Neues Jahr, neues Glück: An den Universitätsbibliotheken heißt es jetzt wieder für Studenten, kluge Buchkäufe anzuregen. Denn die Bestände etwa in Leipzig sind lückenhaft, Kriterien für Neuerwerbungen ein Rätsel.
***
Mit dem Beginn des neuen Jahres geht wieder das Spiel-Fieber durch die Reihen der höheren Semester, denn sie wissen: Das Roulette, welcher Erwerbungsvorschlag wohl in den Ohren der Bibliothek Gehör finden wird, ist mit dem neuen (Haushalts)-Jahr wieder eröffnet worden. Die spärlichen Töpfe, die für das, was man früher einmal Bestandspflege nannte, bereitgestellt sind, gehen zuverlässig mit dem reifen der Kastanien zur Neige, und werden erst im Januar neu bestückt. So verhält es sich wenigstens an der Universitätsbibliothek Leipzig.
Stößt man, wie es leider viel zu häufig geschieht, auf weit klaffende Lücken nicht nur in den Reihen aktueller Literatur, sondern auch in den weithin als kanonisiert geltenden Klassikern, so passiert einem dieses Missgeschick besser im Frühjahr. Andernfalls erfährt man, dass das Budget aufgezehrt ist, wird auf Online-Verzeichnisse antiquarischer Bücher verwiesen, oder im dreistesten Falle an die gebührenpflichtige Deutsche Nationalbibliothek.
Von dem antiquierten Gedanken, eine wissenschaftliche Bibliothek habe ihren Lesern eine repräsentative, beständiger Anpassung unterworfene Selektion der einschlägigen Literatur eines Faches darzubieten, hat man sich in Leipzig offenbar verabschiedet. Beim Zustand der Freihandbereiche muss man annehmen, die zuständigen Stellen bekämen wohl Schnappatmung, besäße einer ernsthaft die Impertinenz, auf diesem Relikt der analogen Vorwelt als entscheidendem Teil seiner Literaturrecherche zu beharren. Veraltete, zerfledderte Ausgaben von Primärtexten, traurig-versprengte Häuflein dadaistisch zusammengestellter Sekundärliteratur, wunderliche Ordnungssysteme (Frege schmiegt sich vertraulich an Fichte – warum auch nicht, fangen ja beide mit F an), sowie kilometerweite Wege zu Nachschlagewerken (stehen halt im anderen Fachbereich) sollen dem ein Zeichen sein, der sich von seinem PC-Arbeitsplatz doch einmal in das Labyrinth der Kurbelregale verirren sollte.
Der Streit ums verbliebene Präsenzexemplar
Den Versuch, den Bestandsrückstand zu westdeutschen Bibliotheken auch nur annähernd auszugleichen, muss man wohl Ende der 2000er aufgegeben haben. Man entdeckte vielleicht zu dieser Zeit, dass man diese Schwäche in Tugend ummünzen konnte, indem man Büchermangel und Verweigerung des bibliothekarischen Urteils (neudeutsch: „Creative Space“ und „e-only Strategie“) der digitalhysterischen Politik als Fortschritt verkaufte. Diese stempelte dann auch, vertreten durch die damalige sächsische Bildungsministerin Stange, anlässlich der Prämierung zur „Bibliothek des Jahres 2017“ der Leipziger UB ein Bienchen ins Hausaufgabenheft (unter dem aussagekräftigen Schlagwort „innovative Methoden in der digitalen Welt”).
Von dem wohlwollenden Zuspruch beflügelt hält man Kurs auf die Zukunft, was unter anderem bedeutet, dass man fiese, überkommene Wissenshierarchien abbaut, und kurzerhand die Erwerbungspolitik neuer Werke den „Nutzern“ überlässt. Trafen früher ausgebildete Bibliothekare mit gereifter wissenschaftlicher Urteilskraft die Entscheidung darüber, was im Regal landet und was nicht, herrscht heute barrierefreie Anschaffungsanarchie: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Wenn der Erstsemester in juvenilem Leichtsinn zu Beginn des Jahres eine gute Brise des Budgets in drittklassige Nietzsche-Kommentare investieren zu müssen meint, dann hat der Doktorand im Oktober eben das Nachsehen. Oder will hier jemand etwa behaupten, Wissen sei nicht demokratisch organisierbar?
Ähnliche Prinzipienfreiheit herrscht freilich nicht nur in der Anschaffungs-, sondern auch in der Ausmistungs-Praxis (Deakzession). Ein Beispiel: Der Dubletten-Verkauf im vergangenen Herbst. Der Name ist Programm, kein Buch ist vor der radikalen Ein-Exemplar-Politik der UB sicher: „Creative Space“, aber bitte ohne (ausleihbare) Bücher. Mehrere Bände der deutschen Thomas-Ausgabe (Summa theologica) wurden dort für zwei Euro das Stück verscheuert (auf ZVAB erzielen einzelne Bände hunderte Euro). Den Autor freute es, allein die Kommilitonen der Philosophie, Theologie, der Geschichte oder wen es sonst interessieren mag, dürfen sich nun im Streit um das jeweils verbliebene Präsenzexemplar die Köpfe einschlagen. Denn, falls das hier noch erwähnt werden muss, Institutsbibliotheken mit ihren je eigenen Freihandbereichen waren spätestens in den Neunzigern out, und da man hier mit der Zeit geht, gingen diese mit ihr.
Standardmäßige Floskeln
Das lustige Treiben in Erweiterung und Aussortierung der Bestände kann nicht als Verdienst (oder Schuld, wie man es sieht) den Fachreferenten zugerechnet werden, also denjenigen, die an anderen Bibliotheken oder zu anderen Zeiten die Oberhoheit über die Bestückung der Regale besitzen beziehungsweise besaßen. Es gibt sie auch noch in Leipzig, nur hat man hier ihre eigentümliche Tätigkeit durch irrwitzige Arbeitsteilung vollständig entschärft. Da ist etwa den Fachbereichen Erziehungswissenschaft, Sportwissenschaft, Geschichte sowie klassische Archäologie eine einzige Person zur Bestandspflege zugeteilt: Welcher Technokraten-Phantasie entsprang diese Kombination und außerdem die Erwartung, den kritischen Überblick über aktuelle internationale Veröffentlichungen etwa im Fach Geschichte „erledige man auch noch nebenbei“? Bis auf wenige Ausnahmen, etwa in der Theologie, man kann nur vermuten, wie verbissen hier wohl Kämpfe um alte Privilegien geführt wurden, gibt es kaum einen Fachbereich, der sich der ausschließlichen Zuwendung eines Referenten erfreuen dürfte.
Die Verknappung des zuständigen Personals trifft auf die ohnehin raren Mittel für Neuanschaffungen in den Geisteswissenschaften (die stillschweigend für die Monopolbildung und exorbitante Preissteigerungen naturwissenschaftlicher Verlage in Haft genommen werden) und zeugt einen ungestalten Homunkulus in Sachen Erwerbungspolitik. Zwar will man diese „demokratisieren“ und feiert die Überwindung eines herbeihalluzinierten Wissensfeudalismus, andererseits ist es eher unangenehm, ständig und im Laufe des Haushaltsjahrs in zunehmender Häufung negative Bescheide für Erwerbungsvorschläge aufgrund von Finanzschwäche versenden zu müssen. Also hat einer aus dem Heer der Web-Demiurgen, die die UB mittlerweile beschäftigt, das Feld „Begründung“ in das fesche Web-Interface des Erwerbungsvorschlags hinzugefügt.
Die Rätselfrage lautet nun, was dort hineingeschrieben gehört. Denn man könnte ja denken, entweder traue die UB jemandem das Urteilsvermögen zu, zu wissen, welche Texte er für sein wissenschaftliches Nachdenken benötigt. Oder sie lässt es eben bleiben, und entscheidet selbst. Der Student, der dringend eine Monographie zur Bearbeitung seiner Hausarbeit benötigt, von der er niemals dachte, dass eine UB sie nicht besitzen könnte, gerät ins Schwitzen: Ob eine Monographie lesenswert ist, oder nicht, ist ja eine Frage, über die man streiten kann. Aber sie ist in jedem Falle eine Frage, die sich nur von der Sache her beurteilen lässt – soll er nun seinem Fachreferenten in einem Text mit der Zeichenzahl einer Twitternachricht tatsächlich erklären, weshalb das fragliche Buch sich in der Auslegung von xy auf dem richtigen Weg befindet? Da das absurd scheint, behilft er sich mit standardmäßigen Floskeln: „klassischer Text in der Hinz-und-Kunz-Rezeption“, „repräsentative Darstellung der gegenwärtigen Forschungslage“ und so weiter. Nach ein paar Versuchen meint er dann den Bewertungskriterien für die sinnvolle Begründung einer Neuanschaffung näher gekommen zu sein. Begründungen für Werke mit einem Anschaffungspreis unter 50 Euro werden für gut erachtet, die für Teureres fallen durch.
Aufgepasst und umgeschaut
Die Banner der Open-Access-Propaganda im Eingangsbereich kündigen eine schöne neue Zukunft an, deren Anbruch man in Leipzig lieber heute als morgen feiern möchte. Wenn das, was als lesens- und bedenkenswert gilt, auf zentralen staatlichen Servern vorgefiltert und von „Impact-Indices“ vorsortiert wird, dann kann das Prinzip “Bestandspflege” und mit ihm das Konzept des begründeten Urteils eines Wissenschaftlers als Maß zur Beurteilung von Texten endgültig in den Ruhestand verabschiedet werden. Bis es soweit ist, bereitet man dem, was da kommen mag, diensteifrig Tür und Tor (und nebenbei gegenwärtig-bildungspolitischem Willen den Weg), indem man renitenten Studenten die Nutzung der Freihandbereiche vergrault, oder darauf hofft, dass früher oder später nach den unausgesprochenen Plänen der sächsischen Landesregierung die hiesige Geisteswissenschaft in Fachdidaktik degeneriert ist. In der Lehrbuchsammlung stört es seit Jahren niemanden, dass bändeweise Sekundärliteratur zu Wittgensteins “Tractatus” herumsteht, das Werk jedoch selbst nicht zu finden ist.
Solange es jedoch noch ein paar Verbliebene gibt, die Bücher für ihre Arbeit benötigen, so gilt es für diese wieder einmal: Aufgepasst und umgeschaut, es ist Januar – besser jetzt als später ein paar Bände für das Jahr bestellt, vielleicht hat man ja Glück. Sagt es weiter, aber nicht zu vielen, sonst ist diesmal im Sommer schon Flaute.