Nichts im Fernsehen verkörpert Deutschland so sehr wie die „Lindenstraße“, das wird nach 30 Jahren keiner mehr leugnen. Wie konnte die Serie so zäh werden? Analyse eines Dauersehers.
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Eine grobe Inhaltsskizze der “Lindenstraße”? Ist eigentlich unmöglich, aber gerade deshalb das einzig Richtige. Zunächst geht es in Deutschlands bester Serie um etwas radikal Unfilmisches: das ganz alltägliche Zusammenleben von Menschen. Waren Fotografien einst Lebensereignisse, für die ganze Familien vereint, gar erst gezeugt wurden, sah man mit Beginn dieser epochalen Serie plötzlich Schauspielern in schlecht eingerichteten Wohnungen beim Spiegeleibraten zu. So etwas nennt “Wikipedia” dann “Seifenoper”; die “Lindenstraße” gelte als eine der ersten.
Aber das reicht natürlich nicht. Denn der Alltag ist – Sie wissen es – nun einmal schrecklich langweilig. Alltag haben Sie selbst genug, und zwar ohne Gebührengelder (Nieder mit den GEZ-Blutsaugern!). Also laden die Serienmacher ihn, den Alltag, mit Problemen auf und hetzen die Figuren aufeinander. Das macht die Produktion dann gesellschaftlich relevant. Und das ist jetzt gar nicht so ironisch gemeint, wie es klingt – schließlich sahen am 22. März 1987 in Folge 68 (“Das Versprechen”) mehr als zehn Millionen Zuschauer den ersten Kuss zwischen zwei Männern in einer deutschen Fernsehserie. Erst sieben Jahre später wurde der aus dem Kaiserreich und Nationalsozialismus stammende Paragraph 175 endgültig aufgehoben, der Homosexualität als “Unzucht” unter Strafe stellte.
Neben Homosexualität und Homophobie ging es in der “Lindenstraße” zum Beispiel um Wehrdienstverweigerung, Drogen, Prostitution, Sekten, Vegetarismus, Krankheiten (HIV, Krebs, Herzinfarkt, Parkinson …) und ihre Verläufe, weiter um Behinderungen, gefälschte Bio-Lebensmittel, häusliche Gewalt, Mobbing, Vergewaltigungen durch Männer, Vergewaltigungen durch Frauen, einen Bratpfannenmord, Neonazis und Polyamorie. Kein Tabu ist ein Tabu. Die Serie macht für ein breites Publikum das greifbar, was ihm im Alltag allzu oft hinter der Fassade “der anderen” verschlossen bleibt, und öffnet ihm Türen in fremde Welten für ein paar sonst verbotene Blicke.

Aktuell (genauer: seit Folge 1580 vom 22. Mai 2016, Titel: “Risiko”) gibt es da zum Beispiel den Coming-Out-Prozess des jungen, wilden Marek, der sich schon seit seiner Jugend als Frau fühlt. Deshalb verließ ihn seine Gattin und verweigert ihm, das gemeinsame Kind zu sehen. Dass im Jahr 2016 die Angst in unserer Gesellschaft vor Menschen immer noch tief sitzt, die sich nicht in das Mann-Frau-Schema einordnen lassen, führt ja allein der groteske Kampf verwirrter Menschen gegen “Unisex-Toiletten” vor Augen.
Um nicht allzu verrucht zu wirken, gibt es noch das ganze andere: Älterwerden, Verliebtsein, Fremdgehen, Gebären, Kochen, Einkaufen, Heimwerken, Lügen, Intrigieren, Putzen, Backen, Schaukeln, drei Semmeln Kaufen, ein Bier im “Akropolis” trinken; Tante, Onkel, Bruder, Schwester, Mutter, Mutter, Mutter. Alle mit allen, jeder mit jedem.
Am deutschen Wesen soll inzwischen also immerhin nur noch der deutsche Fernsehzuschauer genesen. (Nicht umsonst spricht man wohl von “Sendungsbewusstsein”.) Das ist zwar ein Fortschritt, betrachtet man die jüngere Geschichte des Landes; aber noch progressiver wird es wohl auch nicht. Denn die real existierende “Lindenstraße” bannt nicht nur all das Begehren auf den Bildschirm, das sich sonst seinen verheerenden Weg in die Realität bahnen würde – sie entkräftet ihr Publikum auch, physisch wie psychisch. Versuchen Sie doch mal, eine Folge zu verstehen, oder bloß den momentanen Gesichtsausdruck einer Schauspielerin: Freude, Leid, Sex mit dem Briefträger? Schwer zu sagen. Ganz zu schweigen von kompletten Rollenbiographien oder Episoden-Jahren (in der “Lindenstraßen”-Mythologie rechnet man nicht in Staffeln, sondern in Jahren).

Gleichzeitig ist das alles natürlich total bescheuert und banal und vorhersehbar und peinlich (nicht umsonst heißt es ja – Achtung, Flachwitz! – Fernseh–zu–schauer), und eigentlich nur stilvoll, weil man in eine Parallelwelt, ja in ein gänzlich eigenes Universum eintritt, in dem beeindruckend innovative dramaturgische Kniffe und Wendungen, ein guter Brocken gemütlicher Kleinbürgerlichkeit, ein warmer Hauch Früher und das Bewusstsein, dass schon alles gut werden wird, hinter dem ARD-Logo übereinander herfallen, und man sich paradoxerweise, meint man es ernst, schon vor dem Eintritt in dieses Universum für es entscheiden muss, als wäre das ein schon vorgeburtlich zu gebendes “Ja” zur Heirat mit der eigenen, dicken, reichen Tante oder zum Schicksal Akne. Das wohlige Schaudern, das einen überkommt, wenn dieser minutiös vollzogene Realismus ins Unwahrscheinliche und Absurde kippt (und das tut er ständig, weil Wirklichkeit nun mal nicht geskriptet ist) – es gehört nun mal dazu.
Die “Lindenstraße”, sie begleitet nicht nur die (vermeintlich) normalen Leute in den Normalitätskulissen beim Leben, sondern damit automatisch auch die normalen Leute vor den Empfangsgeräten – und das in Echtzeit, topaktuell. Die Wirklichkeit, sie ist lediglich die auf eine Woche ausgedehnte, schlechte Spiegelung einer Episode. Flüchtlinge, Bomben, Fußball, Smartphone: alles drin. Nur heißen Google und Facebook hier “Findhund” (“etwas findhunden”) und, ja, wirklich, “Spacehorst”, was ja an sich schon wieder toll ist. Was glauben Sie, wie ich zusammengezuckt bin, als “Helga ‘Mutter’ Beimer” mit ihrem schönen Mund die Worte „Jan Böhmermann” formte?

Am einfachsten dringt man folglich in diesen Kosmos qua Geburt ein – man wächst in ihm, mit ihm, wie die Charaktere. Manche Schauspieler sind schon seit dem Kleinkindalter dabei: “Klaus ‚Klausi‘ Beimer”, “Mutter Beimers” Sohn, ist schon seit Folge 1 (“Herzlich willkommen”) vom 8. Dezember 1985 dabei, sein Schauspieler Moritz A. Sachs war damals sieben Jahre alt. Und Julia Stark spielt “Sarah Ziegler” seit Folge 103 (“Hochzeitsvorbereitungen”) vom 22. November 1987 – da war sie genau vier Monate alt. Konsequenterweise spricht man hier, hört ein Schauspieler auf mit “Lindenstraße”, von “aussteigen”. Bestimmt gibt es auch Aussteigerprogramme – einfach mal findhunden.
Gerade (von Folge 1587 – “Schwestern” –, Ausstrahlung am 17. Juli 2016, bis Folge 1591 “Lust oder Liebe?” vom 14. August) hatten “Klaus” und “Sarah” übrigens eine Affäre, obwohl sie fast verwandt sind (denn ihre Mutter ist mit seinem Vater verheiratet), was in der Serie regelmäßig subtil aufgespießt wurde und “Mutter Beimer” selbstverständlich in Rage brachte, als sie es herausfand (“Um Himmels Willen, habt Ihr wenigstens verhütet?”). Alles sehr kompliziert – aber so ist das halt, wenn man sein Leben der “Lindenstraße” gibt.
Ich kam am 5. November 1996 um 14.05 Uhr mit 4,2 Kilogramm Körpergewicht auf die Welt. Meine erste Folge “Lindenstraße” lief am 10. November 1996; sie hieß “Wiedersehen macht Freude” und war die Nummer 571. Seitdem lebe ich – und schaue. Ich werde älter, jeden Sonntagabend eine Woche, und die Lindenstraße bleibt und lässt nicht los. Ich lernte, dass “Gung Pham Kien”, der Hausmann und Assistenz des reichen, alten “Doktor Dressler”, dem das Haus gehört, aus dem das alles kommt, zur passenden Zeit immer mit einem Sprichwort weiterhilft (“Kounfouzeh sagt…”); dass in jeder Folge mindestens eine Person an eine andere, die Formulierung las ich in einem Fan-Forum, “rangeht wie Hektor an die Blutwurst”; und dass es zwar eigentlich ganz schlimm steht, wenn “Helga Beimer” Hochprozentigen rausholt, aber doch einer gewissen Komik nicht entbehrt.

Deutsche brauchen Autoritäten zum Dran-Glauben, Institutionen, die ihnen sagen, wie die Welt ist – und da ist eine Sonntagabendserie doch wohl sympathischer als “Die Mannschaft” oder die Modellbausektion von “Pegida”. Deutsche brauchen Ordnung, Zuverlässigkeit – die “Lindenstraße” verschießt, Verzeihung, versendet seit drei Jahrzehnten pünktlich ihre Streumunition und hat in diesem Zeitraum ihren Sendeposten um nur zehn Minuten verlassen (früher begann sie um 18.40 Uhr, heute um 18.50 Uhr).
Alles ist immer gleich und verläuft in ritualisierten Schleifen: Kurz vor dem Beginn einer Folge die Ziehung der “ARD-Fernsehlotterie”, in der seit sicher 15 Jahren ein Urlaub im “Hotel Dollenberg” “im Schwarzwald” verlost wird (vermutlich immer derselbe) – sicher stapeln sich da schon die verwirrten pensionierten Französischlehrer und ihre verhutzelten Ehefrauen und rufen ganz verzweifelt immerzu “Hé! Salut!” und “Ist da jemand?” und “Mon dieu!” und “Rien ne va plus!” und “Ich möchte jetzt bitte meine Cordhose waschen lassen!”, und sind dabei noch froh, dass sie nicht schon wieder ins Elsass gefahren sind; und die verantwortliche Redakteurin steckt schon lange in einer dunklen “ARD”-Besenkammer fest und kann den Einspieler nicht ändern und es hat nur noch niemand gemerkt; außerdem hat man sich ja mittlerweile eh dran gewöhnt.
Dann der Vorspann, in dem nur der am Ende eingeblendete Name der Folge variiert. Letzterer übrigens in drei Sprachen – so lernt man zum Beispiel, dass “Neue Leute” (Folge 1592 vom 21. August 2016) in einer anderen Sprache “Orang-orang baru” heißt; allein, welche Sprache es ist, wird vorenthalten.
Der Hauptteil, die etwa 29 Minuten lange Folge, endet fast immer äußerst dramatisch, mit einem “Cliffhanger” (also einem spannenden Ende, dessen Ausgang offen bleibt, um die Zuschauer bei der Stange zu halten), der mit dreisekündigem Schweigen der Schauspieler (entsetzte Minen!) und dem Einsetzen der Töddellöh-Titelmelodie in den Abspann übergeht.
Dort kommt dann das Highlight: die drei Worte aus dem Off. Aus einer besonders charakteristischen Szene werden wenige Worte herausgeschnitten und sind dann im Abspann nochmal zu hören. Dann ist die Folge zu und man selber am Ende und fällt in ein tiefes Loch, das etwa sechs Tage anhält.
In Jubiläumsrhythmen wiederkehrende Jubiläen (20, 21, 22, 23 5/8 Jahre, 1000 Folgen, 1050 Folgen, 1111 Folgen, 120 Kilogramm “Klausi”, “Mutter Beimer” wird 45 Jahre alt (2010) etc.) erinnern unterdessen die treulosen Halbfan-Tomaten (und die versammelte Hauptstadtpresse) in Jubiläumsrhythmen daran, dass das Opus magnum deutschen Daseins weiterhin geschätzt zu werden wünscht. Denn es geht immer weiter. Der größte Unterschied zum Feudalismus besteht darin, dass der irgendwann zu Ende ging – die “Lindenstraße” nicht.

Entkräftend ist die Sendung auch wegen all der Hipster und Schnösel, die meinen, sie selber seien zu gut und zu schlau dafür, und die sie daher verachten. Ich erinnere mich noch genau an den Blitz, der mich am ersten Sonntagabend nach dem Auszug von zu Hause durchfuhr. Ich saß in meinem WG-Zimmer auf dem Bett und öffnete den Livestream, sah die Ladebalken und dachte: “Schnell, mach leise, sonst hört das hier noch jemand!”
Denn obwohl die Titelmelodie eingängiger ist als die quiekenden Verzweiflungsschreie eines siebenjährigen, noch nicht abgestillten Kindes von Bekannten nach “MAMMAAAH MILCHIE”, und daher sicher ganze Kinderwägen voll musikwissenschaftlicher Analysen füllen könnte, ist unter Studierenden selbst Backfisch sexier als “Lindenstraße”. Die rotzigen, verruchten, ach so hotten neuen Serien haben die Grande Dame mit Erfolg ins Altersheim verdrängt, in dem man sie dafür umso herzlicher streichelt. Junge “Listra”-Ultras (manche “Listra”-Fans nennen “ihre” “Listra” liebevoll “Listra”) sind mittlerweile sozial isoliert (außerhalb des “Listra”-Forums).

Gäbe es nun also die “Lindenstraße” nicht – was wäre auf den Straßen los? All die fatale Energie, mit der dieses Land die Welt bisher im Gleichschritt in den Abgrund führte: Nur ein “Wirtschaftswunder” konnte sie bändigen. Und “Mutter Beimer”. Sie ist das deutsche Monument gegen den Faschismus.
“Serienversteher” heißt die Artikelreihe, in der dieser Text erscheint. Aber wie soll man etwas verstehen, das sich scheinbar auf alles und am Ende doch nur auf sich selber bezieht? Wie etwas festhalten, das nicht aufhört zu fließen?
Die Uhr zeigt: Sonntag, 11. September 2016, 18.49 Uhr. Die nächste Folge heißt “Gas geben”. Sie ist Nummer 1595. Es hört nie auf.
Listra, nein danke
Anfangs war ich neugierig und habe mir die Serie angesehen. Ich fand sie völlig am richtigen Leben vorbei, vor Klischees nur so strotzend, verkrampfte Texte, so redet niemand. Holzschnittartiges Weltbild, freundlich gesagt. Nur geeignet für Menschen die ein solches haben und in Klischees denken. Dazu schlechte Schauspielleistung. Ich habe Amateurtheater erlebt, die machten es besser. Viel besser. Später ergab es sich, dass ich bei Verwandten mal immer wieder hineinschauen durfte – musste wäre wohl besser gesagt. Immer noch das gleiche Elend. Die – betagten – Verwandten schauten auch bloß weil “man” eben Listra schaut und ein Gewese darum gemacht wird. Inzwischen haben sie es aufgegeben, obwohl oben noch ganz fit.
Bezug verloren
Ich war von Anfang 91 bis Sommer 2007 dabei. Daß ich ausgestiegen bin, hatte einen ganz profanen Grund: Sonntags war ich noch unterwegs, und die TV-Wiederholungen waren derart zusammengestrichen worden, daß es schlicht nicht mehr möglich war, die Lindenstraße zu einer vernünftigen Zeit nachzuholen. (Morgens um 7 oder um 9 kann und will ich keine Lindenstraße sehen…) So habe ich den Bezug dazu verloren. Meine Lieblingsfigur war Felix, aber der ist ja dann leider ausgestiegen. Wenn ich jetzt hin und wieder nochmal reinzappe, finde ich es immer ziemlich langweilig und bin schnell wieder weg.
Immer anders, immer besser ...
Ich bin 44 Jahre alt und sehe diese Serie von der ersten Folge an, also seit meinem 13. Lebensjahr. Sie begleitet mich jeden Sonntag…sie gehört einfach dazu. Man ist mit allen Bewohnern älter geworden, hat vieles durchlebt- und litten, ich möchte sie nicht missen. Sie hat sich in letzter Zeit verändert…andere Einstellungen, Schnitte, teilweise auch die Dialoge etc. – aber immer aktuell und realistisch. Sie bleibt ein MUSS am Sonntag, hoffentlich noch sehr, sehr lange !
Meine Analyse
Das Staatsfernsehen der ÖR können senden , was sie wollen und wenn es das Sendebild ist. Nur so ist der sg Erfolg dieser Billigst-Produktion zu erklären. Die „Lindenstraße“ verkörpert nicht Deutschland sondern die ÖR
Titel eingeben
Billigst-Produktion? Da spricht jemand, der sich überhaupt nicht auskennt.
Kultserie
Ich liebe die Serie, freu mich jeden Sonntag drauf….die Serie hat sich langsam zu einem Krimi entwickelt. Und sie zeigt die aktuellen Geschehen auf. Weiter so!