Viele Menschen ertragen es nicht mehr, belehrt zu werden. Wer andere als Trottel oder abgehoben darstellen will, verpflanzt sie verbal ins „Proseminar“. Hat es das verdient?
***

Es gibt Wörter, die enttarnen ihren Sprecher. „Beratungsresistent“ ist so eines – denn wer andere so nennt, ist es doch meistens selbst. Verhält es sich mit dem Wort „Proseminar“ ebenso? Dessen Verwender saßen meist selbst in Proseminaren, geben sich mit ihrer Benennung als Insider akademischer Sphären zu erkennen, distanzieren sich aber gleichzeitig von ihnen, machen sich lustig. “Proseminar” eröffnet einen Kosmos an Vorwurf: Wichtigtuerei, Bildungsblenderei, Unausgegorenheit. Dazu vier Beispiele:
In der „taz“ hieß es vor einigen Wochen über ein New Yorker Künstlerkollektiv, es schütte ein „Füllhorn cooler Thesen” aus, die aber „nicht wirklich neu“ seien, von der “Post-Gegenwart” sei die Rede, der “Paradoxie des Virtuellen als Realen” und dem “Universellen, das in eine Vielzahl von Unterschieden aufgesplittert” sei. Der Kritiker fühlt sich „in ein Proseminar über Virtuelle Realität im Kunstgeschichtsstudium der neunziger Jahre zurückversetzt.“ Na und?
Noch so ein Begriff aus dem Proseminar!
Eine Reportage der „Süddeutschen Zeitung“ über „Blockupy“-Aktivisten war kürzlich mit „Wut als Proseminar” überschrieben. Zu ihrem Anführer heißt es: „Samuel Decker stammt aus einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg. Er sagt, dort gab es früher “keinen politischen Austausch und kein politisches Angebot. Deshalb sei er selbst aktiv geworden. Decker spricht über seine Jugend und klingt, als gebe er ein politisches Proseminar.“

Und über Friedenspreisträgerin Carolin Emcke schrieb Adam Soboczynski vor Monaten in der „Zeit“: „Leider kann Emckes menschenfreundliches Anliegen aber nicht über die Schwäche der Argumentation hinwegtäuschen. … In stark am Poststrukturalismus orientierten Analysekapiteln werden althergebrachte Vorstellungen von Homogenität, Natürlichkeit, Ursprünglichkeit und Reinheit dekonstruiert, und mitunter fühlt man sich beim Lesen in die schöne alte Zeit von Proseminaren der achtziger und neunziger Jahre versetzt“.
Aber ist die Gegenwart in Proseminarhinsicht eigentlich besser? Nein – so zumindest könnte man aus dem ersten Interview des Komikers Jan Böhmermann nach seinem Erdoğan-Gedicht ableiten. Darin spricht er von seiner Aktion als „Proseminar Schmähkritik“, welches die deutsche Gesellschaft übrigens, mit ihren teils zurückhaltenden und ablehnenden Reaktionen, wie die „Zeit“ folgert, „nicht bestanden“ habe: „Deutschland hat in hermeneutischer Hinsicht versagt“ – „hermeneutisch“, noch so ein Begriff aus dem Proseminar! Das “Proseminar” erscheint hier zwar zunächst in einem positiven Kontext, aber fungiert letztlich doch nur als Vehikel, um anderen ihre falsche (Humor-)Gesinnung vorzuwerfen. Jetzt gebe ich einmal ein Proseminar, und Ihr wagt es, zu scheitern!
Was eint die Diskursgemeinschaft?
Die Kontexte des Wortes „Proseminar“ widersprechen sich. Der Begriff denunziert einerseits – bei Böhmermann – eine Haltung des Sich-nicht-belehren-Lassens; andererseits, im Falle von „taz“, „SZ“ und „Zeit“, übermäßiges Belehren und Belehrtwerden, bezeichnet also hier zugleich Welterklärungsfuror und eine angeblich fehlende Reflexion über die eigene unzeitgemäße Methodik. Im Hintergrund wabern die ganzen Clichés über Hippies und Altlinke: nervige Koreferate, eng bedruckte Flugblätter, doofe Demo-Banner, hässliche Kunst, hohles Geschreibsel.
Aber warum ausgerechnet „Proseminar“? Warum wird gerade dieses Partikel aus der meist eigenen akademischen Laufbahn ausgewählt? Was steckt dahinter: berechtigte Ideologiekritik, pure Wissenschaftsverachtung?

„Das Proseminar hat seine eigene Dignität“, sagt der Soziologe Tilman Allert, der schon zu Hitlergruß und Latte Macchiato mikrosoziologische Untersuchungen publizierte. Er sieht dessen Diskreditierung und Karikatur als Ausdruck einer Entwicklung hin zur marktkonformen Universität, die aus den Bologna-Reformen resultiere. „Viele sehen Hochschulen“, das ist bekannt, „nur noch als Ausbildungsstätten für Berufe, und nicht mehr als Institutionen. Anwesenheitslisten, bürokratische Evaluationsprozesse, der Druck zu Perfektion und Selbstdarstellung sind Anzeichen dafür. Der Habitus des Wissenschaftlers steht unter Druck.“
Dieser Habitus, die Beherrschung wissenschaftlicher Methodik, sei das eigentliche Ziel universitärer Bildung, welches sie als „Diskursgemeinschaft“ eine. Darin spiele das Proseminar eine entscheidende Rolle: „Lehre ist sozial geschützte Asymmetrie. Die Leistung der Professoren muss darin bestehen, die Klugheit der dummen Frage zu erkennen und den Studenten eine Kundigkeit zu unterstellen, die diese dann immer erst im Nachhinein erwerben, sozusagen aus schlechtem Gewissen.“ Die graduelle Abstufung dieses Bildungsprozesses in Proseminar, Hauptseminar und Kolloquium vereinfache diese kontinuierliche Aufholjagd.
Das schaffen nur die Guten
Das will ich überprüfen, und nehme an einem Proseminar teil. An keinem von denen, die ich sonst besuche, ich will möglichst unvoreingenommen an die Sache herangehen. Die Veranstaltung mit dem Titel „Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte: Franken zur Zeit der Merowinger“ hätte mich interessiert, ich gehe auch hin. Leider fällt sie aus. Als Ersatz habe ich das Proseminar „Die Bedeutung von ‚Bedeutung‘“ herausgesucht, das klingt so schön herausfordernd. Seminare wie dieses sind gemeint, wenn Kritiker von „Proseminaren“ sprechen und in die Luft buntbehaarte, strickende Studierende malen, die im Kreischton Subjekterfahrungen und Emanzipationsversagen ihrer Mütter austauschen. Treffen die Vorurteile zu?
Ob ich ein „Saungast“ sei, fragt mich die Dozentin Louise Röska-Hardy mit amerikanischem Zungenschlag. Ich bejahe. Mit mir und der Forscherin zusammen befinden sich drei Menschen im Raum. Es geht um Sprachphilosophie, der Lüfter surrt, und der Beamer ist nach zwanzig Minuten Anschaltversuch pünktlich zu Proseminarbeginn einsatzbereit. Ihre Jacke hat die Dozentin auf die Türklinke gelegt. Alle sind ruhig und gelassen, keinerlei negative diskursive Vibrationen spürbar. Lernbereitschaft.
Der „Linguistic Turn“, Wortbedeutungen, Stereotype; Sprache, Sprecher, Welt. Während die tonangebenden Philosophen der Neuzeit vom individuellen Sprecher ausgegangen und dafür von Logikern später als „psychologistisch” gescholten worden seien, hätten Platon und Aristoteles die Welt als zentralen Ansatzpunkt gesehen, Ontologie und Metaphysik betrieben. So habe ich das noch nicht gesehen; Ordnung der Gedanken aus dem Chaos. Erkenntnisgewinn.

Ein Kommilitone betritt den Raum, abgehetzt und außer Atem, es ist halb Eins, er trägt Radlerhosen, im Januar. Außerdem ein enges, schwarzes Radlerhemd, dunkelblaue Radlerschuhe, einen Fahrradhelm und einen karierten Schal unter dem Radlerhemd. Kurz darauf kommt ein weiterer herein, groß und bärig, beide kramen ihre Bücher hervor.
In den Proseminaren, die ich sonst besuche, würde dieses Verhalten sonderbar wirken, doch hier ist es irgendwie in Ordnung. Die Dozentin freut sich über zwei weitere Zuhörer. Nach einigen Momenten herrscht wieder angespannte Aufmerksamkeit. Dialog gibt es kaum, vielmehr referiert Röska-Hardy unaufgeregt und recht anschaulich in durch Fragen an das Publikum unterbrochenen, gefühlt exakt zwölfminütigen Blöcken, auch wenn sie keine Antworten erhält. Nicht einmal ausweichende Blicke zeigen die jungen Studenten im Angesicht des sonst allseits gefürchteten Seminarschweigens; was aber auch sie, die Dozentin, nicht aus der Ruhe bringt. Das schaffen nur die Guten.
Kein Ort für akademische Pöbler
Hilary Putnam, auf dessen Buch „Die Bedeutung von ‚Bedeutung‘“ sich das Seminar bezieht, habe nach einem theorieunabhängigen Wahrheitsbegriff gesucht, erzählt sie. Das Wesen der Dinge hänge für ihn nicht an Sinneseindrücken und Narrativen, an oberflächlichen Eigenschaften. Begriffe wie „Extension“, „Querfeldein“- und „Flussidentität“ fallen. „Ostensiv“ sei dies und das, stimmt der Radler emphatisch ein. Seine Stimme klingt, als sei er überzeugt von dem, was er sagt, und das macht ihn angenehm und unanstrengend. Wichtigtuer sprechen anders.
Nach einer Stunde kommt eine kleine, ältere Frau in einem roten Mantel herein und setzt sich ins Proseminar, sie trägt ein Stirnband und hält sich zum Sehen eine zusammengefaltete Brille vor die Augen. Kurz vor Ende des Seminars fragt sie, ob sie noch ihr Referat halten könne. Röska-Hardy schlägt vor, es an den Beginn der nächsten Sitzung zu verlegen, und sie willigt sofort ein.
Die akademischen Pöbler, die andere als Proseminaristen schelten, sie saßen offenbar in anderen Kursen und dekonstruieren möglicherweise in die falsche Richtung. In dem besuchten “Bedeutungs”-Proseminar hingegen sollten nicht weniger, sondern mehr Studierende (oder Post-Studierende) sitzen. Man könnte auch eine Neuauflage in Erwägung ziehen: ein Proseminar über Proseminare.
Give that man a medal
Text eingeben
Also ich musste ...
… für mein erstes Proseminar den Beweis des Satzes von Gelfand-Kolmogoroff (der besagt, dass ein kompakter topologischer Raum Y homöomorph zum Raum der nichttrivialen Homomorphismen des Rings der stetigen reellwertigen Funktionen auf Y in die reellen Zahlen ist) ausarbeiten und vortragen. Ein wichtiges Korollar besteht darin, dass zwei kompakte Räume homöomorph sind, wenn ihre Funktionenringe isomorph sind. Und ich finde, dass ein Proseminar die beschriebene Behandlung nicht verdient hat. ;-)
beratungsempfänglich
danke für dieses proseminar