Nur fünf Prozent der Studenten in Deutschland haben Kinder. In Schweden sind es vier Mal so viele. Ein Besuch bei Joakim in Stockholm, der schon mit Anfang 20 eine Familie gegründet hat und das zum Normalsten auf der Welt erklärt.
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„Ich bin immer so verwundert“, sagt Joakim, „wenn ich merke, dass andere verwundert über mein Leben sind. Für mich ist es das Normalste auf der Welt.“ Es ist Sonntagvormittag am Stadtrand von Stockholm, das sich hier eher nach Kleinstadt anfühlt. Grüne Vorgärten, Backsteinhäuser und zu dieser Zeit kaum Verkehr auf der schmalen Straße. Die wenigen Läden haben geschlossen, aber ein paar Jogger sind schon früh auf den Beinen. Rund um einen parkartigen Innenhof mit Spielplatz stehen flache (dreistöckige) verklinkerte Mehrfamilienhäuser. Hier wohnt Joakim, 28, mit seiner Familie auf siebzig Quadratmetern im Erdgeschoss. Er bringt gerade den Müll nach draußen, als der fremde Journalistenbesuch vor der Tür steht, welcher umgehend von zwei ausgelassen tanzenden Kindern begrüßt wird. „Weißt du, was das ist?“, fragt Vide, vier Jahre alt, und meint den aus dem Wohnzimmer herüberdringenden Song „I was made for loving you, baby“. „Das ist Kiss!“, verkündet er begeistert, und ist mit seiner älteren Schwester Lovis schon wieder verschwunden.
„Ich hatte immer diesen Gedanken, dass ich mal früh Kinder bekommen würde“, erzählt Joakim bei einem Tee am großen Küchentisch. „Vielen meiner Freunde ging es genauso, vor allem den Männern, würde ich sagen, auch wenn es nicht bei allen so passiert ist. Lovis und Vide waren eine ganze Weile die einzigen Kinder in unserem Freundeskreis. Dabei hätte man ja denken können, dass einige nachziehen, nachdem wir das erste Kind bekommen hatten.“
Als seine Tochter zur Welt kam, war Joakim 22, seine Freundin Emma, die sich heute wegen einer bevorstehenden Klausur zum Lernen ins Nebenzimmer verzogen hat, ein Jahr älter. Beide hatten gerade angefangen zu studieren und sagen heute, dass das an ihrem Leben als junge Familie kaum etwas geändert habe. In Deutschland hingegen wären die beiden mit ihrem Lebensentwurf zumindest in den Exotenstatus gerutscht – gerade einmal fünf Prozent der Studierenden in Deutschland haben Kinder, ihr Durchschnittsalter liegt mit 31 Jahren deutlich höher als das ihrer kinderlosen Kommilitonen -, in Schweden aber liegt die Zahl der Studierenden mit Kind bei 20 Prozent. Studium und Familie zu kombinieren, ist hier weit weniger ungewöhnlich. Was daran liegen mag, dass die Gesellschaft insgesamt und auch Arbeitgeber Kindern gegenüber entspannter, wohlwollender eingestellt zu sein scheinen als in Deutschland. Auch strahlen viele Schweden eine Art Grundvertrauen in den Staat und seine Sozialsysteme aus, die allerdings auch deutlich umfangreichere Unterstützung als die deutschen bieten.
Erziehung aus einer feministischen Perspektive
Als Emma 2010 erfuhr, dass sie schwanger war, beschloss Joakim zunächst, sein gerade begonnenes Ingenieursstudium für eine Weile zu unterbrechen und einige Monate als Verkäufer in einem Musikgeschäft zu arbeiten, um anschließend Anspruch auf ein höheres Elterngeld zu haben. Kurz nach Lovis’ Geburt ging dann zunächst Joakim ein gutes halbes Jahr in Elternzeit, danach seine Freundin Emma. Beide Eltern haben in Schweden Anrecht auf jeweils 240 Tage bezahlte Elternzeit, die innerhalb der ersten zwölf Lebensjahre eines Kindes eingelöst werden müssen, wobei es möglich ist, einen Teil des Kontingents vom einen auf das andere Elternteil zu übertragen. Die Dauer der Elternzeit ist damit ähnlich wie in Deutschland, jedoch sind die Beträge in Schweden deutlich höher – auch dann noch, wenn man die höheren Lebenshaltungskosten in Skandinavien mit berücksichtigt. Über das Elterngeld hinaus bekommen Joakim und Emma außerdem wie alle Studierenden in Schweden zusätzlich staatliche Unterstützung. Jeder Vollzeitstudierende hat Anrecht auf ein zinsfreies Darlehen (ziemlich genau wie Bafög) von umgerechnet gut 720 Euro im Monat und erhält zusätzlich einen staatlichen Beitrag von knapp 290 Euro im Monat, der nicht zurückgezahlt werden muss, ganz unabhängig von der persönlichen Lebenssituation. Damit gibt es in Schweden deutlich mehr und unkomplizierter Geld vom Staat als in Deutschland. Alle Bausteine zusammen genommen reichten aus, um davon als vierköpfige Familie gut zu leben, findet Joakim.
In der gemeinsamen Wohnung teilen sich Lovis und Vide ein Zimmer: Stockbett, Indianertippi, Schreibtisch, Spielküche, Ritterburg. „Oh Entschuldigung, es ist ein bisschen unordentlich“, sagt Lovis, die Fünfjährige, als sie dem Besuch ihr Zimmer zeigtm in dem lediglich ein paar Hosen und Pullover herumliegen.

Dass Emma die richtige Frau zum gemeinsamen Kinderkriegen war, daran hat Joakim nie gezweifelt, sagt er, sich aber auch nie große Gedanken darüber gemacht. „Ich habe nicht diese romantische Idee davon, dass wir jetzt auf jeden Fall unser ganzes Leben zusammen verbringen werden“, erklärt er. „Wer weiß, was in zwanzig Jahren ist? Das kann niemand sagen. Aber damals, bevor wir Kinder bekamen fühlte es sich gut an. Und jetzt fühlt es sich auch gut an.“ Als Emma schwanger war, habe er trotzdem kurz kalte Füße bekommen, sagt Joakim und grinst. Dabei habe er sich weniger Sorgen um die Beziehung als um das Alltagsleben mit einem Baby gemacht. „Im Nachhinein würde ich sagen, dass es viel einfacher ist, wenn die Kinder richtig klein sind. Solange sie schlafen und essen, tun Babys ja sonst nicht viel.“
Inzwischen geht es im Alltag statt um Windeln und Wechselwäsche um größere Fragen. „Ich reflektiere jetzt viel mehr, wie ich den Kindern begegne, ob ich sie gleichberechtigt behandle“, erzählt Joakim. Auch mit Emma diskutiert er oft über Erziehung: „Ich denke viel darüber nach, welche Rollen wir als Eltern haben, auch aus einer feministischen Perspektive“, erzählt der 28-Jährige.
Joakim vergleicht das Miteinander in seiner Kleinfamilie mit seiner eigenen Kindheit. Wenn er zu Hause etwas wissen musste, habe er immer seine Mutter gefragt, weil sein Vater einfach keinen Plan gehabt habe. Von sich selbst als Vater verlangt er mehr. „Es ist so leicht, eine gleichberechtigte Beziehung auf dem Papier zu führen. Man zählt, wie oft jeder spült oder die Wäsche macht und sieht zu, dass es gleich verteilt ist. Aber das reicht nicht. Es geht auch darum, dass beide die Initiative für all das ergreifen.“ Ob das gelinge, meldeten einem die Kinder zurück, sagt Joakim. Nur wenn beide Elternteile gleichermaßen nach Haushaltsdingen gefragt würden, sei alles gut.
Stockholm bietet viele Vorteile
Immer sonntags setzen sich Emma und Joakim zusammen, um einen Plan für die kommende Woche zu erstellen. Wer bringt wann die Kinder in die Kita, wer holt sie ab. Meist übernimmt das eine Elternteil Frühstück und den Vormittag, das andere den Nachmittag. Das Studium wird ans Familienleben angepasst. „Das geht ja recht flexibel. Ich stelle es mir viel schwieriger vor, wenn beide in Vollzeit arbeiten“, meint Joakim. Falls mal beide ein Seminar bis in den späten Nachmittag hinein haben, springen meist die Großeltern ein. Ansonsten versuche er, das Wochenende möglichst frei zu halten, sagt Joakim. Steht Gruppenarbeit mit anderen Studenten an, müsse er manchmal ein bisschen kämpfen, aber insgesamt sei er durch die Kinder viel effektiver beim Lernen geworden.
„Was heißt effektiv?“, will jetzt Tochter Lovis wissen. Sie hat bisher schweigend neben ihrem Papa am Küchentisch gesessen und eine Apfelsine gegessen. Joakim antwortet: „Das heißt: Wenn ich lerne, lerne ich auch wirklich und mache nicht noch jede Menge andere Sachen nebenbei.“ „Warum musst du lernen?“, fragt sie weiter. „Damit ich später einen Job bekomme.“ „Warum willst du einen Job?“ „Damit ich Geld verdienen kann.“ „Warum willst du Geld verdienen?“ „Tja, das ist eine gute Frage“, Joakim muss lachen, erklärt dann aber doch: „Wir brauchen Geld, um essen zu kaufen und die Wohnung hier zu bezahlen. Oder hast du Geld?“ Statt zu antworten läuft Lovis in ihr Zimmer und kommt mit einer kleinen, altmodischen Geldbörse voller Münzen zurück. „Das ist mein Geld“, sagt sie und verkündet: „Davon kaufe ich Eis. So viel es gibt auf der Welt. Dann reicht es für mein ganzes Leben und jeden Tag esse ich eins.“ Aus „effektiv“ wird „Eis“ – und das Thema ist vom Tisch.

Während andere Studenten noch ganz mit dem Erwachsenwerden beschäftigt sind, erklärt Joakim seinen Kindern schon die Welt. Während Kommilitonen feiern gehen, übt er Händewaschen und backt Kekse. Vermisst hat Joakim nie etwas, sagt er. „Diese ganze Studentenkultur war mir schon im Vorfeld fremd, dieser Gedanke, dass man jetzt an der Uni ist, sich sofort mit allen anfreundet und in dieser Parallelkultur lebt“, sagt er und setzt fort: “Weil ich in Stockholm aufgewachsen bin, hatte ich hier ohnehin schon einen Freundeskreis und ich bin genug damit beschäftigt, diese Beziehungen zu pflegen.“
Stockholm bietet für Emma und Joakim viele Vorteile. Nicht nur, dass beide Verwandtschaft in der Nähe haben, die sie unterstützt, sie können auch ziemlich sicher davon ausgehen, dass sie in Stockholm Jobs finden – Joakim als Ingenieur, Emma als Juristin. Das hat sich auch schon während des Studiums abgezeichnet, als Emma im vergangenen Sommer einen Vertretungsjob beim Verwaltungsgericht übernehmen konnte. Gut, um Erfahrung zu sammeln, aber auch für den Lebenslauf.
Es kommt, wie es kommt
Ist so etwas schwieriger, wenn man Kinder hat? „In meinem Fachgebiet sind Praktika nicht wirklich ein Thema“, sagt Joakim. „Für Emma als Juristin schon eher. Aber da macht es keinen großen Unterschied, ob man Kinder hat oder nicht. Den ganzen Sommer über im Praktikum zu sein, ist für niemanden entspannt. Und wenn es um die Bezahlung geht, muss man auch allein schauen, wie man über die Runden kommt“, sagt er.
Im vergangenen Jahr haben viele seiner Freunde Nachwuchs bekommen, Lovis und Vide sind jetzt nicht mehr die einzigen Kinder im Freundeskreis. Auch für Joakim und Emma wären weitere Kinder denkbar. Allerdings stehen beide kurz vor dem Abschluss ihres Studiums und damit kurz vor dem Berufseinstieg. „Das wäre jetzt vielleicht ein schlechtes Timing“, sagt er. „Andererseits soll der Altersunterschied ja auch nicht allzu groß werden … naja, es kommt, wie es kommt.“
Wenn man Joakim mit seinen Kindern in seinem Stockholmer Zuhause erlebt, erscheint es tatsächlich wie das Normalste auf der Welt, Papa und Student gleichzeitig zu sein.
Ja und?
Erstens fragt man sich, wie man mit 20 einen Hochschulabschluss haben kann? Zum Zweiten, wie auch immer, es ist dort offenbar kein existentielles Problem, Kinder haben zu wollen, ohne sich irgendein bescheuertes Stigma geben zu müssen. Funktioniert da wohl gut. Vollzeitkita sicher und gratis ist doch eine tolle Situation, und dann leistet man sich eben Nachwuchs! Das Problem HIER ist doch, dass sich Kinderlosigkeit auch hinsichtlich der Altersvorsorge “lohnt”, da mehr gezahlte Jahre und v.a. bessere/überhaupt mögliche Karriere; Andersherum, suchen Sie hier als (potentielle) Mutter mal eine höhere Vollzeitstelle – da wird nahezu jeder AG die Finger von lassen… Und aus irgendeinem wirklich bescheuerten Grund heraus hat hier auch jeder Oldie/ Rentner eine (abschätzige, gehässige) Meinung zu der Fortpflanzungstätigkeit “der Jungen”, anstatt mal zu entspannen und sich zu fragen, was sind wirklich die Probleme junger Paare/Familien/Mütter heute, aktuell, und wie werden wir die effektiv los? Immer diese deutsche Neiddebatte – unproduktiv!
Zur Kita in Schweden
Mit 20 einen Hochschulabschluss – das steht an keiner Stelle im Text und stimmt auch nicht. Joakim ist 28 und steht kurz vor seinem Abschluss.
Eine gesetzliche Kitaplatz-Garantie besteht in Schweden ab einem Alter von einem Jahr. Gratis ist die Kita nicht unbedingt: Auch in kommunalen Einrichtungen bezahlen Eltern dafür, in Stockholm beispielsweise zwischen 1 und 3 Prozent ihres Gehalts, je nach Kinderanzahl und mit Obergrenze. Ab einem Alter von 3 Jahren besteht Recht auf kostenlose Kita für 3 Stunden am Tag. Für alles, was darüber hinausgeht, müssen Eltern in der Regel zahlen.
Studieren während der Elternzeit in Schweden
Viele der studierenden Eltern in Schweden sind bereits Hochschulabsolventen und berufstätig. In der Uni eingeschrieben, lässt sich die Elternzeit herrlich vertreiben – als Student darf man sein Kind bei teils vollem Gehalt in der Kita betreuen lassen!
Das stimmt nicht ganz
Elternzeit bzw -geld bekommt nur, wer sich in der frei werdenden Zeit um das Kind kümmert. Das Kind währenddessen anderweitig betreuen zu lassen, ist nicht zulässig, ganz gleich ob das Elternteil studiert oder nicht.
Das ist die offizielle Regelung. Ob es in der Praxis Lücken gibt, kann ich nicht beurteilen.