Friedrich Schlegel ist in Hannover geboren. Doch die Stadt kultiviert keine Erinnerung an den Romantiker. Welche Erkenntnisse lassen sich an der Leine noch gewinnen? Eine Spurensuche.
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Vor zwei Jahren bin ich nach Hannover gezogen und habe zur gleichen Zeit damit begonnen, in meiner Dissertation zur Frühromantik zu forschen. Dabei erfahre ich überraschenderweise: Friedrich Schlegel soll in Hannover geboren worden und aufgewachsen sein. Es gibt eine Verbindung zwischen dieser nüchternen Stadt und der vergeistigten romantischen Kultur. Doch ich habe noch nie etwas über die Jugendgeschichte Friedrich Schlegels gehört. Wie kommt es, dass die Stadt über ihren Sprössling schweigt? Mit dieser Frage im Kopf mache ich mich auf die Suche.
Der Vater, Johann Adolf Schlegel, das bekomme ich schnell heraus, war zur Zeit von Friedrichs Geburt im Jahr 1772 Pfarrer und Superintendent an der Marktkirche Hannover. Ich statte also der Kirche im Zentrum der Stadt einen Besuch ab. Mit einer Breite von 26 Metern und einer Höhe von knapp 100 Metern ist sie bei Weitem die größte Kirche der Landeshauptstadt. In ihrer Halle fällt es nicht schwer, das religiöse Denken Friedrich Schlegels wiederzufinden. Starke Säulen drängen steil nach oben und stützen das ausladende Gewölbe. Die Architektur erfüllt ihren Zweck. Sie ruft die Ahnung einer universalen Kraft hervor, die jenseits der bekannten Welt liegt und dabei doch alles bestimmt. Diese Gedanken gehen mir im Kopf herum, vielleicht sind sie etwas gesucht.
Durch diesen Eingang ging er täglich?
Der Stil der Kirche ist ansonsten nüchtern. Die Wände bestehen aus schlichtem Backstein, auf Verzierung oder Bemalung der Decke wurde verzichtet. Zu bedenken ist allerdings, dass das heutige Erscheinungsbild während des Wiederaufbaus 1945 entstanden ist. Der Architekt Dieter Oesterlen beschrieb die ästhetische Vorstellung des Entwurfs mit den Worten: „Das eigentliche Wesen und die Schönheit des Baues und seines Innenraumes liegt (…) in der schmucklosen Wucht und ruppigen Großartigkeit.“
Viel ist über den biographischen Abschnitt Friedrich Schlegels in Hannover nicht bekannt, das wird mir während der Recherche schnell klar. Es fehlen die Quellen. Und in der modernen Stadt ist nicht mehr viel aus dem 18. Jahrhundert erhalten, das sich mit Schlegel in Verbindung bringen lässt. Hannover wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. Der Wiederaufbau veränderte die Straßenführung. Doch auf dem Hanns-Lillje-Platz 3, so stellt sich zu meinem Erstaunen heraus, soll noch das Geburtshaus Friedrich Schlegels stehen. Darin befindet sich heute das Referat für Öffentlichkeitsarbeit der evangelischen Kirche Hannover. Ich rufe an und darf vorbeikommen.
Das Haus befindet sich direkt gegenüber der Marktkirche. Die Fassade vermittelt Historizität. Hier soll tatsächlich Friedrich Schlegel gelebt haben? Durch diesen Eingang ging er täglich? Das behauptet zumindest eine Gedenktafel. Doch es macht den Eindruck, als täte man sich schwer, an den Romantiker zu erinnern. Die Inschrift ist weit über Gesichtshöhe angebracht, die Frakturschrift ist nicht mit Farbe unterlegt. Man muss schon sehr genau hinsehen, um den Text zu erkennen.
Die Eltern sorgten sich viel um ihn
Die Büros sind im Erdgeschoss. Ich werde freundlich begrüßt und mir wird eine Reihe von Kontaktdaten vermittelt. Doch über die Schlegels selbst könne man nichts sagen. Meine Geschichte sorgt für etwas Neugierde aber auch für Irritation. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wir sind ja auch erst seit ein paar Jahren hier. Ach, das steht auf dieser Tafel …?“. Dann fordert das Tagesgeschäft wieder die Aufmerksamkeit – E-Mails beantworten, Telefonanrufe führen. Ich gehe allein in das Treppenhaus. In den Stockwerken befinden sich Wohnungen. Im Nachbarhaus gibt es eine Bibliothek, die sich auf Themen rund um die Religion spezialisiert hat. Aber auch hier keine Spur der Romantik.
Ich habe die Telefonnummer eines Historikers erhalten, der selbst lange am Hans-Lilje-Platz 3 gewohnt hat. Im telefonischen Gespräch erzählt er mir, dass das aktuelle Haus erst im Jahr 1844 erbaut wurde. Von den Räumen, in denen die Familie Schlegel lebte, ist also nichts mehr übrig. Er zeigt mir noch Grundrisse, Kirchenbücher und alte Schriften, er nennt verschiedene Quellen, Publikationen und Aspekte des historischen Wandels der Stadt. Doch es wird deutlich, dass sie mich meiner Grundfrage nicht näherbringen.
Was berichten die wenigen erhaltenen Dokumente über das Leben Friedrich Schlegels in Hannover? Er war das jüngste von zehn Kindern. Seine Eltern sorgten sich viel um ihn. Der Junge war körperlich schwach und in sich gekehrt. Im Alter von drei Jahren wurde er deshalb für ein Jahr zu seinem Onkel Johann August Schlegel, dem Pfarrer der St. Martini-Kirche, nach Rehburg am Steinhuder Meer gegeben.
Nach dem Tod des Onkels im Jahr 1785 kehrte Friedrich nach Hannover zurück. Die Familie hatte das Haus an der Marktkirche zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen und lebte auf der gegenüberliegen Seite der Leine. Der Vater war nun Pfarrer an der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis. Seit dem Dreißigjährigen Krieg wurde sie als protestantische Kirche für die Bediensteten des damals katholischen Hofs genutzt. Das barock gehaltene Gebäude steht in der Calenberger Neustadt, einem Stadtteil, der zur Erweiterung Hannovers im 17. Jahrhundert entstand.
In der Neustädter Kirche liegt Leibniz begraben. Friedrich Schlegel hat sich später mit dessen Schriften auseinandergesetzt. Er sah ihn einerseits als Vordenker, der wichtige Grundlagen für die Philosophie des späten 18. Jahrhunderts legte, andererseits sei er von Fichte überwunden worden. Mit Schleiermacher nahm Schlegel sich vor, einen „Anti-Leibniz“ zu veröffentlichen, wozu es schließlich aber nicht kam. Während seiner Zeit in der Neustadt wurde Friedrich von seinen Eltern in Geschichte, Geografie und Religion und von seinem Bruder August Wilhelm in Latein unterrichtet.
Die Quellen vermitteln das Bild eines ungleichen Brüderpaars, Friedrich und August Wilhelm. Der Jüngste gilt als launenhaft und chaotisch, aber auch als genial und inspiriert. Er hatte notorisch finanzielle Probleme und machte Schulden. „Fritz macht uns Not“, klagte seine Mutter. August Wilhelm hingegen scheint bereits als Kind diszipliniert, gut organisiert und fleißig gewesen zu sein. Bevor der ältere Bruder das Theologiestudium in Göttingen begann, besuchte er das Ratsgymnasium an der Marktkirche. Die Schule gibt es noch, sie ist seit dem 18. Jahrhundert aber schon zwei Mal umgezogen. Ich bin zuversichtlich, hier Informationen zu erhalten und vielleicht sogar auf ein lebendiges Gedenken der Schlegels zu stoßen. Doch eine Frau antwortet am Telefon des Sekretariats. „Wie bitte, Schlegel? Um welche Zeit handelt es sich? … Das 18. Jahrhundert? Nein, da können wir Ihnen nicht weiterhelfen.“
Ein ungleiches Brüderpaar
Ein zweites Mal wurde Friedrich im Jahr 1785 weg von seinem Elternhaus in Obhut gegeben. Die Aufgabe fiel diesmal dem ältesten Bruder Karl August Moritz Schlegel zu. Er war zu dieser Zeit Pfarrer an der St. Nicolai-Kirche in Bothfeld. Auch in diesem Fall bildet eine Kirche die materielle Verbindung zwischen der heutigen Stadt und Friedrich Schlegel. Das Kirchenschiff wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollständig erneuert, doch der Turm stammt noch aus dem 15. Jahrhundert. An einem wolkenbehangenen Tag fahre ich mit dem Fahrrad in den Randstadtteil. Glamourös oder auratisch ist es dort nicht. Die Kirche liegt an einer Hauptverkehrsstraße. Gegenüber stehen kleine Geschäfte, dahinter Plattenbauten. Hier wäre schon eine tiefgreifende qualitative Potenzierung nötig, um auf romantische Gedanken zu kommen.
Welche Bedeutung hatten die Eindrücke aus Hannover für Friedrich Schlegels späteres Leben und Schaffen? Auf welche Weise blieb er seiner frühen Jugend verbunden? Darüber lässt sich nur mutmaßen. Zu seiner Familie bestand einerseits ein affektives und pflichtbewusstes Verhältnis. Seinem Bruder schrieb er: „Denn als ich Dich umarmte, fühlte ich sehr stark, dass Du auch mein bist, weil ich Dich liebe. Den Rückweg nach Hannover war ich in herrlichem Taumeln.“ Den Bruder bat er auch, seine Eltern von der Richtigkeit seiner Entscheidung zu überzeugen, eine Stelle als Hofmeister in Amsterdam anzunehmen.
Die christliche Religion wird ihn bis ans Ende begleiten. Am Protestantismus schätzte er den kritischen Willen, den er sich zu eigen machte. Doch wandte er sich später von der protestantischen Tradition seiner Familie ab. Schon 1792 schrieb er: „Es ist gut, dass ich gegen meinen Vater Religion und gegen meine Familie Achtung ‘heuchle’, die ich nicht habe.“ Die Konversion zum Katholizismus im Jahr 1808 zeigt seine Bereitschaft, mit den Erwartungen der Familie zu brechen.
Der vergessene Romantiker
Das Interesse der Stadt Hannover an den Brüdern Schlegel ist gering. Auf ihrer Website wird in der Rubrik Auf den Spuren berühmter Dichter, Publizist*innen und Schriftsteller*innen die Marktkirche als Wirkungsstätte des Vaters erwähnt. Weitere historische Orte in Verbindung mit den Schlegels müssen Interessierte über Umwege und Quellenstudium finden. Die intellektuelle Gallionsfigur der Stadt ist Leibniz, der viele Jahrzehnte bis zu seinem Lebensende in der Stadt tätig war und etlichen öffentlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen Hannovers seinen Namen gibt.
Auf den Spuren Friedrich Schlegels begegnet man in Hannover vor allem funktional gehaltenen Nachkriegsbauten und erlebt einen gut geordneten Verkehr, an dessen Regeln sich Passantinnen und Fahrradfahrer genaustens halten. So mag es nicht verwundern, denkt man, dass hier dem mathematisch denkenden Philosophen der frühen Aufklärung und seiner „besten aller möglichen Welten“ gehuldigt wird, während der sprunghafte, immer drängende Romantiker in Vergessenheit geraten ist.
Durch die Recherche hat sich meine Wahrnehmung Hannovers verändert. Die Häuser werden für mich zum Anlass, mir eine andere Zeit vorzustellen. Unwillkürlich habe ich dann manchmal den jungen Friedrich Schlegel vor Augen. Wenigstens für mich hat er hier auf diese Weise Spuren hinterlassen.