Studieren ist dieser Tage auch in Schweden alles andere als rosig. Der Unibetrieb ist auch hier erlahmt, und für Ausländer stehen viele Entscheidungen an. Ein Bericht aus Stockholm.
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Vor sieben Monaten im September 2019 begann mein neues Studium in Stockholm. Schnell habe ich mich an das neue Leben in Schweden und den Unibetrieb in Stockholm gewöhnt: morgens Seminar, mittags Lunch in der vollen Mensa, nachmittags eine Fika-Pause (schwedische Kaffeepause mit Zimtschnecke) vor dem Essayschreiben in der Bibliothek. Anfang März war dann auf einmal alles anders und man merkte, dass das neuartige Virus Covid-19 in Europa und Schweden angekommen ist. Zuerst sagte die Universität Stockholm den geplanten Tag der offenen Tür ab, dann begannen Dozentinnen und Dozenten sich zu überlegen, wie Seminare auf Fernunterricht umgestellt werden können, die Universitätsbibliothek wurde trotz Prüfungsphase immer leerer. Auch wenn Schweden zunächst nur zögerlich Maßnahmen gegen Covid-19 einleitete, wurden die Universitäten Mitte März komplett geschlossen. Damit war der gewohnte Unibetrieb mit Lernen, Lunch und Fika erst einmal vorbei. Unsicherheit machte sich breit.
Fragen kommen plötzlich auf, die einem als Austauschstudentin in Schweden einige Wochen zuvor noch so unrealistisch wie eine Wiedervereinigung von ABBA vorkamen. Wie wird sich die Situation in Schweden entwickeln? Was passiert, wenn ich krank werde und das Zimmer im Studierendenwohnheim nicht mehr verlassen soll? Wie lange wird es noch möglich sein, ohne erhebliche Einschränkungen zu reisen, und werden überhaupt noch Flugzeuge fliegen? Welche Auswirkung hätte eine vorzeitige Abreise aus Schweden für das Auslandsstudium?
Der „schwedische Sonderweg“ – bleiben oder doch lieber gehen?
Ein deutscher Kommilitone in Schweden bezeichnet die bisherige Strategie als eine „wirklich typisch schwedische Reaktion“. Auch wenn die Maßnahmen in Schweden nach und nach verschärft wurden und Covid-19 als Gefahr erkannt wird, sind diese im europäischen Vergleich dennoch recht locker und liberal. So setzt Schwedens Staatsepidemiologe, Anders Tegnell, vor allem auf Empfehlungen kombiniert mit der Eigenverantwortung der Bevölkerung. Das oberste Gebot lautet ebenso wie in den anderen europäischen Ländern natürlich social distancing und Händewaschen. Bei der kleinsten Erkältung soll man zu Hause zu bleiben, was auch von schwedischen Universitäten immer wieder betont wurde. Inzwischen sind Veranstaltungen ab 50 Personen verboten. Kitas sowie Restaurants und Geschäfte sind aber weiterhin offen.
Als internationale Studierende wundert man sich über den schwedischen Sonderweg im Vergleich zu den restriktiveren Maßnahmen in den Heimatländern. Da die Schwedinnen und Schweden aber traditionell ein hohes Vertrauen in die Expertise ihrer Behörden haben, wird die Strategie von den Einheimischen weniger skeptisch wahrgenommen. Ein schwedischer Kommilitone weist darauf hin, dass Empfehlungen das stärkste Mittel der Behörden sind und die Regierung bislang nur im Kriegsfall die Befugnisse hatte, beispielsweise Geschäfte und Flughäfen zu schließen. Eine kürzlich erfolgte Gesetzesänderung gibt ihr nun aber die entsprechenden Befugnisse. Es gibt zunehmend Probleme mit der schwedischen Strategie, beispielsweise die steigenden Infektions- und Todeszahlen in Altenheimen sorgen für Unmut.
Als Austauschstudentin in Schweden wächst die Unsicherheit, und man steht auf einmal vor der Entscheidung, ob man bleiben oder doch lieber gehen soll. Das Rollen der Koffer in Studierendenwohnheimen in Stockholm ist symptomatisch für die sich entwickelnde Unsicherheit. Der DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) rät dazu, die lokale Gesundheitsversorgung, politische Stabilität und die allgemeine Sicherheitslage bei jeder Entscheidung zu bedenken. Für einen österreichischen Studierenden war der „lasche Umgang mit Corona in Schweden“ ein Grund, Schweden zu verlassen. Und tatsächlich haben die liberalen Maßnahmen einen faden Beigeschmack, wenn man die Worte des schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven in seiner Fernsehansprach bedenkt, der seine Bevölkerung darauf „vorbereitet“ hat, dass jeder wohl von einem Liebsten Abschied nehmen muss.
Jedoch gibt es auch durchaus Gründe, Schweden nicht sofort zu verlassen. So liegt für den einen deutschen Studenten der Lebensmittelpunkt bereits in Schweden; der andere hat ein hohes Vertrauen in das schwedische Gesundheitssystem. Außerdem spielt die Sorge um die Gesundheit der Familienmitglieder eine Rolle, die man potentiell anstecken könnte. Manch einer begrüßt auch, dass die Maßnahmen in Schweden lockerer sind als in Deutschland.
Eine Entscheidung zu treffen, ist in dieser Frage ohnehin nicht leicht, erschwerend kommt hinzu, dass man sich in einem „fremden“ Land nicht immer angemessen informieren kann. Zwar geben die Universitäten Updates, offizielle Webseiten bieten die wichtigsten Informationen auch in Englisch an. Tiefergehende und umfassende Informationen sind aber oftmals nur auf Schwedisch verfügbar.
Home-Uni & Selbstisolation gepaart mit schwedischer Eigenverantwortung
Viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen in Schweden berichten, dass sich ihr Leben vom einen auf den anderen Tag grundlegend verändert hat. Als sich die Corona-Krise verschärfte, hatte an den deutschen Universitäten gerade die Vorlesungszeit geendet. In Schweden war man dagegen schon mitten im Sommersemester. Ab Mitte März wurden dann fast alle Kurse auf Fernunterricht umgestellt. Seminare werden über die amerikanische Videoplattform Zoom abgehalten, Vorlesungen aufgezeichnet und die üblichen Take-Home-Exams einfach ausgeweitet oder Onlineklausuren abgehalten.
Auch wenn Kurse und Prüfungsleistungen nun von überall und ohne Einbuße abgeschlossen werden können, fällt das ganze „Drumherum“ des täglichen Studierendenlebens weg. Das Haus wird fast nur noch zum Einkaufen oder Sporttreiben verlassen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die schwedische Tagesroutine wohl kaum von der eines Studierenden in Deutschland oder anderen Ländern, die sich im Lockdown befinden.
Auch die Student Union an der Universität Stockholm (ähnlich der Studierendenvertretung in Deutschland) hat all ihre Veranstaltungen abgesagt. Die Pubs auf dem Universitätsgelände wurden geschlossen. Daneben gibt es auch bemerkenswerte Initiativen und Einfälle. So finden von der Student Union geplante Onlineveranstaltungen wie Student-Quiz oder Netflix-Partys mit „Mamma Mia“ statt. Und ein befreundeter PhD-Student hat bei der Herstellung von mehr als 20 Tonnen Handdesinfektionsmittel für Krankenhäuser und Altersheimen an der Universität Stockholm mitgewirkt.
Aber es gibt natürlich auch immer die Unvernünftigen, die weiterhin um die Straßen ziehen. Ein deutscher Studierender an der Universität Uppsala berichtet, dass im Wohnheim neben ihm noch Partys gefeiert werden. Die Zukunft wird zeigen, ob der Weg der schwedischen Eigenverantwortung funktioniert.
Wie geht es weiter?
Zurzeit leben die Studenten in Unsicherheit: Werden Austausche zum Wintersemester möglich sein? Wie geht es mit geplanten Praktika weiter? Für einen Studierenden an der Universität Stockholm ist jetzt schon klar, dass der Austausch nach Singapur im Wintersemester nicht stattfinden wird. Und auch Dozentinnen und Dozenten rechnen mit weniger Austauschstudierenden zum Wintersemester, die nach Schweden kommen werden.
Die schwedische Strategie verunsichert zusätzlich, sie scheint eine gefährliche Gratwanderung zwischen Bewahrung der Freiheit und angestrebter Abflachung der Neuinfektionskurve zu sein. Ein Experiment mit ungewissem Ausgang.
Mich hat es aber auch verrückt gemacht, die ganze Zeit die Medien zu durchforsten und mich zu fragen, wie es mit dem Studium in Schweden weitergeht. So beende ich mein Auslandsstudium von der Ferne aus in Deutschland, anders als vor sieben Monaten noch gedacht. Aber ich lerne auch, die Erlebnisse der ersten Monate in Stockholm noch mehr wertzuschätzen und backe derweil zuhause Zimtschnecken, was sich dann ein bisschen wie eine Fikapause an der Universität Stockholm anfühlt.