft verbrämten Aktivismus bzw. durch die Verwendung politischer Haltungen als Forschungsaxiome getan. “Politische Statements” als Forschungs-Ziel verkleistern den Abgrund zwischen “Sein und Sollen” und führen meist zu schlechter Forschung, da das politische oder moralische Ziel (das meistens mehr oder weniger vorher feststeht) den Blick lenkt. Da lässt man doch schmutzige Fakten eher unter den Tisch fallen (auch das lehren nicht-wissenschaftliche Schriften von Ethnologen und Ethnologinnen, wie M. Mead). Mir würden eigentlich schon Ethnologen reichen, die in der Lage sind, (kultur-)anthropologische Theoreme aufzustellen. Oder prüfbare Modelle erstellen. Oder plausible Erklärungen für kulturelle Praktiken.
Übrigens ist teilnehmende Beobachtung spätestens seit den 60ern auch eine Methode der (qualitativen) Soziologie und die Beschränkung der Ethnologie auf das “Außereuropäische” sehr kalter Kaffee und logisch-sachlich gar nicht begründbar (eher Disziplin-politisch). Der Soziologe kann soziale Mobilität in Botswana studieren und der Ethnologe die Praktiken von U.S.-amerikanischen “Snake Handler”-Kirchen, warum nicht? Oder umgekehrt.
Auch gab es bei den Ethnologen immer schon die Trennung zwischen den eher einzel-kulturell ausgerichteten Feldforschern (oft auch “Fans” einer gewissen Kultur / Ethnie) und den kulturvergleichend-ausgerichteten ethnologischen Wissenschaftlern, die meist sehr gut ohne Feldforschung auskamen und auskommen, da sie größtenteils Meta-Analysen von bestehendem Datenmaterial durchführen. Schon vor über 100 Jahren wurden kulturelle Variablen verschiedener Kulturen datentechnisch so miteinander in Bezug gesetzt, um daraus (auch “brisante”) Schlüsse bzw. Zusammenhänge abzuleiten (https://en.wikipedia.org/wiki/Standard_cross-cultural_sample). Meine Erfahrung ist aber, dass die einzelkulturell interessierten Ethnologen und diese interkulturell bzw. “anthropologisch” interessierten Ethnologen kaum Berührungspunkte haben. Und man schätzt sich auch nicht. Insofern gibt es (mindestens) zwei Ethnologien und Sie beschreiben nur die Erste, irrelevantere.
Als ich in den 80ern Ethnologie (“Völkerkunde”) studierte, war ich eigentlich an “Anthropologie” als universalistischer Wissenschaft vom Menschen interessiert. So etwas gab es aber nicht in Deutschland als studierbare Disziplin, da z.B. die physische Anthropologie durch “Rassenanthropologen” diskreditiert war und sich seitdem niemand mehr an das “biokulturelle Niemandsland” wagte, wie es mein Lehrer, Professor Tschohl (Lesetipp: https://www.jstor.org/stable/25841657), nannte.
Eine Veranstaltung zu den biologischen Grundlagen kultureller Praktiken war in den 80ern (und wahrscheinlich auch heute) kaum möglich (und höchst verdächtig), weil es solche gar nicht geben durfte. Da waren die Anthro-Hippies in den US weiter, schließlich hatte Tim Leary ein Handbuch für den Gebrauch des menschlichen Nervensystems nach den Spezifikationen des Herstellers herausgegeben (allerdings vom Hersteller unauthorisiert)!
Grüße, ein als IT-ler arbeitender Ethnologe
Na, die 100 Jahre nehme ich zurück, 50 sind es ;-)
Fachfrühling
Hallo, mit der Tagesaktualität ethnologischer Forschung bin ich stark auf dem Kriegsfuss, schließlich wendet diese sich sehr stark nach massenmedial eingeleiteten Fkokusbildung. Die Ethnologie sollte sich da nicht zum Büttel machen. Viel eher diese Einschränkungen ergänzen und erweitern, gerade wenn mal wieder der reduktionistische Rasenmäher durch die öffentliche Debatte fährt. Also, alles über einen Ausbeutung-, Kapitalismus-, Kommunismus-, Globalismus-, … -Kamm scheert.
Weder die Ethnologie, noch ihre Schwesterfächer sollten sich zu Anekdotenlieferanten herabwürdigen (lassen), oder sich als Zulieferer für politisches Geltungsstreben andienen (mißbrauchen). Langfristige Feldforschung ist die einzig verläßliche Methode zur Datenerhebung vom kulturellen Leben des Menschen in all seinen Höhen und Tiefen, Schönheiten und Abgründen oder einfach nur Alltäglichkeiten. Ein wenig mehr Stolz in der Brust und darauf aufbauenden Mut zum Entwurf von anthropologischen Erkenntnismodellen fände ich in unserem Fach mehr als angebracht.
mbG