Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Studentenstadt vs. Großstadt

Vor einem halben Jahr zog ich aus Frankfurt ganz bewusst in die beschauliche Universitätsstadt Göttingen. Es ging um studentische Freiheit. Ging die Rechnung auf?

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Göttinger Wahrzeichen: Die Gänseliesel auf dem Marktplatz

Die größten Unterschiede, der mir zwischen Großstadt und Studentenstadt sofort aufgefallen ist, sind in Zahlen messbar:  Die Größe, die Einwohnerzahl und die Entfernungen von A nach B sind in Göttingen um einiges kleiner als in Frankfurt. Göttingen zählt rund 120.000 Einwohner, von denen Studenten ein Viertel ausmachen – also eine ganze Menge. Wenn ich durch die gepflasterten Straßen in der Altstadt schlendere, sehe ich viele junge Gesichter. Besonders schön und praktisch ist es, dass der Uni-Campus quer über die Stadt verteilt liegt. So befindet man sich jederzeit in unmittelbarer Nähe zur Uni, ist aber binnen weniger Minuten auch schon in den botanischen Garten spaziert, wenn man mal etwas Abstand von Seminaren und Prüfungsstress braucht.

Das ist es auch, was mir an Göttingen besonders gut gefällt: Die Stadt ist so klein, dass sich das gesamte Leben gewissermaßen an einem Ort abspielt. Die kürzeren Distanzen, die man in der Stadt zurücklegen muss, schenken vor allem eines: mehr freie Zeit, die jeder Student anders gestalten kann. In Frankfurt habe ich manchmal eine Stunde mit dem öffentlichen Nahverkehr gebraucht, wenn ich eine Freundin besuchen wollte, die am anderen Ende der Stadt wohnte. Heute brauche ich dafür rund 15 Minuten mit dem Fahrrad. Das gleiche gilt, wenn ich tagsüber schnell den Campus wechseln muss oder nach einem langen Abend in der Stadt nur noch ins Bett fallen will.

Ich habe mich manchmal selbst schon gefragt: Gibt es etwas, das ich am Großstadtleben oder speziell an Frankfurt vermisse? Vielleicht die Vielfalt an Gerüchen und Plätzen, an Nationalitäten und Lebensgeschichten, die einem unübersehbar auf jedem Meter begegnen, den man sich in der Stadt bewegt. Aber wenn man genauer hinschaut, findet man all diese Dinge in einer kleineren Stadt auch. Frankfurt hat im Gegensatz zu Göttingen ein riesiges kulturelles und kulinarisches Angebot. Doch braucht man diese große Wahlmöglichkeit zwischen 30 verschiedenen Konzerten und Ausstellungen oder hundert Restaurants und Cafés überhaupt? Göttingen hat zwar eine überschaubare Kulturlandschaft, aber diese ist voller Leben. Eigentlich ist hier jeden Tag etwas los. In den Märztagen ist es etwas ruhiger geworden in der Stadt, weil viele Studenten in den Semesterferien zu ihren Familien gefahren oder auf Reisen sind. Das Tolle ist aber: Es ist gerade so viel los, dass man einiges unternehmen kann, ohne sich vom Angebot und den Möglichkeiten überfordert zu fühlen. Das gilt auch für das Studentenleben.

Leben wir nicht alle in Blasen?

Göttingen gibt mir die Gelegenheit, aufzuatmen. Denn die Studentenstadt ist voller Studenten, und damit voller Menschen, die ihren Alltag nicht immer komplett durchorganisieren und von einem Termin zum nächsten eilen müssen, wie man es in Großstädten häufig erlebt, sondern manchmal auch den Luxus haben, einfach in den Tag hineinzuleben. Selbst wenn das für viele Studenten nur in Ausnahmefällen oder in den Semesterferien gilt, fühlt sich das Leben in einer kleineren Stadt für mich insgesamt entspannter an. Und das kann man auf viele verschiedene Arten spüren: im Verkehr, der Stimmung und dem Umgangston, in dem miteinander kommuniziert wird.

Göttinger Inennstadt im April

Selbstverständlich ist es für viele Studenten – mich eingeschlossen – wichtig, einen Job neben dem Studium zu haben. Viele von uns arbeiten als Kellner, an der Uni oder in der Bibliothek, um sich etwas dazuzuverdienen. Und das kostet Zeit – aber ich habe seltsamerweise dennoch das Gefühl, insgesamt mehr davon zur Verfügung zu haben. Trotz diverser Seminare und Vorlesungen konnte ich im vergangenen Semester aus bloßem Interesse einen Kurs über die Programmiersprache C besuchen und lerne neben dem Studium gerade Altgriechisch und Japanisch – weil mich die damit verbundenen Kulturen faszinieren. Das Konzentrieren auf eine Sache klappt bei mir in Göttingen auf erstaunliche Weise besser, als es mir in Frankfurt je gelungen ist.

Aus einer kritischen Perspektive betrachtet könnte man sagen, Studenten leben in einer Universitätsstadt in einer akademischen Blase, an die wenig von der Realität der restlichen Welt dringt – und in einem gewissen Sinn stimmt das auch. Aber man kann auch die Gegenfrage stellen: Befinden wir uns nicht alle in irgendwelchen Blasen, weil unsere Wahrnehmung nun einmal in erster Linie von dem bestimmt wird, was um uns herum geschieht und womit wir uns beschäftigen? Die Sorge, nichts vom Leben um einen herum mitzubekommen, nur weil man in einer Studentenstadt lebt, halte ich deshalb für unbegründet.

Die Menschen, die ich bisher in Göttingen kennengelernt habe, sind sehr verschieden – doch eines haben sie alle gemeinsam: ein großes Interesse am Leben, an ihrer Umwelt, an anderen Menschen, daran, ihren Horizont zu erweitern. Wenn ich hier erzähle, dass ich mir für mein Bachelorstudium ein Jahr mehr Zeit als vorgesehen genommen habe, um Praktika zu machen, zu reisen und Erfahrungen fürs Leben zu sammeln, stoße ich bei anderen in Göttingen eher auf Verständnis für meine Entscheidung, als ich es in Frankfurt tat.

Weniger Sorgen

Viele Studenten vereint in meinen Augen eine gewisse Orientierungslosigkeit. Wir wissen alle nicht genau, wohin uns das Studium – vor allem in den Geisteswissenschaften – mal führen wird, aber eigentlich spielt es jetzt auch keine Rolle, weil wir die Zukunft sowieso nicht vorhersehen können und nicht wissen, was kommt. Freunde und Kommilitonen erzählen mir hier oft, was sie noch alles lernen, lesen, bereisen und erleben wollen. In meinem „Reading Club“ diskutieren wir nicht nur über Bücher, sondern auch über Politik und das Weltgeschehen, dafür aber weniger über Zukunftsängste, Berufsaussichten und Lebensvorstellungen.

Seit ich in Göttingen lebe, mache ich mir entsprechend weniger Sorgen um meine berufliche Zukunft. Jeden Tag lerne ich neue, faszinierende Themen, Texte, Worte und manchmal auch Menschen kennen, die mir neue Möglichkeiten und Wege aufzeigen. Was dann am Ende tatsächlich klappt, wird sich schon zur rechten Zeit offenbaren. Für mich war es in jedem Fall die richtige Entscheidung, nach Göttingen zu ziehen.

Je nachdem, welche Ansprüche man an seine Studienzeit und den Studienort stellt, kann es sich meines Erachtens sehr lohnen, in eine Studentenstadt zu ziehen. Mir persönlich fällt es viel leichter, im Hier und Jetzt zu leben, weil ich nicht mehr der Hektik und Schnelllebigkeit der Großstadt ausgesetzt bin und vom Wesentlichen abgelenkt werde, wenn viele verschiedene Sinneseindrücke gleichzeitig auf mich einströmen. Ich genieße es, an einem Ort zu leben, an dem ich mich voll und ganz auf mein Studium und alles, was dazugehört, konzentrieren darf.