Aber was macht man dann später damit? Dieser Frage musste sich unser Autor während des Studiums immer wieder stellen. Vom Balanceakt zwischen Idealismus und Zukunftsängsten.
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Genervt fixiere ich mein Gegenüber im Innenhof der Uni und überlege mir, welche Antwort ich nun geben soll: „Naja, man kann zum Beispiel im Museum arbeiten“, „viele schlagen auch eine akademische Laufbahn ein“, oder „wenn es gut läuft, kann man auch in den Journalismus gehen“. Das sind die Standard-Antworten. Ich könnte natürlich auch: „Ich gedenke, die soziokulturelle Relevanz geisteswissenschaftlicher Studiengänge und ihre Effizienz in der medialen Repräsentation ihrer digitalen Abbilder in Korrelation mit selbstreflexiver Überhöhung der jeweiligen AutorInnen-Autobiographien zu erforschen“ antworten. Ich zögere noch einige Momente, sage aber letztlich doch nur: „Mal schauen. Irgendwas mit Medien“. Ich drehe mich um und gehe zum nächsten Seminar, zu dem ich schon wieder zu spät komme.
Aufgeschlossen, kommunikativ und flexibel
Während der Dozent, mit dem ich in der vorigen Nacht noch das ein oder andere Bier gekippt habe, gerade den Seminarplan erläutert, hole ich meinen Laptop aus der Tasche. Ich starre auf die Power-Point-Folie und überlege mir halbherzig, ob ich jetzt über Nietzsches “Ecce homo” oder doch lieber über Freuds “Traumdeutung” und deren literarische Implikationen referieren soll, als mich der Startsound von Windows aus meinen Gedanken reißt. Ich murmle „Sorry“ und deaktiviere den Ton, während ich routiniert mein Passwort eingebe. Erstmal Facebook checken. Ich scrolle die Angebote in der Job-Gruppe durch, in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden.

Erst gestern kam nämlich der BAföG-Bescheid, in dem stand, dass ich die Regelstudienzeit überschritten habe und deshalb kein Geld mehr zu holen sei. Das Einzige, was man mir anbieten könne, sei ein Studienkredit bei der KfW. Da ich der Kreditanstalt für Wiederaufbau aber aus Bachelorzeiten noch genug schulde, habe ich beschlossen, mich alleine durchzuschlagen. Das HiWi-Gehalt ist zwar ein kleiner Anfang, reicht aber nicht mal für die Miete. Also weiter durchklicken. „Umzugshelfer gesucht! Du bist aufgeschlossen, kommunikativ und flexibel? Du kannst mit anpacken und scheust dich nicht, auch mal vom frühen Morgen bis in den späten Abend zu arbeiten? Dann bist du bei uns genau richtig. Beginnend bei 9,50€ die Stunde fährst du Transporter, zerlegst Möbel und schleppst Kartons. Zusätzlich hast du mit einem Führerschein der Klasse B beste Möglichkeiten, Teamleiter zu werden.“ Dieser Abzocker, denke ich mir. Erst vor ein paar Monaten hat er mich rausgeworfen, weil ich ihm gesagt habe, dass die 11 €/Stunde exklusive Anfahrtszeit und Auslagen, die er uns zahlt, absolut nicht gerechtfertigt sind und dass ich es nicht gerade toll finde, wie er seine Leute ausnutzt. „Wenn es dir nicht passt, such’ dir woanders was, wir finden schon genug Leute.“ Recht hat er ja traurigerweise. Aber mitmachen wollte ich da trotzdem nicht. In einer Stadt, in der ein WG-Zimmer gut und gerne 450 € kostet, ist es allerdings schon frech, zu diesen Konditionen Möbel schleppen zu lassen.
Als ich mich gerade in Reflektionen über meine ach so prekäre Situation suhlen will, postet ein Freund (der eigentlich auch gerade in einer Vorlesung sitzen müsste) einen Artikel über die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken in Bangladesch. Das rückt die ganze Situation wieder in eine andere Perspektive. Also weitersuchen, hilft ja doch alles nichts. Da stoße ich auf ein Angebot. „Verkaufstalent gesucht, 10,50 €/h Stunde, einfach eine E-Mail mit deinen Bewerbungsunterlagen an XY schicken.“ Naah. Lieber doch nicht. Ich will gerade die Jobbörse vom Studentenwerk aufsuchen, als mich der Dozent aus meiner Recherchearbeit reißt. „Und welches Referat wollen Sie übernehmen?“ „Äh, was ist denn noch frei?“ „Nietzsche oder Freud.“ „Mist!“, denke ich mir, weil mir die Entscheidung nicht abgenommen wurde und frage, ob ich es mir noch überlegen und gegebenenfalls auch einen Essay schreiben könne. Geht klar. Gut.
Die Fesseln der Freiheit
Nach dem Seminar treffe ich einen Freund im Innenhof. „Hey, wie geht’s?“, floskele ich ihn an, obschon ich die Antwort bereits erahne. „Geht so. War gestern beim Psychiater, bekomme jetzt wahrscheinlich Antidepressiva, dass ich meinen Arsch mal hochbekomme.“ „Hm-hm“, antworte ich ihm und frage: „Und sonst so?“ Er: „Konnte zum Glück die Frist für meine Hausarbeit verlängern und muss noch drei Referate vorbereiten. Dann muss ich mich entscheiden, wo ich meinen Schwerpunkt legen soll, voll der Mist. Verdammte Wahlmöglichkeiten.“ „Wem sagst du das!“, sage ich, während ich mir Gedanken darüber mache, wo das herkommt, dass sich so viele junge Menschen nicht motivieren können und alle irgendwie erschlagen werden von der schieren Unmenge an Möglichkeiten. Diese scheinbar endlose Freiheit in der Lebensgestaltung scheint bisweilen vielen Fesseln anzulegen.
Ständig soll man sich verwirklichen. „Sei du Selbst!“ schreit es einem aus allen Ecken entgegen. Viele reagieren verängstigt. Wie, bitteschön, soll man denn man selbst sein, wenn man keine Ahnung hat, wer oder was das sein soll? Stagnation und Prokrastination sind dann oft die Folge dieser endlosen Fülle an Angeboten. Wenn man doch bloß Netflix studieren könnte. Dann fallen mir wieder die Arbeitsbedingungen in Bangladesch ein. Jaja, schon recht, uns geht’s ja allen gut. Doch da, denke ich wieder, liegt der Hund wahrscheinlich auch begraben. Ist es nicht ein Luxusproblem, sich Gedanken darüber machen zu müssen, was man denn mit seinem Leben anfängt? Und wenn uns die Wahlmöglichkeiten noch hundertmal erschlagen, müssen wir nicht froh sein, sie zu haben? Ich weiß darauf keine Antwort. Zum Glück studiere ich nicht Philosophie, denke ich mir. Die müssen sich bestimmt mit sowas herumschlagen. Als ich gerade darüber nachdenke, mich für ein Auslandssemester in Bangladesch zu bewerben, tippt mir mein Freund auf die Schulter: „Hallo Phil? Hast du mir grade überhaupt zugehört? Gehen wir jetzt was essen oder nicht?“ „Äh, klar, lass was essen gehen“, sage ich. Wir machen uns auf den Weg zur Pasta Bar.

Mit einem schwer verdaulichen Gemisch aus Hartweizengrieß, Sahne und Schinken im Magen stehe ich in der Aula vor dem schwarzen Brett und studiere die Jobangebote. „Studentische Aushilfe für Lagertätigkeiten in einem jungen Unternehmen gesucht“ – hatte ich schon, zu langweilig, da stumpft man ab. „Deutschnachhilfe für 8. Klasse Gymnasium“ – wäre eine Überlegung wert. Dann: „Kleine Montagearbeiten für großes Unternehmen.“ Das wäre doch was, denke ich mir und suche nach den Kontaktdaten. Mist. „Angestellt auf Basis einer kurzfristigen Beschäftigung.“ Dafür ist mein Pensum in diesem Jahr schon aufgebraucht. 90 Tage darf man im Jahr nämlich maximal als kurzfristig beschäftigt arbeiten. Und die habe ich im Sommer schon aufgebraucht. Als Aushilfe auf der wunderschönen Insel Mainau habe ich zwischen Rentner- und Kindergartengruppen den Sommer über geschwitzt und geackert. Kann man mal machen, man bekommt dann auch wieder richtig Lust zu studieren. Aber egal, hilft mir jetzt nicht weiter. Also weitersuchen. „Aushilfe für Bürotätigkeit gesucht.“ Zu öde, bei dem Wetter will ich doch nicht den ganzen Tag drinnen sitzen. Irgendwie scheint heute wohl nichts dabei zu sein. Kurz überlege ich mir, mich wieder bei meinem alten Auftraggeber zu melden und mein Kleingewerbe wieder aufleben zu lassen. Konzertaufbau in der Schweiz. Gut bezahlte Arbeit, auch wenn wir dort eigentlich den Lohn drücken. Doch mein Arzt hat’s mir verboten, ist nicht gut für den Rücken. Dann eben nicht. Ich finde mich mit dem Gedanken ab, heute keinen Nebenjob zu finden. Zum Glück ist der Balkon noch voller Pfandflaschen, da kann man nochmal davon einkaufen. Schließlich gehe ich in die Bibliothek und mache, wofür ich theoretisch an die Uni gekommen bin: Studieren.
Kulturindustrie
Als ich zum gefühlt zehnten Mal, für unterschiedliche Seminare, Adornos „Kulturindustrie“ lese, überkommen mich wieder einmal die Zweifel. Ist es das Richtige, was ich studiere? Hätte ich nicht lieber BWL oder irgendeine Naturwissenschaft studieren sollen? In den Naturwissenschaften hat man wenigstens richtige Ergebnisse, da läuft alles irgendwie geradliniger ab. Richtig oder Falsch, dazwischen gibt es nicht viel. Bei uns Geisteswissenschaftlern kommt immer alles darauf an, wie man es betrachtet, welche Theorie man anwendet. Und letztlich kann man dann aus Kapazitätsgründen doch keine definiten Aussagen treffen. Ich schiele zu meinem Nachbarn herüber, der über dem dicken roten Schönfelder sitzt und sich Notizen macht. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn fast schon beneide: Der muss sich nicht überlegen, was er später damit macht, der weiß genau, wo es langgeht. Wahrscheinlich zahlen ihm Mami und Papi das Studium, dem geht’s sicher gut. Dann sehe ich, wie er einen Blister Ritalin aus seiner Tasche kramt und zwei Kapseln mit Automatenkaffee runterspült. Hm. So geil ist das dann wohl auch wieder nicht, denke ich mir und widme mich weiter Adorno.
Nachdem ich mit Adorno fertig bin (oder er mit mir?), beschließe ich, das ausstehende Seminar zu kicken und nach Hause zu gehen. Ich rufe meine Schwester an und klage ihr mein Leid. Als ich erwähne, dass ein Seminar sogar schon um acht Uhr anfängt, lacht sie mich schallend aus: „Stell dich nicht so an, ich habe diese Woche Nachtschicht und muss am Sonntag komplett durcharbeiten. Wochenende ist gestrichen. Alten Leuten ist egal, ob es Samstag oder Dienstag ist, die sind immer alt.“ Ähnliches hat sie zu meinen Geldsorgen zu sagen: „Dann such dir halt nen Job, du wirst schon was finden. Arbeit gibt’s immer. Vor allem für euch faule Studenten!“ Irgendwo hat sie ja recht, denke ich mir, während ich mit einem Zischen mein Feierabendbier öffne. Ein letztes Mal überlege ich mir, was ich später mit meinem Studium anfange. Dann kommt erstmal irgendwas mit Netflix.
Erfüllung
Man studiert etwas, was einen erfüllt. Wenn man etwas studiert, weil man irgendwie irgendetwas haben will, was vermutlich erfüllt, weil nicht 0815, der hängt halt so in den Seilen.
Ist das Forschungsthema im Eingang eigentlich halb-ernst oder nur Buzzwordsammlung
Ich weiß es echt nicht. Desto weiter etwas vom eigenen Fachgebiet wegliegt, desto weniger kann man das beurteilen. So muss ich beispielsweise regelmäßig erklären, dass Drehmaschinen üblicherweise nicht in der Tabakindustrie eingesetzt werden und dass da 1/10 Millimeter Unterschied Welten ausmacht.