Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Verträgt sich Uni mit einer Fußballkarriere?

Studierende Fußballer in den höheren Ligen sind eine große Seltenheit. Benjamin Schmidt und Chiara Benedetto haben es trotzdem gewagt. Hier berichten sie von ihren Erfahrungen.

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Lehramtsstudent Benjamin Schmidt spielt in einem besonderen Fußballverein

Sonntagnachmittag im Leutzscher Holz. An kleinen Buden werden Kirschkuchen, Frikadellen und Bier verkauft. Ehrenamtliche verteilen Flyer für die Aktion „Flutlicht für Leutzsch“ und gegen das Sächsische Polizeigesetz, das vor allem Fußballfans unter Generalverdacht stelle. Es ist der 18. Spieltag der Fußball-Oberliga. Allerdings ist die Oberliga längst nicht mehr die höchste Spielklasse wie zu DDR-Zeiten, sondern mit der Präzisierung Oberliga Nordost, Staffel Süd nurmehr fünftklassig. Die BSG Chemie Leipzig lädt zum Heimspiel nach Leutzsch, in einen westlichen Ausläufer der Stadt. FSV Wacker 90 Nordhausen II heißt das gegnerische Team, das mit einem umkämpften 2:1 nach Hause geschickt wird.

Der Alfred-Kunze-Sportpark der BSG strahlt im stumpfen Glanz einer aufgemöbelten Spielstätte für Amateurfußballer. Es riecht nach Erde, nach Pisse, nach Rauch und ein wenig riecht es auch nach Regionalliga. Aktueller Tabellenplatz: zwei. Von den fünftausend Plätzen sind heute trotz Sonne nicht einmal die Hälfte belegt. Im Block macht sich der Chemie-Fanclub “Diablos” über 90 Minuten für seine Grün-Weißen stark, immer wieder werden Transparente hochgehalten, mal mit Geburtstagsgrüßen an Sabine, mal mit den üblichen Phrasen, die man aus den Kurven in Dortmund, Frankfurt oder München kennt. Kurz nach der Halbzeitpause überraschen die Leipziger Ultras mit dem Slogan: „Nieder mit dem Patriarchat!“

Die BSG ist längst nicht mehr der Zusammenschluss von sportbegeisterten Chemie-Arbeitern aus Leipzig-Leutzsch. Durch seine bewusst gelebte Geschichte zieht der Club neben alteingesessenen Leutzschern vor allem ein junges, links-alternatives Publikum an, also viele Studenten und Studentinnen. Und nicht nur im Fanblock geben angehende Akademiker jeden zweiten Sonntag ihr bestes: Student Benjamin Schmidt ist Innenverteidiger – und angehender Lehrer. An der Universität Leipzig studiert er Sport und Ethik. Auch seine Teamkollegen bei Chemie Leipzig haben mit Reagenzgläsern und Erlenmeyerkolben nicht mehr viel am Hut.

Benjamin Schmidt im Zweikampf

Vor zwei Jahren beschwerte sich der Bundesligaspieler Nils Petersen über die intellektuelle Leere in der Fußballbranche: „Salopp gesprochen verblöde ich seit zehn Jahren, halte mich aber über Wasser, weil ich ganz gut kicken kann“, so der Stürmer, der sich aus Jena über Cottbus und Freiburg in die 1. Bundesliga hochgekämpft hat. Vielleicht hätte Petersen sich nach dem Abitur am Sportgymnasium Jena nicht allein auf die sportliche Karriere konzentrieren sollen, denn, wenn die Profi-Zeit vorüber ist, wagt es kaum ein ehemaliger Spieler mehr, doch noch die Hochschulbank zu drücken.

Benjamin Schmidt hingegen beweist, dass Kicken und Campus sich keineswegs ausschließen. Vormittags besucht er Seminare, hält Referate, bereitet Gruppenarbeiten vor. Anschließend steht er auf dem Trainingsplatz, Tag für Tag. Dazwischen bleibt ihm oft nur eine Stunde, die er meist im Café Dankbar verbringt. Dort kennen ihn alle, so viel Ruhm muss sein, auch in der fünften Liga.

Hier, unweit der Arena des Bundesligisten Rasenballsport Leipzig, treffen sich Fußballer, Fans und die Hipster des Leipziger Waldstraßenviertels. Drei Jahre lang war Benjamin Schmidt zwischendurch für die zweite Mannschaft von RB aufgelaufen, bevor er wieder zur Betriebssportgemeinschaft wechselte: „Chemie weiß, was sie an mir haben und ich weiß, was ich an Chemie habe“, sagt der etwas in sich gekehrte Verteidiger und nippt an einer heimischen Zitronenlimo. Seine Karriereplanung scheint damit so gut wie abgeschlossen: „Ich hoffe, dass ich mein Studium noch so lange ziehen kann, bis ich nicht mehr aktiv Fußball spiele.“

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Kickt seit dem achten Lebensjahr: Chiara Benedetto

Den Luxus, mit Ballsport ein Studium zu finanzieren, können sich die weiblichen Kolleginnen Schmidts in der Regel nicht leisten. Chiara Benedetto ist ebenfalls Studentin, ebenfalls Fußballerin, doch ihre Situation ist gegenläufig zu der von Benjamin Schmidt. Mit zwanzig Jahren steht die Spielerin von RB Leipzig noch immer am Anfang ihrer Karriere. Im ersten Team der Frauenfußballabteilung, die erst seit 2016 besteht, spielt sie in der drittklassigen Regionalliga. Aktueller Tabellenplatz: drei. Der Aufstieg in die zweite Liga ist für diese Saison so gut wie verfehlt. Doch selbst wenn das junge Team den Aufstieg schaffen sollte, haben die Spielerinnen keine Aussicht auf ein ernstzunehmendes Gehalt.

Letztes Jahr ist Benedetto der Doppelbelastung von Abitur und Leistungssport beinahe erlegen: „Ich hatte keine Lust mehr auf gar nichts!“ Die physische und psychische Überlastung führt zu einem Innenbandriss am Knie. Die anschließende dreimonatige Verletzungspause im Sommer 2018 hat dann vielleicht sogar ihre Karriere gerettet, wobei den größten Anteil wohl die sportpsychologische Betreuung des Vereins und die Trainerin Katja Greulich hatten, die Benedetto überzeugen konnten, weiterzuspielen. Mit Erfolg: Nur eine Kollegin hat in der aktuellen Saison mehr Spielminuten aufzuweisen als die 1999 geborene Abwehrspielerin.

Wer auf dem Fußballplatz keine Freundschaften schließt, hat im stressigen Leben eines Leistungsportlers bald keine mehr.

Was bei alldem zu kurz kommt, ist ihr Soziologiestudium: „Ich merke manchmal, dass das viele Lernen im Zusammenspiel mit dem Leistungssport nicht unbedingt das Richtige für mich ist.“ Schon in ihrem ersten Semester hat Benedetto nicht alle Klausuren mitgeschrieben. Sie will aber auch nicht zur Langzeitstudentin werden, spielt vielmehr mit dem Gedanken, abzubrechen und eine passende Ausbildung zu finden, vielleicht in einem Physiklabor. Wie das mit den hohen Anforderungen von RB vereinbar wäre, weiß die Innenverteidigerin noch nicht. Fußballprofi zu sein und dazu auch noch kein Mann, das sind auch 2019 noch zu viele Steine auf dem Weg zu einem akademischen Abschluss.

Seit Benedetto acht Jahre alt ist, spielte sie in einem Dorfverein im Piemont. Als sie 13 wird, hat ihre deutsche Mutter die Idee, Chiara nach Leipzig zu schicken. Nicht nur, weil dort die Oma lebt, sondern vor allem wegen der modernen und besser ausgestatteten Nachwuchsförderung für angehende Fußballerinnen. Benedetto lebt ein Jahr lang alleine mit ihrer Großmutter, hat in der Schule mit Mobbing zu tun und wechselt bald von Lok Leipzig ins Leistungszentrum von RB. Damit ist sie angekommen im System Leistungssport.

Wenn sie vor einer Trainingseinheit auf einer Auswechselbank sitzt, um von ihren beruflichen und sportlichen Zielen zu erzählen, wirkt Vieles an ihr, als wäre es kaum in einer Person zu vereinen: Die kindliche Leidenschaft in ihren Augen, wenn sie vom Kicken erzählt, reibt sich mit der depressiven Phase während des Abiturs. Ihre jugendliche Nervosität mit dem professionellen “Sportschau”-Sprech, mit dem sie die vorbildlichen Trainingsbedingungen ihres Vereins lobt und von der fortschreitenden Anbindung der nur langsam gedeihenden Frauenabteilung an die Erfolgskonzepte der männlichen Profis spricht. Natürlich ist sie selbst professionell genug, ihren Mitspielerinnen jeden Einsatz zu gönnen. Die Stimmung im Team ist freundschaftlich. Etwas anderes bleibt den Spielerinnen auch nicht übrig, denn Zeit für Freundschaften abseits des Trainingsplatzes bleibt kaum.

Für Benjamin Schmidt ist sein Verein mehr als ein Arbeitgeber

Die Spielstätte der Betriebssportgemeinschaft Chemie soll ausgebaut werden. In einer Crowdfunding-Aktion versuchen Fans und Verantwortliche der BSG seit Jahren, das für die Regionalliga-Lizenz notwendige Flutlicht zu finanzieren. Eine überlebensgroße Beton-Elf neben der Tribüne namens Dammsitz erinnert an die sportlichen Hochzeiten von Chemie: Die DDR-Oberliga-Meisterschaft von 1964 unter Trainer Alfred Kunze. Dem sogenannten „Rest von Leipzig“, dem Team, das sich aus vermeintlich nicht förderungswürdigen Spielern zusammensetzte, gelang der Coup, weit vor dem geförderten SC Leipzig, für den all diejenigen aufliefen, die die Leipziger Sport- und Parteioberen als erfolgversprechend einschätzten.

Als Benjamin Schmidt sechzehn war, hatte er ein Angebot des Bundesligisten Werder Bremen. Man riet dem Teenager, seinen Heimatverein zu verlassen, im Westen sei die Nachwuchsförderung noch einmal besser als in Leipzig. Eine Chance wie diese bekommen die meisten nur einmal. Doch Schmidt blieb bei seinem Heimatverein, auch weil er zur damaligen Zeit kein Elternhaus hatte, das ihn untertstützte. Er blieb Leipzig treu und schaffte es, mit nur zwei anderen Nachwuchsspielern aus den neuen Ländern in die U16-Auswahl der Nationalmannschaft berufen zu werden. Einer davon war Toni Kroos, den es bald von Hansa Rostock zum Rekordmeister nach Bayern verschlug. Schmidt schrieb sich derweil für Lehramt ein und genoss es, sich mit dem Fußball das Studium zu finanzieren. Fußball bedeutet ihm mehr als ein Hobby, die BSG Chemie ist für ihn mehr als nur ein Arbeitgeber.

Das wird auch deutlich, wenn man die „Flutlicht EP“ hört, die er mit einem befreundeten Fan aufgenommen hat, um seinen Verein ideell und finanziell zu unterstützen. Die sechs Lieder mit leidenschaftlichem Deutschrap sind ganz der BSG gewidmet, aber sie sind mehr als Fankurven-Schlager. Im Video zu „Grünes Blut“ sieht Schmidt aus, als hätte er neben dem Studium jede Menge Freizeit, die er in Clubs, an den Leipziger Seen oder eben dem Chemie-Fanblock verbringt. Doch auf Zerstreuung in Form von Feiern, Faulenzen oder Fanta-Korn-Gelagen muss er weitgehend verzichten. Selbst eine seiner Beziehungen ist dem Fußball zum Opfer gefallen. Zu kurz ist sein Tag und zu viel Raum nimmt das Kribbeln ein, wenn er daran denkt, dass der Wiederaufstieg in die Regionalliga greifbar nahe ist und er noch einmal für ein, zwei Jahre Profi sein kann.

„Neunzehnvierundsechzig / wir waren nicht Teil des Systems, wir waren Teil des Vermächtnis‘“, rappt der 29-Jährige in der BSG-Hymne gemeinsam mit Siriuz: „Ich hab‘ den Titel nie geholt und trotzdem fühl‘ ich mich belohnt.“ Auch nach dem Karriereende kann er sich vorstellen, für Chemie Leipzig zu arbeiten, wenn auch nicht als Trainer. Dafür wird er dann wieder keine Zeit haben, weil er abermals täglich auf dem Sportplatz steht – diesmal allerdings als Sportlehrer an einer sächsischen Oberschule. Für eine derart stabile und attraktive berufliche Perspektive wäre mancher Profifußballer dankbar.