Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Wie ich einmal Perser wurde

Das Schauspiel Leipzig stellt gerade mit „Die Maßnahme/Die Perser“ eine gigantische Doppelinszenierung mit über hundert Beteiligten auf die Bühne. Wie es ist, als Material der Masse dabei zu sein – Probentagebuch eines Statisten.

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© Bettina StößVerzweiflung: Xerxes (Felix Axel Preißler) vor dem Rat der Ältesten

Blutplasma spenden, Telefonumfragen durchführen, Glückskekssprüche texten: Studierende tun viel, um die Monate zu überbrücken, die verstreichen, bis ihr Bafög-Antrag endlich bearbeitet und der erste Kredit auf dem Konto gelandet ist. Glück haben diejenigen, deren Nebenjob mit ihrer Fachrichtung zu tun hat. Theaterwissenschaftler jedoch müssen oftmals monatelang unbezahlte Arbeit als Regieassistenz ableisten, bevor sie eine erste bezahlte Hospitanz bekommen. Zu groß ist die Konkurrenz aus anderen Geisteswissenschaften oder den praxisorientierten Dramaturgie- und Regie-Studiengängen.

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29.10.2017, 14.05 Uhr

Die Sache mit dem Theater ging nicht gut los. Als die Regieassistentin mich zum Casting einladen will, habe ich mein Handy verloren. Ein Mann aus Hildesheim nimmt ihren Anruf entgegen, sein Sohn habe das Telefon im Wald gefunden. Die Assistentin schreibt mir in einer Mail, wo ich mein Handy finden kann. Bald darauf habe ich mein Telefon zurück und noch dazu eine Einladung zum Casting am Schauspiel Leipzig. Die erschwerte Kontaktaufnahme schreckte offenbar niemanden ab.

31.10.2016, 17.29 Uhr

Ich begebe mich auf die Suche nach der Probebühne 1: Von der Pforte über Aufgang B in die Zwischenetage Z, wo ich über das Treppenhaus A wieder ein halbes Stockwerk tiefer geschickt werde, dann noch drei mal ums Eck: ein gutes Warm-Up für Stimme und Körper. Der Chorleiter meint, mich von irgendwoher zu kennen, was mich peinlich berührt. Ich bin sicher, dass ich ihn noch nie gesehen habe, nicht einmal seinen Nachnamen kenne ich. Dann die Tonleiter hoch und wieder runter. „Aha, hier knödelst du ein wenig … Vielen Dank.“ Nach zwei Minuten hat er genug gehört.

22.11.2016, 19.00 Uhr

Ich bin auf der ersten Probe des Sprechchores, für Hanns Eislers Musik zu Brechts „Die Maßnahme“ hat mein unausgebildeter Bass nicht gereicht. Texthefte werden ausgeteilt, große, kleine und winzige Zäsuren gesetzt. Beim ersten chorischen Lesen holpert es noch, dabei wird mit Durs Grünbeins zugänglicher Übersetzung von Aischylos’ Tragödie gearbeitet. Kein Vergleich zu Heiner Müllers elliptischer Interlinearversion, die bei aktuellen Inszenierungen der „Perser“, etwa am Deutschen Theater Berlin (2006) oder beim Festival Theaterformen (2008), zur Aufführung kam. Noch immer weiß ich nicht, wie der Chorleiter heißt, ganz zu schweigen von den vierzig Kollegen und Kolleginnen, die mit mir versuchen, den verschachtelten Text von Aischylos zu begreifen – oder zumindest fehlerfrei auszusprechen.

Die erste Überraschung: Wir wurden gänzlich ungeprobt zu den Ruhrfestspielen nach Recklinghausen eingeladen.

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Neben unbezahlten Praktika gibt eine andere Möglichkeit, hinter die Kulissen eines Schauspielhauses zu blicken: die Statisterie. Im deutschsprachigen Raum greifen Regie-Teams immer öfter auf die alte Praxis des Chorsprechens zurück. Dabei kommen vermehrt auch Laien zum Einsatz – am Schauspiel Leipzig zuletzt bei „Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen“ von Intendant Enrico Lübbe und bei Claudia Bauers Romanadaption „89/90“ nach Peter Richter, die zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen wurde. „Ein erheblicher Teil der Ehre gebührt dabei dem Chor“, schrieb Matthias Schmidt auf Nachtkritik.de. Ein Ansporn.

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19.12.2016, 21.30 Uhr

Die letzte Probe des Jahres ist geschafft. Mittlerweile hat der Dramaturg Torsten Buß eine Einführung in die beiden Stücke gegeben. Aischylos hat die Schlacht bei Salamis aus Perspektive der Perser beschrieben. Doch er blickt nicht höhnisch auf die Hybris des persischen Heerführers Xerxes, dessen misslungener Feldzug gegen die Griechen eine Epochenwende einläutete. Die Uraufführung von „Die Perser“, dem ältesten vollständig erhaltenen Drama, hätte König Xerxes selbst miterleben können, wäre er im Jahr 472 v. Chr., acht Jahre nach seinen Feldzügen, zu den Dionysien in die Athener Akropolis eingeladen gewesen.

© Michael Peter“Woher Wohin” ist das Motto der laufenden Spielzeit in Leipzig. Auf der Probebühne sind die beiden Fragen stets präsent. Vorne: Schauspieler Dirk Lange

30.1.2017, 20.30 Uhr

Zwei Abende in der Woche Aischylos sprechen: bitteres Unglück, unsagbares Leid; überwältigt, vernichtet und geschlagen das eigene Heer – es gibt erbaulichere Gruppenerlebnisse. Doch unter den Sprechenden entstehen in der Theaterkantine erste Cliquen und Freundschaften. Mit einigen pensionierten Lehrern, einem Altenpfleger und einem Tantramasseur sowie arbeitssuchenden Sprechwissenschaftlerinnen, ausgebildeten Schauspielern und einer Menge Studierenden ist die Gruppe breit aufgestellt. Altersspanne: 19 bis 73 Jahre. Mittlerweile konnte ich auch herausfinden, wer unser Chorleiter ist.

16.2.2017, 18.00 Uhr

Die schlechte Nachricht: Textkürzungen für den Chor. Das ganze Auswendiglernen war umsonst. Die gute Nachricht: Wir Perser bekommen einen Gastauftritt in Bertolt Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“. Dass wir neben Artikulation und Stimme nun auch eine Choreografie einüben, ist willkommene Abwechslung.

© Michael PeterDer Autor des Artikels (l.) empfängt mit seinen Chorkollegen die Instruktionen des Intendanten Enrico Lübbe (Zweiter von links).

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Auch wenn die Probenpauschale in Höhe von 700 Euro den enormen zeitlichen Aufwand kaum rechtfertigt, lohnt sich für den Theaterwissenschaftler der Blick in die Praxis. Nicht, um das eigene Geltungsbedürfnis auf der Bühne zu befriedigen, dafür wäre der Sprechchor nicht die richtige Wahl. Auch nicht wegen der Rauchpausen und Feierabendbiere mit den Profis, wenn über Arbeitsbedingungen gejammert wird, abergläubische Theater-Rituale weitergegeben und Kontakte geknüpft werden.

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14.3.2017, 11 Uhr

Die Endprobenphase beginnt. Von nun an verbringen wir unsere Freizeit fast täglich auf den Probebühnen des Schauspiels. Oftmals sind es mehr als acht Stunden am Tag. Mir ist rätselhaft, wie Chormitglieder ihre Arbeit und Elternschaft mit diesem Engagement vereinbaren. Ich komme nicht einmal dazu, die anstehende Hausarbeit zu schreiben.

21.3.2017, 19 Uhr

Die erste Durchlaufprobe in Kostüm und Masken. Mit der eingeschränkten Sicht der Pappmachée-Köpfe klappt keine Choreografie mehr. Auch die Sprache des Chors verliert auf der großen Bühne an Präzision. Gegen weitere Textkürzungen regt sich Protest aus dem Chor der Ältesten, den der Dramaturg aber eloquent niederzuschlagen weiß. Dennoch: Sobald wir unsere nivellierenden Jacketts tragen und die Vollmasken aufgesetzt haben, ist die Stimmung am Boden. Wenn die Uniform den individuellen Körper tilgt, ist Kommunikation quasi unmöglich. Da ich nie weiß, wer mein Gegenüber ist, stellt sich statt eines stärkenden Gruppengefühls die umfassende Verunsicherung des hinter seiner Rüstung Vereinzelten ein.

© Caroline-Sophie PillingName und Individuum zählen hier nichts. Das Individuum tritt in Brechts Lehrstück hinter das Kollektiv zurück.

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Die Erfahrung, Statist zu sein, lohnt sich, um zu verstehen, wie Theater funktioniert. Wie viele Techniker braucht es, um Bühne, Licht und Ton zu bedienen (viele!), wie sind die Arbeitsbedingungen in der Maske, bei der Ausstattung oder etwa am Licht? Warum wird wer wie besetzt oder eben nicht? Wer hat welchen künstlerischen Anteil und wer streicht am Ende die Lorbeeren ein?

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24.3.2017, 18 Uhr

In einer Bowlinghalle wird ein Bergfest nachgeholt. Auch hier fehlen mal wieder eine Menge der beteiligten Statisten. Mittlerweile ist man froh über jeden freien Abend. Die 440 Premierenkarten sind längst ausverkauft.

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Und wie konzentriert muss der Inspizient sein, um eine Inszenierung von diesem Ausmaß zu führen? „Bitte während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen“ steht auf einem Sticker an seinem Pult rechts hinter der Bühne. Egal, ob Probe, Premiere oder fünfte Vorstellung: Wie einen Nahverkehrsbus lenkt der Inspizient konzentriert und verlässlich die Vorstellung. Die Darsteller werden dabei zu einfachen Fahrgästen – ebenso wie wir Laien und das Publikum. Letztlich bringen die Signale des Inspizienten jeden einzelnen Gast sicher an ihr Ziel. Dieser Einblick kann helfen, fundierter über den Theaterbetrieb zu sprechen und ein umfassenderes, ja womöglich ein pragmatischeres Theaterdenken zu entwickeln. Und wenn die Wartezeiten überhand nehmen, kann man sich stets klarmachen, um wie viel spannender es ist, der Baustein eines fünfmonatigen, künstlerischen Prozesses zu sein als derjenige, der  im Callcenter die immer gleichen Fragen stellt.

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© Michael PeterVorsicht: Die eingeschränkte Sicht unter den Masken erhöht die Rempel- und Sturzgefahr auch auf der Bühne.

28.3.2017, 22.30 Uhr

Es häufen sich Konflikte: Wer soll das tägliche Warmsprechen anleiten? Und auf welche Weise? Wer hat am häufigsten unentschuldigt gefehlt? Darf vor der Probe eine Weißweinschorle getrunken werden? Müssen wir uns morgen schon so früh treffen? Und wie wird wohl die Premierenbesetzung aussehen?

29.3.2017, 11.55 Uhr

Der Sprechchor muss nachsitzen: letzte Änderungen und Feinjustierungen für unsere Bewegung und Artikulation in der Gruppe.

30.3.2017, 20.44 Uhr

Der erste Teil ist geschafft: Bei unserer Schrittfolge in „Die Maßnahme“ bin ich nicht daneben getreten. Die größte Nervosität ist also besiegt. Hinter der Bühne steigt nun die Anspannung, unmittelbar vor dem ersten Sprecheinsatz. Während die Einen sich gegenseitig Text abfragen, schaukeln und summen sich die Anderen gemeinsam das Lampenfieber aus den Körpern. Längst bin ich ruhig wie ein gesperrter Autotunnel, als die Lautsprecher sanft verkünden: „Die Kolleginnen und Kollegen des Sprechchors bitte auf Auftrittsposition.“

31.3.2017, 2.15 Uhr

Premiere gelungen! Keine nennenswerten Fauxpas. Nur die obligatorische Premierenfeier hätte ekstatischer sein können, doch das ließ die verschleppte Erkältung nicht zu. Morgen endlich einen ganzen Tag frei. Und dann kommt schon die verflixte zweite Vorstellung.

© Michael PeterSektempfang auf der Hinterbühne mit rund 80 beteiligten Chorsängern und -sprechern.

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Fr,        28. April        19:30   Große Bühne

Sa,       06. Mai           19:30   Große Bühne

So,       04. Juni          18:00   Ruhrfestspiele Recklinghausen

Mo,     05. Juni           18:00   Ruhrfestspiele Recklinghausen

Mi,      14. Juni           19:30   Große Bühne