Während die meisten Dozenten im Corona-Semester zumindest auf dem Bildschirm Präsenz zeigen mussten, machten sich viele Studenten unsichtbar. Was geschah im Hintergrund? Ein Tatsachenbericht.
***
Corona, die Pandemie der tausend Artikel, ist bis in die entlegensten Winkel unserer Welt vorgedrungen und auch bis in die entlegensten Winkel unseres Lebens. Irgendwo dort findet man wohl auch die Aktivität des Studierens, die von einigen Mitgliedern deutscher Hochschulen mehr oder minder enthusiastisch ausgeübt wird. Nicht zuletzt hier zeichnen sich deutliche Veränderungen durch COVID-19 ab. Es folgt der Tatsachenbericht einer typischen Online-Vorlesung.
Montagmorgen, acht Uhr, der Laptop hat Probleme beim Hochfahren, genau wie ich. Gerade noch Zeit, einen Kaffee zu machen, Drosten segne das akademische Viertel. Ich logge mich in den Zoom-Call ein, während ich mich nach der Zeit sehne, in der ich von dieser Domäne des Schreckens noch keine Ahnung hatte. Begrüßt werde ich von der mittlerweile ritualisierten Präambel des Professors: „Können Sie mich hören?“. Besäßen wir Studierenden einen Sinn fürs Sakrale, so hätten wir sicherlich im Chor mit einem pathetischen „Ja, wir hören Sie“, geantwortet. Die Hälfte von uns scheitert aber am Mikrofon. „Oh, Käsekuchen!“, sagt es stattdessen aus irgendeiner Leitung.
Bild und Ton stabilisieren sich nacheinander an meinem Laptop. Doch meine unglaublich leistungsfähige Webcam kann ich leider nicht mehr verwenden. Das schicke Dinopflaster, mit dem ich diese zum Schutz vor Hackern einst abklebte, ist auf molekularer Ebene mit meinem Laptop verschmolzen. Eine Verbindung, stabiler als unser Glasfaseranschluss.
„Reden ist Silber, schweigen ist Gold“
Der Professor hingegen muss neben elaborierten PowerPoint-Präsentationen auch sein Gesicht herzeigen, so befand sich der Gute wohl von Anfang an ein wenig unter Zugzwang. Er hat es sich indes natürlich keineswegs nehmen lassen, seinen Wissensreichtum angemessen zur Schau zu stellen. Die schlichte Regalwand hinter ihm beherbergt ein kleines Teleskop und die Figur eines Atlas und ist darüber hinaus angefüllt mit richtig wichtigen Wälzern: Horaz, Homer, Hellboy. Davon angemessen beeindruckt putze ich meine Zähne. Die Sitzung nimmt ihren gewohnten Gang, während der Kabelsalat auf meinem Schreibtisch beharrlich versucht, mich bis zur Bewegungsunfähigkeit zu verschlucken.
Viele weise Menschen mögen sich wohl viele weise Dinge gedacht haben, als sie den sogenannten „Schreibtischstuhl“ als Sitzutensil entwickelten. Viele ebenso weise Studenten können darüber nur keck lachen, während sie sich in alle möglichen und unmöglichen Positionen vor den Bildschirm falten. Mit beiden Unterarmen auf der Sitzfläche und einem Zeh in der Kaffeetasse (zur Temperaturkontrolle – also des Zehs) lausche ich den Stimmen meiner Kommilitonen, bald sachte in der Ferne säuselnd, bald das Trommelfell zertrümmernd in mein Ohr plärrend. „Reden ist Silber, schweigen ist Gold“, ein Grundsatz, der vor dem Ausbruch von Covid-19 sicherlich einmal Sinn ergeben hat. Durch den täglichen Gebrauch von allerlei Mikrofonen erscheint mir dieses binäre System aber reichlich unterkomplex. Reden, das ist zunächst eine Frage der technischen Möglichkeiten und reicht vom hastigen Tippen einer bestimmten Deklinationsform in den Zoom-Chat bis hin zum immerwährenden Echo der eigenen Stimme in anderen Leitungen. Schweigen wiederum ist die Leere, die sich ausbreitet, bis das Mikrofon anständig angestellt ist, der Schluck Kaffee, den alle hören, weil man sich nicht fachgerecht stumm geschaltet hat, die hektisch in den Chat getippte Deklinationsform, die alle versehentlich ignorieren.
Wie gut, dass dank Corona auch die Prüfungsmodalitäten neu ausgehandelt werden müssen. Denn bei der Diskussion organisatorischer Details in Zoom-Calls kann man sich den urbanen Flair inkohärent brabbelnder Verschwörungstheoretiker direkt ins eigene Zimmer holen. Fast ist es, als vergäßen die Leute, dass sie mit der Öffentlichkeit interagieren, auch wenn sie innerhalb ihrer eigenen vier Wänden sitzen.
Ich würde meine Webcam ja anschalten, aber …
Anders betrachtet haben die Sitzungen übers Internet und solche offline auch einige frappierende Ähnlichkeiten. Mit einem Seufzer kleckere ich versehentlich Kaffee auf die Hose, die ich definitiv anhabe. Soll ein komplexer Sachverhalt besprochen werden, so wird das andächtige Schweigen nur von dem sanften Atem des Professors unterbrochen. Geht es um Prüfungsmodalitäten, so sieht selbiger sich binnen weniger Augenblicke einem interessierten Parlament aus Experten und Pedanten ausgeliefert und alle zuvor problematischen Mikrofone funktionieren plötzlich einwandfrei.
Jegliches Mitleid, das in mir aufquellt, wird allerdings restlos von einer spitzen Bemerkung des Professors ausgelöscht. Er persönlich habe ja das Gefühl, dass einige hier nicht wirklich physisch anwesend seien oder dass wenigstens etwas völlig anderes gemacht würde, sobald die Teilnehmenden wieder stumm geschaltet seien, so die dunkle Ahnung des Guten. Eine böswillige Anschuldigung. Empört stelle ich meine Bongotrommeln zur Seite. Eine Studentin aus dem privilegierten Kreis der funktionierenden Mikrofone meldet sich zu Wort: „Ich würde meine Webcam ja anschalten, aber ich habe da vor Jahren mal ein Dinopflaster drüber geklebt und jetzt kriege ich das nicht mehr runter.“ Schilderungen ähnlicher Situationen unterbrechen ihre Ausführungen, meinerseits nehme ich interessiert an der brisanten Diskussion teil, indem ich zum ersten Mal in diesem Jahr meinen toten Kaktus gieße und sehe hinunter auf meine Notizen. Umrahmt von zahlreichen Herzchen, Kringeln und Sternchen steht dort ein Schriftzug: „Käsekuchen!“ Nie war ich eine Frau der vielen Worte, aber ich habe Hunger.
Ein entschiedener Vorteil am Genuss der Vorlesungen im eigenen Heim während einer Pandemie ist es, dass die unbewachten Vorräte der Mitbewohner nur eine recht geringe Distanz entfernt sind. Die wiederum kann man problemlos durch das rhythmische Rollen mit dem Schreibtischstuhl zurücklegen.
In der Küche erlischt meine aufkeimende Freude allerdings, als ich dort prompt auf besagte Mitbewohner treffe, allesamt ihrerseits auf ihren Schreibtischstühlen sitzend und hoffnungsvoll in den Kühlschrank blickend. Ein entschiedener Nachteil am Genuss der Vorlesung im eigenen Heim während einer Pandemie ist, dass alle Mitbewohner neben ihren Essensvorräten in der Küche ausharren können, um Diebstähle zu verhindern. Und wie es sich mit dem Leid verhält, das eine Pandemie zweifelsohne mit sich bringt, so verhält es sich auch mit den Nahrungsmitteln: Geteiltes Essen ist halbes Essen. Zurück am Schreibtisch scheine ich eine Frage des Professors an mich verpasst zu haben. „Haben Sie sich Ihr Butterbrot nun endlich geschmiert?“, erkundigt er sich ungeduldig. „Wie bitte?“, frage ich, nur mit halbem Ohr hinhörend. Schließlich flambiert sich meine Crème brûlée nicht von alleine.
Einige Minuten später stürmen zwei Kinder die Residenz des kenntnisreichen Mannes. Das Regal wackelt, Atlas strauchelt und fällt, den Blick auf eine halb leere Flasche Whiskey freigebend. Die Sitzung wird unter hochgebildetem Wehklagen beendet.
Und wie die Sitzungen im Kleinen waren, so endete das Semester im Großen: „Ziehen sie doch mal sachte Bilanz zum Schluss: Was halten Sie denn von den Onlinevorlesungen?“, fragt der Professor. „Ja, ich kann sie hören“, antwortet es aus irgendeiner Leitung.